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Alexander Payne

The Descendants

Kein falscher Fünfziger

| Pamela Jahn |

Sieben Jahre nach dem Erfolg mit Sideways legt Alexander Payne seinen lang erwarteten neuen Film The Descendants vor – Zeit für ein ausführliches Gespräch über alte und neue Casting-Entscheidungen, seine Schwierigkeiten mit der Ideenfindung und warum Filmemachen mit fünfzig viel einfacher von der Hand geht.

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Die nach einem Bootsunfall im Koma liegende Elizabeth King, gespielt von Patricia Hastie, ist nicht nur der Auslöser der Geschichte, sondern ihr Krankenbett wird auch zu einem zentralen Ort in Ihrem neuen Film. Wie castet man eine bewusstlose Frau?
Alexander Payne: Gute Frage. In unserem Fall war, glaube ich, viel Glück dabei. Zunächst einmal wollte ich unbedingt auf Hawaii casten. Ich hatte mir zwar ein, zwei Ersatzschauspielerinnen auf dem Festland überlegt, aber mein Problem bestand zunächst einmal darin, eine Frau zu finden, die rein optisch eine gute Balance zwischen George Clooney und Shailene Woodley herstellen würde. Dann sind wir auf Patricia gestoßen. Sie wollte die Rolle unbedingt haben, und ich muss sagen, so wie sie sich von Anfang an ins Zeug gelegt hat, das war schon beeindruckend. Im Krankenhaus hatte man ihr Zugang zur Intensivstation gewährt, dort hat sie wochenlang Komapatienten studiert, sich mit Neurologen getroffen. Dann hat sie im Laufe der Dreharbeiten über zehn Kilo abgenommen. Wir mussten ja einen Verlauf ihres Krankheitsprozesses zeigen, Make-up allein reicht da nicht. Also ist sie zu alldem jede Nacht wach geblieben. Wenn sie dann morgens ans Set kam, hat sie sich zurechtmachen lassen, legte sie sich ins Bett, wurde an die Maschinen angeschlossen, nahm eine Schlaftablette, stopfte sich Ohrstöpsel in die Ohren und sagte: „Weckt mich bloß nicht auf! Auch nicht zum Mittagessen.“ Und so haben wir fast den kompletten Dreh mit ihr durchgezogen.

War das Ihre Idee?
Alexander Payne: Nein, das hat sie sich selbst überlegt. Aber es hat wunderbar funktioniert. Mir kam es vor allem darauf an, dass sie keine REM-Bewegung zeigt, ganz besonders in den Szenen, in denen George Clooney mit ihr redet, sie küsst oder anschreit. Ich wollte, dass alles bis ins kleinste Detail total echt wirkt. Es gibt genug Leute, die, wenn sie einen Film anschauen, nur darauf warten, dass einem ein derartiger Patzer unterläuft. Das musste also alles ganz genau passen.

Grenzt das nicht schon fast an Unmenschlichkeit, wenn man als Frau nicht den Funken einer Reaktion zeigt, wenn George Clooney einem sein Herz ausschüttet?
Alexander Payne: Ich weiß, aber Patricia war wirklich unglaublich. Es gab keine einzige Szene, die ich nochmal drehen oder rausschneiden musste, weil sie es vermasselt hat. Und das, obwohl sie am Anfang lediglich als „featured“ Extra engagiert war, weil sie keine Sprechrolle hatte, und dementsprechend weit unten auf der Gehaltsliste stand. Das haben wir dann aber schnell geändert, und ich habe ihr am Ende auch einen Schauspielerinnen-Credit im Film gegeben, denn wie schon die alten Lateiner sagten: „Cum tacent clamant.“ Indem sie nichts sagt, schreit sie laut.

