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B. Traven – Im Dschungel der Psychopathie

Im Dschungel der Psychopathie

| Jörg Becker |

Eine wiederentdeckte Filmstory von B. Traven, einem der großen „Mystery Men“ der Literatur des vergangenen Jahrhunderts, handelt vom Fall einer Persönlichkeitsstörung. Eine Studie untersucht sie, auch aus ärztlichem Blickwinkel.

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Im zwölften Kapitel seiner Autobiografie „John Huston – An Open Book“ (1980; deutsche Ausgabe: „… mehr als nur ein Leben“; 2007) berichtet der Regisseur über die Entstehungsgeschichte seines Films The Treasure of the Sierra Madre (USA 1947) nach B. Travens Roman „Der Schatz der Sierra Madre“ (1927), insbesondere über „die mystische Person“ des Autors, die sich damals bereits zwanzig Jahre lang versteckt hielt. Warner Bros. hatte nach Vermittlung des Filmagenten Paul Kohner, der sich bereits 1932, ohne Erfolg, um die Verfilmungsrechte an Travens „Totenschiff“ (1926) bemüht hatte, im Jahr 1941 die Rechte an der Story gesichert. Dann geschah der Überfall auf Pearl Harbor, und während Hustons anschließender Militärzeit wurde der Film für diesen „auf Eis“ gelegt. Erst 1946 korrespondierte der Regisseur mit Traven über das Filmprojekt, während er das Drehbuch zu Treasure als lineare Adaption des Traven-Romans verfasste. Huston suchte sich ein Bild von dem rätselhaften, als unnahbar geltenden Mann zu machen, der an der Peripherie der Zivilisation, in der Wildnis von Mexiko, untergetaucht war. Er erhielt eine unverbindliche Zusage des Autors, sich in einem Hotel in Mexico City zu treffen, wartete jedoch zunächst vergeblich. Die seltsame Begegnung, die folgen sollte, liest sich wie eine Filmszene: „Eines Morgens, fast eine ganze Woche nach meiner Ankunft, wachte ich kurz vor Tagesanbruch auf und sah einen Mann am Fußende meines Bettes. Er zog eine Visitenkarte hervor, die besagte: ‚Hal Croves. Übersetzer, Acapulco und San Antonio‘. Dann zog er einen Brief von B. Traven hervor, den ich noch im Bett las. Daraus ging hervor, dass Traven krank sei und nicht kommen könne, aber dass Hal Croves sein großer Freund sei und genauso viel über Travens Arbeit wisse wie er selbst, und dass er autorisiert sei, Fragen zu beantworten, die ich stellen würde (…) Croves hatte einen leichten Akzent. In meinen Ohren klang er nicht deutsch, aber mit Sicherheit europäisch. Ich dachte, dass er durchaus Traven selbst sein könnte, aber aus Vorsicht fragte ich ihn nicht. Auf der anderen Seite entsprach Croves ganz und gar nicht dem Bild, das ich mir aufgrund der Lektüre seines Drehbuchs (B. Travens „The Bridge in the Jungle“ / „Die Brücke im Dschungel“, 1926) und seiner Briefe gemacht hatte. Croves war sehr wortkarg und bedachtsam in der Wahl seiner Worte. (…) Insgesamt sah er wie jemand aus, der auf dem Land geboren und großgeworden ist und mit den Gepflogenheiten der Stadt unvertraut war.“ Huston nahm Croves als technischen Berater für 100 Dollar die Woche unter Vertrag und fragte ihn nie nach seiner Identität. Bis zuletzt hegte er Zweifel daran, dass der autorisierte Unterhändler mit B. Traven identisch sein und somit der Schriftsteller in Verkleidung inkognito an der Verfilmung seines Romans teilgenommen haben könne, vermutete indes eher, dass Traven zwei oder mehr Personen waren, die kooperierten. So fügte er den Mysterien um Traven, der mit der Außenwelt nur über Postfach kommunizierte und den keiner seiner vielen Verleger je persönlich kennen gelernt hat, ein weiteres hinzu.

