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The Future’s Past

The Future’s Past

The Future’s Past

| Andreas Ungerböck |

Der Völkermord im Kambodscha der siebziger Jahre im Spiegel der Erinnerung von Zeitzeugen und der bohrenden Fragen der jungen Generation.

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Zwischen 1975 und 1979 hielt die Schreckensherrschaft der „Roten Khmer“ Kambodscha im Würge-griff. Fast zwei Millionen Menschen, nahezu ein Viertel der Bevölkerung, fielen dem Terror zum Opfer. Erst das durchaus eigennützige Eingreifen Vietnams setzte dem Wahnsinn ein Ende, die Spuren der physischen und psychischen Verwüstung sind bis heute unübersehbar. Es dauerte gut 30 Jahre, bis die Aufarbeitung des Genozids in einem Tribunal unter UNO-Aufsicht auch juristisch angepackt werden konnte. Nur wenige der Haupttäter sind noch am Leben, und die Sinnhaftig-keit des Prozesses wurde des Öfteren angezweifelt: Mühsam zugeschüttete Gräben würden so wieder aufgerissen.

Susanne Brandstätter, ehemalige ORF-Journalistin und inzwischen auch erfolgreiche Kino-Dokumentaristin, traf für ihren Film die kluge Entscheidung, sich nicht primär am (langwierigen) Prozessgeschehen zu orientieren. Sie wählte drei junge Leute – die 19-jährige Sopha und den 23-jährigen Teth Sophany (einen buddhistischen Mönch), die beide in Kambodscha leben, sowie die 23-jährige Sophir in Paris, deren Vater einst aus Kambodscha flüchten konnte. Es entspinnt sich eine packende Auseinandersetzung zwischen denen, die die schreckliche Zeit miterlebt haben, und denen, die buchstäblich die Gnade der späten Geburt für sich beanspruchen können: Wie konnte das Ungeheuerliche geschehen? Was habt ihr damals gemacht? Warum hat man sich nicht gewehrt? Es sind zum Teil unangenehme Fragen, die die Älteren mehr als einmal in Argumentationsnotstand bringen und gleichzeitig darauf verweisen, wie schwer es ist, diese Ereignisse zu vermitteln. Vor allem Sophir setzt ihrem Vater ziemlich zu. Und gelegentlich schleicht sich so etwas wie blankes Unverständnis ein – zu monströs sind die Geschichten, die die Älteren zu erzählen haben.

Auf TV-Schirmen bzw. dem Computer der Protagonisten ist der Prozess in Ausschnitten präsent: im Zentrum „Duch“, jener  Mann, der als Leiter des berüchtigten Gefängnisses S 21 für die Ermordung von rund 14.000 Menschen zumindest mit- verantwortlich war. Das allzu milde Urteil vom August 2010 (35 Jahre) wurde übrigens inzwischen auf lebenslänglich korrigiert. Neben den unermüdlichen Bemühungen Rithy Panhs, der mit seinen Filmen seit Jahren am visuellen Gedächtnis Kambodschas arbeitet, steht mit The Future’s Past nun auch eine eindringliche Dokumentation aus Österreich.

 


Susanne Brandstätter im Interview

Es ist wichtig, Fragen zu stellen

Susanne Brandstätter über ihre Arbeit an „The Future’s Past“ und über ihre Begegnungen mit den Menschen in Kambodscha und im Exil in Paris.

Als ich vor dreizehn Jahren in Phnom Penh war, gab es gleich in der ersten Nacht eine Schießerei vor unserem Hotel. Am nächsten Tag sagte man uns, das sei eine versuchte Vergewaltigung gewesen, und jemand vom Hotel sei hinausgegangen und habe auf den Täter geschossen. Und allgemein lag eine starke Spannung in der Luft. Wie hat sich das verändert?
Die Gewaltbereitschaft im Land ist immer noch sehr hoch. Das ist ein großes Problem. Man merkt schon, dass das Land nach wie vor stark traumatisiert ist. Das sind die Auswirkungen dieser schrecklichen Zeit des Pol-Pot-Regimes.

