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Steven Spielberg – Empire of the Sun (1987)

Dossier Steven Spielberg

Abenteuer-Spielplatz

| Andreas Ungerböck |

„Empire of the Sun“ (1987), nach J.G. Ballards großartigem Roman, ist Steven Spielbergs unterschätztester und „unbekanntester“ Film. Eine Ehrenrettung.

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Es dauert eine Weile. J. G. Ballards großteils autobiografischer Roman und Steven Spielbergs filmische Adaption (Verfilmung wäre wirklich das falsche Wort) haben viel gemeinsam. Eines dieser gemeinsamen Charakteristika ist, dass es eine Weile dauert, bis man in Buch und Film „hineinfindet“. Spröde beginnen beide Werke, und geraume Zeit bleibt einem die Welt, die sie schildern, fremd. Schauplatz ist Shanghai im Jahr 1941, kurz vor dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor. Jim (Ballard) ist ein elfjähriger britischer Schuljunge und lebt mit seinen gut betuchten Eltern im geschützten internationalen Viertel der Stadt. Jim ist ein neugieriges, ein unruhiges Kind, stets auf Achse. Er durchwandert und durchradelt die Stadt, auf der Suche nach Abenteuern, nach einem Kitzel, den ihm die behütete Welt, in der er aufwächst, nicht bieten kann. Jim ist fasziniert von Technik, von Flugzeugen, aber in Wahrheit von allem, was Abwechslung in seinen Alltag bringt. Und bald wird er reichlich Abwechslung haben, seine Abenteuerlust wird auf eine Weise gestillt, die er sich wohl zuvor nicht hätte ausmalen können. Als die Japaner am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor bombardieren und die USA am nächsten Tag dem Kaiserreich den Krieg erklären, bricht (nicht nur) in Shanghai die Hölle los.

Auch und vor allem die Ausländer in der Stadt sind davon betroffen. Jim verliert im Zuge der tumultuösen Ereignisse seine Eltern aus den Augen, die von den Japanern in ein Lager abtransportiert werden, er selbst treibt sich eine Zeit lang allein in der Stadt und, nachdem er alle Konserven im eigenen Haus leer gegessen hat, in den protzigen, verlassenen Villen der reichen Europäer herum. Als er die amerikanischen Glücksritter Frank und Basie (im Film: John Malkovich) kennen lernt, ändert sich alles. Die beiden leben auf einem Hausboot im Hafenviertel und schlagen sich mit dubiosen Geschäften durch. Jim wird zunächst ihr Handlanger, es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sie den Japanern in die Hände fallen. Und es beginnen vier harte Jahre in einem japanischen Internierungslager, in dem der Kampf ums Überleben zum Alltag gehört.

Emotionale Höhepunkte

Für die Japaner stellen die internationalen Gefangenen zwar eine Art Faustpfand, aber auch eine enorme Last dar, besonders als die Lebensmittel für Bewacher und Bewachte gleichermaßen knapp zu werden beginnen. Und ab dem Zeitpunkt, an dem Jim im Lager eintrifft, lässt einen die Geschichte nicht mehr los. Hat man das Buch gelesen und den Film gesehen, wird auf den ersten Blick klar, was Steven Spielberg, dem man ja gern unterstellt, ein „ewiges Kind“ zu sein, an dem Stoff gereizt hat. Ursprünglich sollte ja der britische Altmeister David Lean Regie führen (man wünscht sich vergeblich, eine solche Version würde neben der Spielbergs existieren). Spielberg, der als Produzent fungieren sollte, hoffte insgeheim, wie er später in einem Interview verriet, er selbst könne Regie führen. Und so kam es schließlich: Mit Jim Graham, wie er im Film heißt, erblickte eine echte Spielberg-Figur das Licht der Leinwand, ein Alter Ego des Regisseurs, ein naher Verwandter von Indiana Jones.

