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Nachtschichten

Nachtschichten

| Günter Pscheider |

Ein Streifzug zu den Arbeitern und Außenseitern der Berliner Nacht

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Beim Nachtleben von Berlin denkt man erst einmal an volle Kneipen oder schicke Clubs, die bis in die frühen Morgenstunden geöffnet haben. Ivette Löcker interessiert sich in ihrem ersten Langfilm aber weniger für das hektische Treiben der Nacht, sondern für die Arbeiter und die Randexistenzen, für die die Dunkelheit oft unfreiwillig zur Heimat geworden ist. Die Kamera pirscht sich zuerst ganz langsam an die unterschiedlichen Protagonisten an und folgt ihnen beiläufig bei ihren Tätigkeiten.

Anfangs erzählen die Menschen wenig, erst nach und nach öffnen sie sich den behutsamen Fragen der Regisseurin, fassen Vertrauen, das auch nicht enttäuscht wird. Wenn ein eloquenter Obdachloser, der an die von David Thewlis gespielte Figur in Mike Leighs Naked erinnert, bei Minusgraden einen Schlafplatz in irgendeiner Hauseinfahrt suchen muss und dabei ganz selbstverständlich von seinem Leben erzählt, wird die Kälte körperlich ebenso spürbar wie die Mühsal des täglichen Kampfes um die einfachsten Dinge des Lebens, wie ein Bett, eine Dusche oder die nächste Mahlzeit. In der Gegend, in der die Regisseurin hauptsächlich gedreht hat – ein großer Park, in dem schon einmal Füchse auf Gänsejagd gehen, mit einigen Fabriken und einer angrenzenden Wohngegend – hängt alles mit allem zusammen, auch wenn die Menschen einander hauptsächlich beruflich kennen. Die jungen Mitarbeiterinnen des Kältebusses auf ihren Rettungsmissionen in den verschneiten Parks transportieren diejenigen, die noch immer draußen sind, weil sie sich keine andere Form des Daseins mehr vorstellen können, in ein oft lebensrettendes Notbett.

Andere Nachtarbeiter suchen Trost in der Zeit, wenn die meisten Menschen schlafen. In einer sehr schönen Sequenz erklärt die einzige Frau unter dem Wachpersonal einer großen Firma, dass sie die Nacht liebt und ihren einsamen Job macht, um sich vor der Welt zu verstecken, weil sie nicht aussieht wie ein dürres Model und der Schönheitswahn der Gesellschaft sie zutiefst verunsichert. Allen gemeinsam ist, dass sie anscheind die Nacht brauchen, um überhaupt existieren zu können, wie eine japanische DJane, die Graffiti-Artisten, die vor Polizeihubschraubern davonlaufen oder der traurig weise Schlaflose, der stundenlang ziellos durch die Straßen wandert.

Man braucht etwas Geduld, um sich an den langsamen Rhythmus der Nacht und des Films zu gewöhnen, wird aber belohnt mit einem atmosphärisch dichten Porträt einer fast menschenleeren Stadt und ihrer Bewohner, die Geborgenheit und Trost suchen und doch hauptsächlich Isolation und Einsamkeit finden.