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Steve McQueen

Shame

Extreme Charaktere

| Peter Keough |

Regisseur Steve McQueen befasst sich mit Themen, die viele andere Filmemacher scheuen. Im Gespräch erzählt er, was ihn dazu bewog, einen Film zum Thema Sexsucht zu drehen.

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Mit Hunger gelang dem britischen Videokünstler Steve McQueen, der für seine Installationen den renommierten Turner Prize erhielt, ein aufsehenerregendes Spiefilmdebüt. Seine schonungslose Sicht auf die letzten Wochen des IRA-Mitglieds Bobby Sands, der im Versuch, als politischer Gefangener anerkannt zu werden, seinen Hungerstreik im britischen Maze-Gefängnis mit aller Konsequenz bis in den Tod durchführte, wurde bei den Filmfestspielen in Cannes 2008 mit der Caméra d’Or ausgezeichnet. In Shame setzt sich McQueen nun erneut mit einem kontroversiellen Thema auseinander. Steve McQueen über die Verleugnung von Sexsucht, die Probleme mit der Altersfreigabe von Shame und die erotischen Momente in seinem neuen Film.

Wie für Hunger haben Sie auch für Shame viel Recherche betrieben; Sie meinten aber, dass sie diese nicht in Großbritannien machen konnten, weil niemand über Sex reden wollte. Warum ist das so?
Steve McQueen:
Zu dieser Zeit war das Thema Sexsucht sehr präsent in den Nachrichten, und die britische Presse hat so einen Ruf, dass ich glaube, dass die Leute einfach zumachen. Daher wollte ich mit Experten reden. Abi Morgan [die Ko-Drehbuchautorin, Anm.] und ich sind nach New York geflogen, um mit Ärzten, die in diesem Bereich arbeiten, zu reden; das war wirklich beeindruckend. Sie haben uns Sexsüchtigen vorgestellt, und wir haben mit diesen Menschen geredet. Sehr, sehr intensiv.

Was haben Sie dabei gelernt?
Steve McQueen: Es war eine richige Offenbarung. Als ich das erste mal von Sexsucht hörte, lachte ich. So wie es die meisten Menschen machen: Sie können es nicht glauben. Wenn man aber lernt, was das eigentlich mit sich bringt, versteht man, dass es einfach tragisch ist. Es ist eine tragische Situation, und du erreichst die tiefsten Tiefen des Menschseins, so wie bei Drogenabhängigkeit oder Alkoholsucht.

Ist es wirklich eine physische Abhängigkeit?
Steve McQueen: Nicht physisch – was meinen Sie?

Mit Entzugserscheinungen? Eine biochemische Verbindung?
Steve McQueen: Man kann süchtig nach Essen sein. Man hat Fettsucht. Ich denke, hier hat man Entzugserscheinungen. Essen ist eine Sucht. Sex ist eine Sucht. Alkohol und Drogen sind Dinge, die man aufgeben kann. Sex – mit dem muss man sich auseinandersetzen, so wie mit Essen. Die Leute nehmen die Sucht nicht ernst, das ist das Problem daran. Deshalb werden diese Leute ein wenig ausgeschlossen. Es ist wie mit HIV und AIDS. Die Leute wollen darüber nicht reden.

Wie weit verbreitet ist diese Sucht?
Steve McQueen: Man sagt, dass 24 Millionen Leute in den USA sexsüchtig sind. Aber natürlich gibt es Leute, die nicht glauben, dass sie darunter leiden. Sie denken, sie sind einfach nur promiskuitiv. Promiskuität ist eine Sache, aber unter Sexsucht zu leiden, ist etwas anderes. Im Sinne, dass Leute sich 20 Mal am Tag erleichtern müssen, oder 72 Stunden im Internet sein müssen. Den Leuten mag das suspekt sein, aber es ist eine richtige Krankheit.

