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TV-Special

Subersives Fernsehen

| Benjamin Moldenhauer |

Der schmale Band „Fernsehen wider die Tabus“ von Ivo Ritzer eignet sich zur Annäherung an qualitätsvolle US-Fortsetzungsserien, schlägt aber eine unerwartete Volte.

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Wer unvoreingenommen eine Liste der Hollywood-Großproduktionen seit der Jahrtausendwende und eine Liste der erfolgreichsten amerikanischen TV-Serien aus der selben Zeit nebeneinander hält, könnte den Verdacht schöpfen, die wichtigen Geschichten würden heute nicht im Kino, sondern vom Fernsehen erzählt. Vom Pay-TV-Sender HBO produzierte Serien wie The Sopranos, Six Feet Under, Deadwood und The Wire haben, wie Ivo Ritzer schreibt, „einen neuen Typ seriellen Erzählens“ begründet. Sender wie Showtime oder AMC haben mit Dexter, Mad Men und Breaking Bad nachgelegt und Antihelden auf die kleinen Bildschirme gebracht, die ambivalenter und komplexer gedacht sind als das meiste, was auf den großen Leinwänden zu sehen ist. Ein sympathischer Serienkiller, Upper-Middle-Class-Mafiosi, ein Crystal-Meth-fabrizierender High-School-Lehrer – es wimmelt von Gestalten, die sich zugleich durch Extreme und durch irritierende Alltäglichkeit auszeichnen.

Der in der Reihe „Kultur & Kritik“ erschienene Band „Fernsehen wider die Tabus“ von Ivo Ritzer eignet sich hervorragend für eine erste Annäherung. Auf 135 kleinformatigen Seiten finden sich Verweise auf die Klassiker wie auch auf hierzulande noch nicht geläufige Schätze des neuen Serienfernsehens. Der Fernseher erscheint nicht mehr als ein Medium der Verkleinerung, sondern als eines der neuen Möglichkeiten. In einer Staffel mit etwa dreizehn Stunden Filmzeit lassen sich wesentlich komplexere Erzählnetze spinnen, als in den durchschnittlich 120 Minuten eines Kinofilms. Die Klammer, in der Ritzer nahezu alle besprochenen Serien zusammenfasst, ist die des Tabubruchs. Und tatsächlich fallen einem zumindest im sogenannten Mainstream nur wenige aktuelle Filme ein, in denen es in den kinematografischen Teildisziplinen Sex, Gewalt und Profanität ähnlich wüst zur Sache ginge.

Hier schlägt Ritzers Argumentation eine Volte, dem Titel seines Buches zum Trotz. Der Tabubruch sei zwangsläufig nicht mehr als eine leere Geste, das „Pochen auf Unterwanderung der Macht durch mediale Repräsentation“ erscheine „naiv“ – das Verhältnis von Tabu, Macht und Tabubruch sei wesentlich komplexer und fundamentaler als die Anhänger einer subversiven Kunst wahrhaben wollen. „Fernsehen wider die Tabus“ schließt mit einer Fundamentalkritik, die Idee, die ambivalenten Figuren und drastischen Fernsehbilder seien in irgendeiner Weise subversiv, wird in ihr Gegenteil verkehrt: „Transgressiv an ihnen sind nicht ihre narrativen Strategien, sind nicht ihre offenen Darstellungsweisen von Nacktheit, Sex und Gewalt; transgressiv ist nur die Funktionsweise des Kapitals, das als Grund ihrer Existenz und Horizont ihrer Ökonomie fungiert.“

Das ist sicherlich richtig, es stellt sich nur die Frage, ob das Tabu und der angebliche Tabubruch wirklich das sind, was die Faszination des neuen Serienfernsehens ausmacht. Vielleicht führt schon der den Serien unterstellte Anspruch auf Subversivität aufs falsche Gleis. Es fällt auf, dass gerade Serien wie True Blood oder Spartacus: Blood and Sand, die vor allem auf die möglichst direkte Inszenierung von Sex und Gewalt setzen, sich vergleichsweise schnell erschöpfen. Würde Breaking Bad vor allem vom Tabubruch zehren, das Ganze wäre für ziemlich genau eine Episodenlänge interessant. Das Potenzial scheint noch einmal woanders zu liegen: Was Ritzer unter Tabubruch fasst und kritisiert, ist vielleicht nicht mehr als eine Möglichkeit, Bilder zu finden und Geschichten zu erzählen, die sich wieder an Wirkliches, an die außerfilmische Realität anschließen lassen. Am Interessantesten sind die neuen Serien immer dort, wo sie in einen filmisch sorgfältig konstruierten Realismus münden. Damit sind wir dann doch wieder beim Kino. Viele der neuen Serien lösen ein Versprechen ein, das bislang die Filmgeschichte, dort wo sie nicht einfach eine Geschichte des Spektakels war, begleitet hat: das Versprechen, die Wirklichkeit – die historische, wie auch die Realitäten, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen – zur Anschauung zu bringen und spürbar werden zu lassen.