Die Hypothesen über Identität und Abstammung B. Travens (1882–1969) sind zahlreich und lösen heute noch Kontroversen unter recherchierenden Literaturwissenschaftlern aus, denen die undurchsichtige Vita seit jeher Projektionsfläche für Legenden geboten hat. Immer wieder scheint der Autor wie aus einer Lebensspur herausgesprungen zu sein und weitab davon eine neue begonnen zu haben. Die abseitigste Hypothese stammt von dem ehemaligen „Stern“-Reporter Gerd Heidemann (später wegen der gefälschten Hitler-Tagebücher kompromittiert), der Traven 1967 als illegitimen Hohenzollern-Prinzen zu identifizieren glaubte; die früheste, heute weitgehend akzeptierte These geht auf Erich Mühsam zurück, der die Schriften des Mitglieds der Münchner Räterepublik, Ret Marut, und die von B. Traven verglich und folgerte, sie seien von ein und derselben Person. Zuletzt sorgte 2009 Jan-Christoph Hauschilds Recherche für Klärung: Traven habe keinen Kaspar-Hauser-Hintergrund, sondern sei als Otto Feige unter ärmsten Verhältnissen im östlichsten Brandenburg aufgewachsen. Nach Schlosserlehre und Militärdienst sei er im Ruhrgebiet gewerkschaftlich organisiert gewesen. 1907 habe er sich polizeilich abgemeldet, einen neuen Namen, Ret Marut, angenommen, als Schauspieler debütiert und 1917 unter Pseudonym eine Kriegsnovelle geschrieben. 1919 als Rädelsführer der Münchner Räterepublik zum Tode verurteilt, sei ihm die Flucht in den Untergrund gelungen; erst 1923 findet sich seine Spur wieder, in Abschiebehaft in London, wo er sich erfolglos um eine US-Citizenship bemüht habe. Als Kohlentrimmer habe er auf einem norwegischen Schiff angeheuert, sei 1924 in Mexiko eingetroffen, wo er sich als gebürtiger US-Amerikaner Traven Torsvan ausgegeben habe. („The Bavarian of Munich is dead“, heißt es in einem seiner Notizbücher aus demselben Jahr.)

Dass Traven es – so die These stimmt – vorzog, unter dem Pseudonym seines Agenten und Übersetzers aufzutreten, lässt darauf schließen, dass er sich als Autorenfigur unsichtbar machen wollte. Sein Lebenslauf war ihm privat; ein Autor sollte einzig durch sein Werk sprechen, und das lieh allen anderen, ihrem Lebens- und Leidenskampf, seine Stimme.

Traven schrieb aus der Perspektive eines proletarischen Internationalismus auf der Seite der ausgebeuteten und unterdrückten Massen seine Abenteuerromane nach Western- und Seemannsmotiven, ganz im Sinne vitalen Aufbegehrens der Entrechteten gegen das Diktat des Kapitals, ohne jede parteipolitische Belehrung. Travens Fragen, „wodurch … die Mühen und Leiden der Menschheit am wirkungsvollsten verringert“ werden, sind nach wie vor ungelöst, auch die Erpressung staatenloser Billigarbeiter („Totenschiff“) und die Ausbeutung der eingeborenen Bevölkerung („Caoba“-Zyklus in sechs Romanen zur Mexikanischen Revolution) ehemaliger Kolonialstaaten hat sich bis heute fortgesetzt. Neben ethnografischen Reiseberichten und Erzählbänden ließ Traven zwischen 1926 und 1960 von Mexiko aus zwölf sozialkritische Romane erscheinen, geschätzte Gesamtauflage: 30 Millionen Exemplare.

Ausgangspunkt des vorliegenden kleinen Bandes war eine Entdeckung, die Wolfgang Jacobsen im Archiv der Deutschen Kinemathek Berlin innerhalb der Nachlass-Sammlung des deutsch-amerikanischen Filmagenten Paul Kohner machte: Eine „Synopsis of the film-novel „Mercedes Ortega Lozano“ von B. Traven aus dem Jahr 1948 schildert den Fall einer seltsamen Persönlichkeitsveränderung, der sich tatsächlich so ereignet haben soll. Es geht um eine 22-jährige mexikanische, in Texas lebende Hotelangestellte, die von ihrem Bräutigam am Hochzeitstermin versetzt wird; sie erfährt, dass er mit einer anderen Frau verschwunden sei. Wie betäubt und außer sich, fällt sie bald in einen tiefen Schlaf. Nach dem Erwachen lässt sie sich im Hochzeitskleid fotografieren, ein Bild des treulosen Mannes einmontieren und schafft so die Fiktion einer Ehe; nach einem Jahr bekommt sie ein Kind. Der angebliche Gatte kommt bei einem Autounfall ums Leben, und so konzentriert sich die Frau auf die Erziehung des Sohnes, den keine der Freundinnen je zu Gesicht bekommt. Jahre später, am mexikanischen Unabhängigkeitstag, erkrankt sie schwer und die Ärzte können nur, ohne erkennbare Ursache, das baldige Ableben der Patientin ankündigen. Allein der Sohn, der aber unauffindbar bleibt, könnte ihre Leiden lindern, und in der Not bringt man einen fremden Jungen ans Bett der Sterbenden, die daraufhin in Frieden stirbt. Als auch nach ihrem Tod der Sohn unauffindbar bleibt, ordnet man eine genaue Obduktion der Toten an, die ergibt: Mercedes ist als Jungfrau gestorben.