Weiß man, was der Grund ist? Gibt es Heilung?
Steve McQueen: Es ist wie mit den Anonymen Alkoholikern. Sie unternehmen gewisse Schritte. Es gibt viele unterschiedliche Gründe, wie beim Alkoholismus. Warum trinken Menschen? Wir wissen es nicht. Oft hat es mit ihrer Vergangenheit zu tun, oder es könnte angeboren sein, oder was auch immer. Viele Leute haben Sexsucht, weil sie es nicht verstehen. Sie denken, sie haben einfach nur Spaß. Eine Sucht ist, wenn etwas die Kontrolle über dein Leben nimmt. Das ist es. Und dann kann es dich ruinieren.

Im Film schaut es nicht nach Spaß aus.
Steve McQueen: Letzten Endes nicht.

In Ihrem letzten Film haben Sie jemanden, der seinen Appetit verleugnet, und jetzt haben Sie jemanden, der davon kontrolliert wird. War das beabsichtigt?
Steve McQueen: Nein, aber es ist interessant. Man hat diese Situation mit dem Typen, der sich in einem Hochsicherheitsgefängnis in Nordirland befindet. Um frei zu sein, hört er auf, zu essen. Hier, auf der anderen Seite des Teichs, 30 Jahre später, ist dieser Typ, der in diesem Mekka von Erfolg und Exzess lebt, New York City. Er ist ein attraktiver Mann, er hat einen guten Job und ein gutes Einkommen. Er hat alle Privilegien, die man sich vorstellen kann. Aber er baut sich selbst ein Gefängnis durch seine sexuellen Aktivitäten. Also sind diese Charaktere gewissermaßen Gegenpole.

Beim einen ist der Körper ein Gefängnis, beim anderen ist er ein Weg, aus dem Gefängnis zu entkommen
.
Steve McQueen: Genau.

Hatten Sie einen bestimmtem Grund für die Sucht des von Michael Fassbender gespielten Charakters Brandon im Kopf?
Steve McQueen: Ich wollte für sein Problem keine spezifische Ursache annehmen. Natürlich wird bezüglich seines Backgrounds darauf angespielt. Aber ich wollte nicht, dass Brandon sich darauf ausreden kann. Es gab da eine potenzielle Situation, die es hätte sein können, aber das wird nicht näher ausgeführt. Der Film handelt vor allem von Dingen, die nicht gesagt werden. In den meisten anderen Filmen reden die Menschen über sich selbst, darüber, wer sie sind, woher sie kommen. In Wirklichkeit passiert das nie. Ich habe Sie gerade getroffen, wir haben uns gerade erst kennen gelernt. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich kenne Ihre Vergangenheit nicht und Sie kennen meine nicht – es sei denn, man verwendet Google. In einem Film möchten wir allerdings alles innerhalb einer halben Stunde wissen. Wie ist das möglich? Was ich in diesem Fim zeigen wollte, ist, wie an einem gewissen Punkt in der Gegenwart die Vergangenheit hervortritt.
Zum Beispiel, als Brandon seine Schwester Sissy [die geichermaßen durcheinander ist, gespielt von Carey Mulligan; Anm.] überraschend im Badezimmer antrifft. Das verschafft eine Idee davon, wie ihre Beziehung zueinander ist. Das war es, woran ich interessiert war – die Zuschauer innerhalb der Geschichte zu stimulieren.

Den Zuschauer etwas der Arbeit leisten lassen.
Steve McQueen: Zuschauer sind nicht dumm. Wenn man ins Kino kommt, bringen wir unsere Geschichte, unser Gepäck, unser Wissen mit. Wenn wir uns ins Kino setzen, haben wir eine Idee, was vielleicht zwischen Brandon und Sissy passiert sein könnte. Wenn man es sich so vorstellt, ist es sehr anregend.