Denn für Jim ist das Lager eine Art großer Abenteuerspielplatz, überschaubar, aber doch auch gefährlich, voller unglaublicher Gelegenheiten, zu spielen, zu lernen und allmählich erwachsen zu werden. Empire of the Sun hat alles, was das Spielberg’sche Universum ausmacht: ein Kind auf der Suche nach einer Familie, eine Art Ersatzvater-Sohn-Beziehung (zwischen Basie und Jim), die im Film wesentlich weniger ambivalent und wesentlich deutlicher ist als bei Ballard, die unendliche Faszination durch Flugzeuge und die Fliegerei (die wiederum im Buch ungleich ausführlicher dargelegt ist als in der filmischen Adapation), ein gewisser Exotismus, den der Schauplatz Shanghai und die Ereignisse mit sich bringen, die „unwahrscheinliche“ Freundschaft zwischen Jim und einem jungen, fast noch kindlichen japanischen Flieger, der – eine sehr starke Szene – von einem der Amerikaner nach der Befreiung des Lagers aus einem Missverständnis heraus erschossen wird. In der zweiten Hälfte bzw. gegen Ende des Films zu (hier nähert sich das Drehbuch, das der englische Dramatiker Tom Stoppard verfasste, wieder ganz dem Roman an) gelingen Spielberg einige ganz unglaubliche Höhepunkte, die man, es mag ein Klischee sein, „nicht so schnell vergisst“. Bisweilen hart am Rande des Kitsches angesiedelt (auch das ist einem nicht fremd, wenn man Spielbergs Œuvre Revue passieren lässt), aber ungemein eindrucksvoll: die Szene, in der drei japanische Flieger geehrt werden, Jim dazu salutiert und schließlich das walisische Volkslied „Suo gan“ anstimmt; die Szene, in der er glaubt, die Seele der toten Mrs. Victor (seine Nachbarin im Lager, die er immer heimlich begehrt hat; ein erstes sexuelles Erwachen) fahre in den Himmel, während das weiße Licht, das die Szenerie erfasst, in Wahrheit vom Atombombenabwurf auf Nagasaki stammt; die Szene, als Jim, jegliche Gefahr vergessend, auf dem Dach eines Lagergebäudes stehend, die anbrausenden amerikanischen Bomberpiloten begrüßt; die Szene, in der sich die Gefangenen zum Abmarsch aus dem Lager formieren, während die japanischen Bewacher das Weite suchen; die Szene im Olympiastadion, wo die Japaner die Luxusgegenstände aus den verlassenen Villen und die Autos der reichen Europäer gehortet haben: ein weißer Flügel steht, surreal anmutend, auf dem Rasen. Und als einsamer Höhepunkt brennt sich einem die Szene ein, in der der vermeintlich kaltschnäuzige Jim, der in Wahrheit immer das Foto eines ihm gänzlich unbekannten Ehepaares als „Ersatz“ bei sich hatte, nach vier Jahren seine Eltern wiedertrifft. Zunächst ungläubig, streicht er seiner Mutter über die Lippen, nimmt ihr den Hut ab, fährt ihr durch das Haar. Hier erweist sich Spielberg mit sparsamsten Mitteln als der Meister der emotionalen Momente, der er ja nun einmal ist. Beim gleich bis in den Abspann folgenden Jubelchor „Exsultate, justi“ von Ludovico Grossi da Viadana aus dem 16. Jahrhundert schmilzt dann das letzte Herz.

Coming of Age

Man kann über den Film nicht sprechen, ohne auf seinen Hauptdarsteller einzugehen: Es dürfte inzwischen allgemein bekannt sein, dass der heute hoch geschätzte und bewunderte walisische Schauspieler Christian Bale hier als 13-Jähriger seine erste große Filmrolle hatte. Und zu sagen, er spielt, ist eigentlich eine Untertreibung: Bale ist Jim Graham, er trägt den gut 150 Minuten langen Film, in dem er praktisch ohne Unterbrechung im Bild ist, scheinbar mühelos und stellt damit sogar den großen John Malkovich, dessen nonchalante Schlaksigkeit und Umtriebigkeit allerdings nicht ganz zu dem Basie aus Ballards Vorlage passen will, in den Schatten. (In einer kleinen Rolle, dies nur nebenbei, ist auch der 22-jährige Ben Stiller zu sehen.)

J. G. (= James Graham) Ballard, der 1930 in Shanghai geboren wurde und 2009 in England starb, verfasste seinen halb autobiografischen Roman im Jahr 1984: Tatsächlich war er als Kind in einem japanischen Lager interniert gewesen, allerdings zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester. Der Reichtum der Erinnerung und der Darstellung der Ereignisse ist beeindruckend. Vor allem seine Schilderungen aus dem besetzten Shanghai gehen über das bloß Dokumentarische hinaus und vermitteln ein lebhaftes Bild jener Zeit. Es ist eigentlich kaum überraschend, dass ein anderes seiner Werke, der Sci-Fi-Roman „Crash“, der sich – etwas gewöhnungsbedürftig – mit der Erotik von Autounfällen befasste und schon 1973 erschienen war, von einem anderen außergewöhnlichen Regisseur, nämlich David Cronenberg, verfilmt wurde.

Empire of the Sun war jener Film, der nach Spielbergs x-fach Oscar-nominiertem (und leer ausgegangenem) Tränendrüsen-Drama The Color Purple herauskam – ein harter Kontrast, und weder Publikum noch Kritik mochten sich mit dem nicht einfach konsumierbaren Werk besonders anfreunden. Der Film spielte in den USA nur 22 Millionen Dollar ein (bei Produktionskosten von rund 40 Millionen Dollar), und auch die Zuneigung der Rezensenten war enden wollend. Der große Roger Ebert etwa, der sich bei The Color Purple vor Begeisterung überschlagen hatte, urteilte: „The movie falls into the trap of so many war stories, and turns horror into nostalgia. The process is a familiar one. War experiences are brutal, painful and tragic, but sometimes they call up the best in human beings. And after the war is over, the survivors eventually begin to yearn for that time when they surpassed themselves, when during better and worse they lived at their peak.“ Diesen Sätzen liegt, aus heutiger Sicht auf Spielbergs Werk jedenfalls, ein Missverständnis zugrunde: Anders als sein späteres Epos Saving Private Ryan ist Empire of the Sun primär kein Kriegsfilm und auch kein Antikriegsfilm. Es ist eine Coming-of-Age-Story unter besonderen Umständen, eine höchst beeindruckende noch dazu. Spielberg schafft ein Reich der Kindheit, wie nur er es kann, in dem die Realität stets nur eine Variante des Möglichen ist. In der Geschichte des abenteuerlustigen Jim ist alles angelegt, was den Film-Magier Steven Spielberg Zeit seines Lebens und seiner Karriere beschäftigt hat und immer noch beschäftigt. Empire of the Sun ist ein Film, der es verdient, nach all den Jahren wieder gesehen zu werden. Eine mustergültige DVD-Edition steht allerdings noch aus.

 

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