Wir fuhren später mit einem Sammeltaxi nach Thailand. Damals gab es im Urwald noch so kleine Inseln der Roten Khmer. Überall standen Leute mit Maschinenpistolen. Es wirkte ziemlich bedrohlich.
Ja, manchmal spürt man dieses bedrohliche Klima immer noch. Es gibt beispielsweise auf der Dorfebene nach wie vor einen Dorf-Chef. Und dann gibt es darüber noch das Gemeindeoberhaupt, sozusagen. Und es sitzen an vielen Stellen immer noch ehemalige Rote Khmer. Wir hatten während der Dreharbeiten eine heikle Situation, die haben wir zum Glück ausgebügelt. Wir haben plötzlich erfahren, dass das Gemeindeoberhaupt, einen ehemaligen Rote Khmer, unsere Dreharbeiten verbieten wollte. Ich sagte: „Gehen wir zu ihm und drehen wir mit ihm.“ Er war sehr froh, dass er seine Geschichte erzählen durfte. Dadurch, dass es damals bei den Khmer Rouge Fraktionskämpfe gab und sie anfingen, einander gegenseitig umzubringen, hat auch er einige Familienmitglieder verloren. Nach diesem Treffen durften wir weiterdrehen.

Wie sind Sie überhaupt auf das Thema gekommen? Soweit ich weiß, hat das mit der Richterin zu tun, über die Sie schon einmal einen Film gemacht hatten.
Ja. Bei meinem letzten Film Rule of Law: Justiz im Kosovo lernte ich die Richterin Claudia Fenz kennen. Wir wurden durch diese Filmarbeit Freundinnen und haben uns immer wieder getroffen. Und dann, ich glaube, schon 2006, bestand die Möglichkeit, dass sie nach Kambodscha als Richterin an das Rote Khmer Tribunal geht. Wir fingen an über Pol Pot und das Rote Khmer Regime zu sprechen. Ich hatte nur eine grobe Erinnerung daran, was damals passiert ist. Dass die Roten Khmer Leute umbrachten, die groben Umrisse, aber Details wusste ich nicht. Und das Gespräch mit Claudia war der zündende Funke, wenn man so sagen darf. Ich wusste noch nicht, ob sie dorthin kommt, aber ich fing an zu recherchieren. Es war sehr bald klar für mich, dass sie nicht im Mittelpunkt des Films stehen würde, sondern dass ich einen ganz anderen Blickwinkel wählen wollte.

Das heißt, Sie wollten nie den Prozess direkt filmen?
Das wäre gar nicht möglich gewesen. Ich fand heraus, dass es verboten sein würde, innerhalb des Gerichtssaals zu drehen. Es gab aber dann fünf „einbetonierte“ Kameras im Gerichtssaal.

Wer war das? Nur staatliches Fernsehen?
Das war vom Pressebüro des Tribunals. Es war überhaupt niemand im Saal. Fünf Kameras waren fix an die Wände montiert, aber kein Kamerateam im Saal. Und das wurde über ein Regiepult genauso wie eine normale Liveaufzeichnung mitgeschnitten.

Lief das im Fernsehen?
Das lief im Fernsehen, und es gab ein Livefeed für die Presse. Wir hatten jemanden dort, der dieses Livefeed aufnahm und die Bänder von der Verhandlung erstellte.

Das war wahrscheinlich auch sehr ins Detail gehend und langwierig.
Der Prozess war oft sehr schwer verständlich, vor allem für Laien, und auch sehr ins Detail gehend. Natürlich war es auch spannend, aber die Idee war von vornherein, dass der Film nur das zeigen sollte, was das Tribunal in der Bevölkerung auslöst und nicht ein Gerichtsfilm per se. Die kambodschanische Regierung hat immer wieder gesagt, sie machen das Tribunal für die Bevölkerung. Also sehr bald hatte ich diese Idee, dass ich das aus dem Blickwinkel der Bevölkerung erzählen möchte. Ich habe gedacht, dass es sehr viele Filme über Krieg oder Terror gibt, in denen man entweder Opfer oder Täter beleuchtet. In Wirklichkeit war es aber auch für die junge Generation wichtig, dass man das aufarbeitet und auf welche Weise man es tut. Ich dachte, es wäre ein interessanter Standpunkt im Film, wenn man es aus der Sicht der Jugend zeigt und wie sie immer mehr darüber erfährt, und wenn man darauf den Hauptfokus legt. In der Recherche hatte ich schon erfahren, dass der Großteil der Jugend – die Bevölkerung in Kambodscha ist extrem jung, 60 Prozent sind unter 25 – überhaupt nicht wusste, was damals passiert ist, weil das total tabuisiert wurde. Sowohl von der Regierung aus als auch innerhalb der Familien sprach man nicht darüber: weil man selbst mit dem Trauma gekämpft hat, weil man sich geschämt oder geniert hat oder weil man einfach mit dem Schmerz nicht fertig wurde. Oder auch weil man die Kinder nicht damit belasten wollte. Weil man meinte, die Kinder sollen diese Schreckensgeschichten nicht hören. So wuchsen die Kinder auf. Ich traf bei meiner eigenen Recherche immer wieder Jugendliche, die wirklich nichts wussten oder ihren Eltern nicht glaubten.

