ray Filmmagazin » Filmkritiken » Der letzte Jude von Drohobytsch
Der letzte Jude von Drohobytsch

Der letzte Jude von Drohobytsch

| Oliver Stangl |

Porträt eines Überlebenden der NS-Gräuel

Werbung

Alfred Schreyer wurde 1922 in Drohobytsch geboren, einer Stadt, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen lag und heute zur Ukraine gehört. Er wirkt in sich ruhend, höflich und freundlich – dass er in seiner Jugend durch die Hölle ging, sieht man ihm auf den ersten Blick nicht an. Denn Schreyer ist der letzte lebende Vorkriegsjude der rund 80.000 Einwohner umfassenden Stadt. Die anderen Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Drohobytsch wurden von den Nazis ermordet oder emigrierten. Paul Rosdy traf im Zuge von Recherchen für ein anderes Projekt zufällig auf Schreyer, war von dessen Lebensgeschichte beeindruckt und entschloss sich, ein Porträt zu gestalten. Der Regisseur ging dabei ein Risiko ein, denn gedreht wurde innerhalb einer Woche im September 2010, noch ohne gesicherte Finanzierung. Rosdy und Kameramann Peter Roehsler begleiteten Schreyer an die Schauplätze seiner Jugend; Vergangenheit und Gegenwart werden im Film durch die Gegenüberstellung historischer Fotografien der Stadt und aktueller Aufnahmen kontrastiert. Schreyer erzählt, wie er 1941 vom Einmarsch der deutschen Wehrmacht aus seinem Leben als Musiker gerissen und in ein Zwangsarbeitslager interniert wurde. Er überlebte, weil er aufgrund von Jugend und Körperkraft als Arbeitskraft eingesetzt werden konnte; seine Eltern und alle Verwandten wurden von den Nazis entweder erschossen oder vergast. Nach dem Krieg – und der Befreiung seines Lagers durch die Sowjets – hätte er die Option gehabt, nach Buenos Aires zu gehen, doch angesichts der Berliner Rotkreuz-Baracken, in denen er drei Monate hätte zubringen müssen, traf er eine folgenschwere Entscheidung und kehrte nach Drohobytsch zurück, wo er niemanden mehr hatte. Schreyer wurde Sänger und Violinist in einem sogenannten „Kinofoyer-Orchester“ – eine Formation, die in Foyers von Lichtspielhäusern musizierte und viele Menschen anlockte – und heiratete.
Nach diesem Intermezzo über eine glücklichere Lebensphase kehrt der Film wieder zu düsteren Zeiten zurück, das Ende gehört einem Mahnmal der Nazi-Barbarei: Schreyer führt durch den Wald von Bronitza, in dem Massenexekutionen von Juden aus Drohobytsch und Umgebung stattfanden.
Schreyer ist zweifellos ein bemerkenswerter Mann und man muss Rosdy anrechnen, dass er das Thema seriös und nüchtern angeht, doch leider ist der Film um gut eine halbe Stunde zu lang geraten (Schreyers Lebensgeschichte ist schnell dargelegt und die Untaten der Nazis werden, obwohl oft von ihnen die Rede ist, kaum greifbar gemacht). In komprimierter Form könnte Der letzte Jude von Drohobytsch sein Publikum eher im Fernsehen finden als auf der Kinoleinwand.