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Vier Leben

Vier Leben / Le Quattro Volte

| Ralph Umard |

Altertümliche Bräuche, Tod und Geburt in Kalabrien

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Ein Greis, ein Hund und ein Zicklein in Hauptrollen, dazu zweihundert Ziegen als Statisten – schon die Besetzung deutet an, dass es sich hier um einen außergewöhnlichen Film handelt, der zudem ohne Dialoge auskommt. Es geht um den immerwährenden Zyklus von Leben,Tod und Wiedergeburt in der Natur.

Man kann den zweiten Kinofilm (nach Il Dono, 2003) des Mailänder Künstlers Michelangelo Frammartino als abendländisches Pendant zu Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling des koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk ansehen. Während dessen Darstellungsweise des Kreislaufs von Vergehen und Entstehen buddhistisch geprägt ist, wurde der Italiener, wie er selber sagt, von der Lehre des Pythagoras inspiriert. Der griechische Denker war im 6. Jahrhundert v. Chr. nach Kroton gezogen, gelegen im heutigen Kalabrien, dem Schauplatz von Le quattro volte. Der Philosoph glaubte an Seelenwanderung, betonte die Wesensverwandtschaft von Mensch und Tier und propagierte eine bescheidene, frugale Lebensführung.

Durch Spiritualität und formale Schlichtheit zeichnet sich auch Michelangelo Frammartinos Inszenierung aus: mit langen, festen Einstellungen, vielen Totalen, die dem Zuschauer Zeit zur eingehenden Betrachtung und Reflexion lassen. Zunächst wird der Tagesablauf eines alten Ziegenhirten dokumentiert, der eine karg eingerichtete Kammer bewohnt, wo er im Kreise einiger Tiere stirbt. Ein Zicklein wird geboren, verliert den Anschluss an die Herde und sucht Schutz unter einer mächtigen Tanne, die dann gefällt, zu Holzkohle verarbeitet und letztlich zu Asche wird – ein Kreis hat sich damit unweigerlich geschlossen.

Bewundernswert, wie Frammartino die vier Episoden über den Menschen, das Tier, die Pflanze und die unbelebte Materie mit Bildern von signifikanter Ausdruckskraft zu einem in sich stimmigen und stilistisch homogenen Film formt, der traditionelles kalabresisches Brauchtum überliefert und zum Nachdenken über unsere Existenz anregt. Frammartinos Inszenierung lässt mit ihrem intendiert unpointiert, sachlich-nüchternem Stil aber auch Raum für einen Anflug von subtilem Humor. Etwa, wenn der treue Hirtenhund nach dem Tod seines Herren Eigeninitiative ergreift und der Ziegenherde selbstständig den Weg zur Weide öffnet, indem er ihr Gatter geschickt mit einem Auto aufbricht. Durch diese Szene und eine andere, in der Ziegen Totenwache im Zimmer des Hirten halten, wird die wesenhafte Nähe von Mensch und Tier anschaulich gemacht.