Das finde ich ganz stark in dem Film: dass man immer wieder dieses Gefühl von Ungläubigkeit merkt. Das kommt in den Filmszenen so heraus. „Das kann ja gar nicht so gewesen sein. Das ist so schlimm, das kann gar nicht stimmen.“
Ich hatte wirklich auch Zweifel an bestimmte Geschichten, aber dann hörte ich sie immer wieder von verschiedensten Seiten. Ich will gar nicht erzählen, was. Ich habe manche schreckliche Beschreibungen auch aus dem Film rausgeschnitten, weil es mir nicht darum ging, spekulativ mit diesem Horror zu schockieren. Es geht um andere Sachen in dem Film, aber ich kann verstehen, warum die jungen Leute Schwierigkeiten haben, das zu glauben. Es sind so furchtbare Dinge, dass es einfach unvorstellbar ist; dass man sich fragt: „Wie können Menschen einander solche Dinge antun?“. Ich habe auch sehr gekämpft damit. Es war sehr schwierig, jahrelang täglich so intensiv mit so einem Stoff umzugehen.

Was war ihr erster Eindruck, als Sie ankamen? Für mich war dieser erste Tag in Phnom Penh Wahnsinn. Ich war sehr viel in Asien unterwegs und kenne viele Städte. Aber Phnom Penh war irgendwie anders. Wie war ihr Eindruck?
Ich war auch sehr viel in Asien. Die Kambodschaner sind sehr freundlich, aber da spürt man unter dieser Oberfläche etwas, das man in anderen asiatischen Ländern nicht spürt, und ich dachte, dass es dieses Trauma sein muss. Und es ist interessant, als ich mit anderen Leuten sprach, die wie ich von außen kamen, merkte ich, dass sie im Grunde genommen fast alle das Gleiche empfanden. Dass die Menschen ein bisschen anders reagieren. Dass man etwas anderes spürt. Und ich glaube nicht, dass das Einbildung ist.

Man hat den Eindruck, dass viele Leute immer noch Angst haben.
Ja, das gibt es: dieses Nicht-darüber-reden-dürfen, diese Angst. Die Menschen haben Angst, dass, wenn sie darüber reden, eines der Bezirksoberhäupter, das vielleicht zu den Roten Khmer gehörte, davon erfährt. Die Leute haben auch kein Vertrauen in das System. Es gibt so viel Korruption. Mir wurde eine Geschichte erzählt, die ein Beispiel dafür darstellt: Jemand wollte von jemandem anderen Ochsen kaufen, die der aber nicht verkaufen wollte. Also wurden diese Ochsen gestohlen. Der Bestohlene wollte den Diebstahl anzeigen, hatte aber keine Chance und wurde sogar bedroht. Man muss wissen, dass die Ochsen die Existenzgrundlage jedes Reisbauern sind. Er kann sonst seinen Lebensunterhalt nicht mehr verdienen. Mit so einem Diebstahl ist dieser Mensch ruiniert. Und mit ihm seine Frau und seine Kinder. Das hat zwar mit dem Film nichts zu tun, aber man hört so viele Geschichten, dass es kein Wunder ist, dass die Menschen noch sehr zurückhaltend und ängstlich sind.

Ich wollte auf Rithy Panh zu sprechen kommen. Wie haben Sie seine Filme erlebt oder wahrgenommen?
Ich habe einige Filme ein paar Mal angeschaut, z.B. S21. Das erste Mal habe ich es fast nicht ertragen. Es ist mir so nahegegangen, es war so intensiv. Ich finde das sehr stark, was er macht.