Angeblich haben Sie George Clooney damals schwer getroffen, als Sie sich beim Casting für Sideways letztlich gegen ihn entschieden und den Part stattdessen an den bis dahin noch relativ unbekannten Thomas Haden Church vergeben haben. Wollten Sie das jetzt wieder gut machen? Wann stand denn für Sie fest, dass er diesmal die Hauptrolle übernehmen würde?
Alexander Payne: George war immer sehr wohlwollend mir gegenüber. Seit Sideways wusste ich, dass er gerne einmal mit mir arbeiten wollte, und als ich anfing, das Drehbuch zu The Descendants zu schreiben, dachte ich, er wäre eigentlich genau der Richtige für diese Rolle. Mein Gefühl wurde bestätigt, als ich Kaui Hart Hemmings, die Autorin des Romans, traf, und sie fragte, wen sie am liebsten in der Rolle sehen würde, wenn sie die freie Wahl hätte. Ohne lange zu überlegen, sagte sie: „Ich fand George Clooney eigentlich immer ziemlich klasse.“ Und damit war die Entscheidung getroffen. Ich habe dann gleich bei George angerufen, im November 2009 hat er das Drehbuch gelesen und im März 2010 haben wir bereits gedreht.
Matt King, Clooneys Charakter im Film, ist ein Mann mittleren Alters, der plötzlich den Boden unter den Füßen verliert, und dadurch gezwungen ist, Verantwortung zu übernehmen und erwachsen zu werden. Es geht um Selbstfindung und Seitensprünge – beides Themen, die Sie bereits in Sideways beschäftigten. Haben Sie diese Parallelen bewusst gelegt?
Nein, im Grunde wiederhole ich mich schamlos. Ich muss mir beim nächsten Mal unbedingt etwas Neues einfallen lassen. (Lacht.)

Inwieweit hat sich Ihre Arbeitsweise als Regisseur seit Citizen Ruth verändert oder weiterentwickelt?
Alexander Payne: Ich bin etwas selbstsicherer geworden, denke ich … (Pause) Lassen Sie mich einen Moment darüber nachdenken. Man müsste meinen, ich hätte darauf sofort eine Antwort parat, aber dem ist nicht so.

Sie wirken in der Öffentlichkeit eigentlich immer sehr selbstsicher.
Alexander Payne: Wenn es ums Filmemachen geht, schon. Ich liebe meine Arbeit und ich weiß, ich kann mich sehr glücklich schätzen, diesen Beruf tatsächlich jeden Tag ausüben zu können. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube, ich habe heute ein besseres Technikgefühl als früher, auch wenn ich das in meinen Filmen nicht unbedingt raushängen lasse. The Descendants zum Beispiel, das ist ja ganz klassisches Filmemachen. Ich mag es, dass der Film sehr kontrolliert wirkt, dass es fast keine einzige überflüssige Einstellung gibt. Jeder Schnitt ist ganz bewusst gewählt. Aber es würde mir schon Spaß machen, auch mal einen Film zu drehen, der einen flüssigeren visuellen Stil hat, ohne dabei gleich protzig zu wirken. Eine Spur davon lässt sich in Election erkennen, denke ich, aber andererseits ist Election der Film eines jungen Regisseurs, der völlig berauscht war von Scorseses Casino. Ich bin auch heute noch berauscht von Casino, aber ich bin heute eben auch fünfzig. Wissen Sie, es gibt bei uns ja diese Redewendung: Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen. Und ich denke, ich bin jetzt an einem Punkt in meinem Leben, wo ich die Regeln beherrsche. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Der Film beginnt mit George Clooneys Voice-over, das im Laufe der Handlung verschwindet. Im Grunde ist es fast schon zu viel Voice-over am Anfang, wenn Sie mich fragen, aber eine umfangreiche Einleitung ließ sich nicht vermeiden. Also habe ich versucht, das Ganze einfach so elegant und schmerzfrei wie möglich rüberzubringen. Eine grundsätzliche Script-Regel besagt allerdings: Wenn man zu Beginn eines Films Voice-over verwendet, muss man es auch durchweg verwenden, oder zumindest den Film wieder damit beenden. Und ich sage: „Ich bin jetzt fünfzig, das ist mir egal. Ich verwende jedes filmische Stilmittel, wann und wie es mir gefällt.“ Ein anderes Beispiel: Es gibt nur eine einzige Wischblende im Film. Wieder musste ich mir anhören: „Du kannst nicht nur eine Wischblende verwenden, du brauchst mindestens zwei.“ Und ich sage: „Ist mir egal, ich bin jetzt fünfzig, ich darf das.“

Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Filme?
Alexander Payne: Ich habe erst fünf Spielfilme gedreht, also ganz offensichtlich habe ich nicht viele Ideen, und meistens stammen sie von Büchern. Von meinen fünf Filmen ist The Descendants bereits die dritte relativ vorlagengetreue Romanadaption. Ich muss zugeben, für mich ist das der schwerste Teil des Filmemachens, die richtige Idee zu haben, so dass ich denke: „Oh, das könnte ein Film werden.“ Und damit meine ich, ein Film, an dem ich zwei Jahre arbeiten möchte, um dann weitere zwei Monate darüber zu reden. Die Idee muss also ziemlich gut sein und die Kraft haben, mich zu fesseln. Ich fände es schrecklich, meine Zeit mit einem Projekt zu verschwenden, das mich irgendwann nur noch langweilt.