Laut der MPAA [die von den große Hollywoodstudios ins Leben gerufene Organisation, die über die Alterfreigabe in den USA entscheidet; Anm.] sind einige der Stimulationen dieses Films erst für Zuschauer ab 18 Jahren geeignet. Könnten Sie das kommentieren?
Steve McQueen: Ich habe mit Centfox [der Verleihfirma in den USA; Anm.] nie über die Möglichkeit diskutiert, den Film zu schneiden. Ich habe nie mit ihnen darüber diskutiert, dass er eine „Ab 18 Jahren“- Einstufung bekommt.

Normalerweise nennt die MPAA Gründe für ihre Entscheidungen. Wissen Sie, was sie in Ihrem Fall gesagt haben?
Steve McQueen: Das ist mir egal, solange die Leute es sehen dürfen. Das ist ein sehr verantwortungsvoller Film. Hier geht es nicht darum, jemanden in Stücke zu hacken und ihn in eine Bratpfanne zu werfen oder Leuten in den Kopf zu schießen. Dieser Film handelt von Menschen, die Schwierigkeiten mit Sex haben. Und jeder hatte Sex. Jeder hat schon mal jemanden des anderen Geschlechts nackt gesehen. Aber es gibt nur eine kleine Minderheit an Leuten, die schon einmal jemandem in den Kopf geschossen haben, und dennoch ist es offensichtlich genau das, was man im Kino sehen kann. Was wir zeigen, kann nicht von einem größerem Publikum gesehen werden. Aber das ist okay. Ich hab damit keine Probleme.

Die „Ab 18 Jahren“-Bestimmung wird eine Menge Leute davon abhalten, den Fim zu sehen.
Steve McQueen: Möglicherweise ist das etwas Gutes. Ich weiß es nicht. Aber solange es die Leute überhaupt sehen können, ist es mir egal.

Welches Alter halten Sie für angemessen?
Steve McQueen: Ich widerspreche der „Ab 18 Jahren“-Bestimmung nicht. Das sollte jedoch den Filmstart nicht  beschränken, es sollte erlaubt sein, den Film im Fernsehen und anderen Medien zu bewerben. Ich denke, es sollte kein Verbot für das Bewerben bestimmter Filme geben, wenn es ein verantwortungsvoller Film ist. Menschen, die unter 18 sind, sollten ihn nicht sehen. Aber nach wie vor ist er ein verantwortungsbewusster Film.  Diese Beschränkungen sind ein wenig veraltet. Ich meine, Pornografie ist die profitabelste Sache im Internet. Zwei Klicks am Computer, und du kannst sehen, was immer du willst. Die explizitesten Pornoseiten, die man sich nur vorstellen kann.

Eine Situation, die Sexsucht umso mehr verstärken kann?
Steve McQueen: Das unterstützt es. So wie New York.

Sind Sie der Ansicht, dass Internet-Pornografie verboten werden sollte?
Steve McQueen: Ich bin in keiner Weise an Zensur interessiert. Aber wie man das handhabt, weiß ich nicht. Es ist schwierig zu beantworten.

Denken Sie, dass der Film eher Richtung Anti-Sex ausgelegt werden sollte?
Steve McQueen: Nein, es gibt Szenen in diesem Film, wo Sex als Spaßhaben gesehen werden kann. Zum Beispiel, als Brandon mit einem Mädchen aus der Bar hinausgeht, mit ihr draußen Sex hat. Er stolziert zurück und hat offensichtlich einen netten Abend gehabt. Sein Versuch mit Marianne [Michaels Kollegin, gespielt von Nicole Beharie; Anm.], der natürlich scheitert, weil Brandon sich auf der emotionalen Ebene doch nicht einlassen kann. Es ist der erotischste Moment des Films, weil er tatsächlich teilt und mittels Sex auch kommuniziert. Es war für mich so oder so die erotischste Szene. Wenn Kommunikation innerhalb von Sex stattfindet.

Intimität.
Steve McQueen: Ja, Intimität ist natürlich sein Problem. Er kann damit nicht umgehen. Sexsüchtige wollen die Kontrolle über die Situation haben. So ist das. Sie wurden verletzt und sie wollen nicht mehr verletzt werden.