Werden seine Filme in Kambodscha auch gesehen?
Er hat ein eigenes Dokumentations- und Medienzentrum, das Centre Bophana und zeigt seine und auch andere Filme dort. Es gibt de facto keine Kinos in Kambodscha, aber es gibt schon Möglichkeiten, die man nutzen kann, um Filme zu zeigen. Das Centre Bophana ist eine davon. Dann ist da auch das private Kulturzentrum Meta House, und dann gibt es dann noch das französische Kulturinstitut. Das zeigt auch Filme. Ansonsten ist die einzige andere Möglichkeit, wie die NGOs mobil unterwegs zu sein und ein Leintuch aufzuspannen. Auf dem Platz vor der Pagode werden dann Filme gezeigt. Es gibt nicht viele Plätze, die wirklich groß genug sind, damit sich Menschen versammeln können, um einen Film anzusehen. So habe ich auch Teth Sophany, den Mönch, für meinen Film kennengelernt. Im Zuge meiner Recherche habe ich einer Veranstaltung einer NGO beigewohnt, die besagtes Leintuch aufspannte und Ausschnitte aus dem Gerichtssaal zeigten und den Leuten erklärten, was das Tribunal ist. Auf dem Platz vor der Pagode waren alle möglichen Leute, auch die Mönche und da kam Teth Sophany auf mich zu. Er hatte keine Ahnung, was ich dort machte, da ich ohne Kamerateam unterwegs war. Er wollte sein Englisch üben. Er kam auf mich zu und fing an, Englisch zu sprechen. Er sprach gar nicht schlecht Englisch, nur sehr schwer verständlich, weil er sein Englisch aus Büchern gelernt hatte. Und er hatte einen abenteuerlichen Akzent. Also während der Dreharbeiten, glaube ich, war ich die Einzige, die ihn wirklich gut verstand. Ich hatte mich ein bisschen eingehört. Klarerweise hatten wir immer Dolmetscher dabei.

Wie fanden Sie die anderen ProtagonistInnen?
Das war schwierig. Ich hatte Kontakt mit verschiedenen NGOs. Und alle, auch DCCAM, das Documentation Center of Cambodia, wollten mir so ganz extreme Fälle anbieten, wo die ganze Familie ausgelöscht worden und jemand gefoltert worden war und fast umgekommen wäre, und so weiter. Ganz grausige Details, aber das wollte ich nicht. Erstens würde das nicht das transportieren, was ich erzählen wollte, und ich dachte, es wäre besser, wenn man eine so genannte „Durchschnittsfamilie“ sucht. Und die Durchschnittsfamilie ist schlimm genug, denn laut Statistik hat jeder Mensch ohnehin ein bis zwei Angehörige verloren. Ich wollte typische Jugendliche. Das war dann ein bisschen die Problematik, eine Familie mit Jugendlichen in einem Alter zu finden, in dem sie sich artikulieren können und wo die Eltern auch einverstanden sind, dass man die Familie über einen längeren Zeitraum begleitet. Und dann gab es noch die Überlegung: Nimmt man einen jungen Menschen, der sich gar nicht dafür interessiert und beobachtet, was passiert, oder nimmt man jemanden, der Interesse dafür hat? Als erstes hatte ich also Teth Sophany, den Mönch. Und dann fand ich die Familie von Ou Chantavy und Sopha. Chantavy engagierte sich für eine NGO, die Menschen in ländlichen Gebieten über ihre Rechte aufklärte, Zivilankläger in dem Tribunal zu werden. Ihre Tochter Sopha war hingegen gar nicht interessiert an dem Tribunal.

Das merkt man ein bisschen.
Ja, das merkt man. Das wollte ich. Da wusste ich noch nicht, wie sich das entwickeln würde, aber das war eine ganz typische Konstellation. Ich hatte eine andere Familie in Phnom Penh, bei der der Vater ein ehemaliger Rote-Khmer-Kader war und heute Lehrer ist, und seine Tochter hat sich auch überhaupt nicht dafür interessiert. Das wäre in Ordnung gewesen, weil er sehr interessant erzählte, aber die Tochter war extrem schüchtern vor der Kamera, und das ging deshalb nicht. Ich hatte von vornherein beschlossen, mehrere Familien zu begleiten, weil ich dachte, man kann nicht wissen, was passiert. Man konnte ja, wenn eine Familie ausfiel, nicht neu anfangen, denn der Prozess lief ja währenddessen weiter. Und darum musste man drei Familien begleiten und dokumentieren. Das passierte dann tatsächlich schon am Anfang mit einer Familie aus der ersten Recherche, dass die Jugendlichen ganz engagiert und interessiert waren und unbedingt die Familie im Film haben wollten. Die Eltern hatten zugesagt und wir hatten schon dort bei der Recherche gedreht, aber plötzlich beim Hauptdreh sagten die Kinder, die Eltern hätten es sich anders überlegt. Das war heftig.