Das heißt, all die Jahre seit Sideways waren Sie auf der Suche nach einer neuen Idee?
Alexander Payne: Nicht ganz, ich habe zwischenzeitlich an zwei anderen Projekten gearbeitet. Ich habe einen Kurzfilm in Paris und einen Piloten für eine Fernsehserie gedreht, aber die meiste Zeit habe ich mit Drehbuchschreiben verbracht. Mein Co-Autor Jim Taylor und ich, wir haben ein Drehbuch geschrieben, das es noch umzusetzen gilt. Dafür braucht es allerdings ein ziemlich großes Budget, und 2009 war nicht der richtige Zeitpunkt, um das Projekt auf die Beine zu stellen, also habe ich mich für The Descendants entschieden.

Es war wunderbar, Beau Bridges wieder einmal auf der Leinwand zu sehen.
Alexander Payne: Ja, mir ging’s ganz ähnlich. Ich dachte schon beim Schreiben, dass er die perfekte Besetzung für diese Rolle wäre. Ich bin ein großer Beau-Bridges-Fan, seit ich ihn zum ersten Mal in Hal Ashbys The Landlord gesehen habe. Er ist großartig in dem Film. Außerdem ist er auch „fast“ Hawaiianer. Er ist dort auf’s College gegangen und verbringt heute zirka die Hälfte des Jahres auf der Insel. Es gibt eine Szene im Film, da unterhalten sich George Clooneys Charakter und Beau Bridges’ Figur in einer Bar, und diese Bar, das ist Beaus Stammkneipe. Der Besitzer sitzt in der Szene neben ihm. Aber wenn es mit Beau nicht geklappt hätte, Jeff Bridges wäre für die Rolle auch gut gewesen. Beide haben so etwas leicht Gefräßiges an sich.

Gibt es bestimmte Regisseure, mit denen Sie sich verbunden fühlen?
Alexander Payne: Nicht wirklich. Das soll nicht heißen, dass es keine Regisseure gibt, die ich sehr respektiere, die gibt es durchaus. Übrigens, wenn sie mich fragen würden, welcher Film mich im letzten Jahr am meisten beeindruckt hat, dann lautet die Antwort eindeutig: A Separation (der vorjährige Berlinale-Sieger Nader und Simin – eine Trennung, Anm.). Was für ein Film! Viele Leute halten meine Filme ja für lebensnah und eindringlich, aber dann schaue ich mir einen Film wie A Separation an, und denke: „Oh Gott! Was ich hier mache, ist im Vergleich dazu reiner Mumpitz.“

Woran arbeiten Sie denn gerade?
Alexander Payne: Eine Sozialkomödie über einen Haufen Durchschnitts-Mittelklasse-Amerikaner, die plötzlich alle den Boden unter den Füßen verlieren. (Lacht.) Nein, ganz im Ernst, es handelt sich um einen Vater-Sohn-Road-Trip von Billings, Montana, nach Lincoln, Nebraska. Die beiden bleiben allerdings in einem kleinen Nest im tiefsten Nebraska stecken, wo der Vater aufgewachsen ist. Es ist der erste Film, bei dem ich Regie führe, aber nicht das Drehbuch geschrieben habe. Das heißt, die Idee dazu stammt nicht von mir, ich schreibe es lediglich etwas um.

Stimmt es, dass Sie dafür Gene Hackman aus dem Ruhestand holen?
Alexander Payne: Nein. Glauben Sie nichts, was Sie im Internet lesen. Er ist in der Auswahl, aber es ist längst nichts entschieden. Ich werde jetzt die Arbeit an dem Film wieder aufnehmen und dann auch über die Besetzung noch einmal genau nachdenken.

Jetzt, da Sie fünfzig sind, werden Sie versuchen, mehr Filme in kürzerer Zeit zu drehen?
Alexander Payne: Unbedingt! Jetzt oder nie. So wie ein Affe von Baum zu Baum will ich von Film zu Film schwingen. Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht ich? Stimmt’s?