Travens an den Agenten Kohner geschickte Synopsis gibt im Untertitel – „The history of a frustrated biological instinct“ – einen Hinweis zur Entstehung der Persönlichkeitsspaltung, der Film solle aber, so Traven, deren Deutung dem Betrachter überlassen. Die Titelfigur Mercedes Lozano sei eine exemplarische Gestalt der Nachkriegszeit, in der viele insgeheim täten, was Mercedes offen ausagiere: Flüchten in die Illusion einer zufriedenen Existenz. Der rudimentäre Plot wurde schließlich 1963 in Mexiko doch noch zu einem Film, Días de otoño (übersetzbar als „Tage im Herbst“), unter der Regie von Roberto Galvadón, welcher auch Travens Novellen „Macario“ (1960) und den Roman „La Rosa Blanca“ (1961) verfilmte (die Kamera führte Gabriel Figueroa, der unter anderen mit Luis Buñuel und John Ford gearbeitet hatte).

Der Autor der Studie „Ein träumender Leichnam“, Johannes Zeilinger, in Berlin als niedergelassener Arzt tätig (er promovierte über die Psychopathologie Karl Mays), widmet sich im Hauptteil seines Textes der Analyse der psychischen Störung von Travens Figur, wobei er weitgehend auf die Klinisch-diagnostischen Leitlinien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 rekurriert. Er weist auf die zeitgenössische Fehleinschätzung des Gutachters für die Kohner-Agentur, des Filmregisseurs Werner Klingler, hin, welcher Schizophrenie mit Persönlichkeitsspaltung verwechselte. Zeilinger diagnostiziert für den Fall der Filmprotagonistin eine kurzzeitige dissoziative Amnesie, in deren Folge, als die Erinnerung allmählich wiederkehrte, Mercedes zwei Leben, in der realen und in der fiktiven Wirklichkeit, lebte. Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTS), überdies erst seit 1980 klassifiziert, könne man ausschließen, aber ein Flashback, durch einen Schlüsselreiz ausgelöst, durch den die Titelfigur von traumatischer Erinnerung unheilbar überwältigt wird, sei durchaus plausibel, zumal sich dadurch das Psychodrama für eine Filmversion bildstark inszenieren ließe. „Der Kasus Mercedes Lozano ist eine psychopathologisch nicht repräsentative Figurenkonstruktion“, resümiert  Zeilinger, „ihre Erkrankung ist eine Schöpfung Travens.“ – „Die Heldin lebt ganz bewusst eine Doppelidentität, die für sie zweite Realität wird, und kompensiert ihre psychische Belastung durch ein Phantasiegebilde, das sie vor einer noch schlimmeren Störung – etwa einer schweren depressiven Erkrankung – bewahrt. (…) Zudem ist ihre Geschichte auch ein Spiel mit Identitäten, die zweite, imaginierte Identität erweist sich als stärker als die reale Existenz und bestimmt daher fortan das Leben der Mercedes Lozano. Ihr Schicksal ist damit auch eine – freilich kleingedruckte oder gar versteckte – Metapher auf das Leben des Autors, der selbst ein Meister im Wechsel von Identitäten war: Otto Feige, Ret Marut, Traven Torsvan, Hal Croves, B. Traven. Das Phantom Traven hatte also ein ganz persönliches Interesse an der Story, und dies mag dann auch den immensen und letztlich frustranen Arbeitsaufwand erklären, den er mit der Ausarbeitung des fertigen Filmmanuskripts auf sich nahm. Gewidmet war es einer unerreichbaren Geliebten, Lupita Tovar [Anm.: Ehefrau des Filmagenten Kohner], die in ihrer ‚Rolle‘ als Mercedes Lozano damit auch Aspekte aus Travens eigenem Leben darstellen sollte.“