Und die Familie in Paris? Ich finde die ja besonders interessant. Wie haben Sie die gefunden?
Über das Internet! Ich hatte in Paris Kontakt mit einem sehr bekannten Psychiater, der mit kambodschanischen Traumapatienten arbeitet. Aber alle Menschen, die von ihm kamen, wollten nicht im Film sein. Ich glaube, wenn man traumatisiert ist und im Exil lebt, kann man oft nicht abschätzen, was so etwas im Land selbst bewirken könnte. Manche haben noch Verwandte im Land. Im Zuge meiner Recherchen stieß ich auf eine Einspielung von einer Universitätsprofessorin im Netz, die gemeinsam mit einem kambodschanischen Künstler, Séra, eine Ausstellung über seine Erinnerungen gemacht hatte. Die Professorin, das war Soko, die älteste Schwester. Ich schickte ihr eine E-Mail, in der Hoffnung, dass sie vielleicht antwortet. Und das tat sie. Aber sie ist über 40 und ich dachte, ich würde ihre Familie nicht für den Film nehmen können. Wir trafen uns rein für die Recherche, da ich hoffte, sie könnte mir weiterhelfen. Die Sympathie war sofort da, und wir sprachen lange miteinander. Sie war begeistert von dem Projekt. Ich sagte, ich suche eine Familie mit jüngeren Leuten. Daraufhin sagte sie mir, sie hätte zwei jüngere Schwestern, Sophir und Nary. Die beiden waren die Nachzüglerinnen der Familie, sie sind in Paris geboren, als junge Pariserinnen aufgewachsen und sprechen auch kaum Khmer. Die Kommunikation innerhalb der Familie findet in Französisch statt, nur die Eltern sprechen miteinander Khmer.

Das ist sicher auch eine Methode, um sich abzugrenzen und die Erinnerung ein wenig zu filtern.
Ja, da haben Sie wahrscheinlich Recht.

Der Vater ist ja eher typisch für diese Art von Schicksal. Er ist sehr reserviert. Er kann einem fast leid tun, so wie ihm Sophir zusetzt.
Absolut. Diese Familie habe ich so ins Herz geschlossen, sie ist großartig. Ich konnte Sophir schon verstehen, dass sie etwas Persönliches von ihrem Vater erfahren wollte. Das war ein interessanter Prozess, da es für sie am Anfang eine intellektuelle Angelegenheit war. Je mehr sie sich damit befasste, desto mehr merkte sie, dass das auch eine persönliche Geschichte ihrer Familie war und sie wollte wissen, was diese Geschichte mit ihrem Vater gemacht hat. Die Mutter kommt im Film nicht vor, da die Töchter mit ihr nicht über diese Dinge reden. Die Mutter spricht Khmer mit den Töchtern, und sie verstehen sie auch, aber sie können die Sprache selbst kaum sprechen. Die wirkliche Auseinandersetzung, egal worüber, findet immer mit dem Vater statt.

Haben Sie den Protagonisten irgendetwas vorgegeben? Haben Sie gesagt: „Redet über diese Dinge“, oder ergibt sich das sowieso?
Der Ausgangspunkt war das Tribunal, aber es war nicht immer möglich die Familie beim Zuschauen der Verhandlung zu drehen, da das Tribunal nicht jeden Tag stattfand und auch nur während einer bestimmten Zeit. Wir konnten auch nicht immer genau zum Zeitpunkt der Übertragung bei den Familien sein, da diese auch ihre Arbeit und andere Aufgaben hatten. Da das, was am Vortag und davor beim Tribunal vorgefallen war, von uns aufgezeichnet wurde und ich es der Familie dann vorspielte, löste ich ganz bestimmte Reaktionen innerhalb der Familie aus. Ihre Reaktionen waren gewissermaßen durch diese Ausschnitte gesteuert. Außerdem ergibt sich eine ganz andere Dynamik, wenn man mit einem Filmteam dort ist, und es ist illusorisch, zu glauben, dass das keine Auswirkung hat.

Dass die beiden Mädchen in Pnomh Penh in das Gefängnis S21 gehen, haben Sie ihnen das vorgeschlagen?
Nein, sie wollten gehen, und ich bat nur, dass sie nicht gehen, bevor wir sie begleiten können. Sopha ging ja nach Phnom Penh, um dort zu studieren, und weil sie sich mehr mit der Sache beschäftigte und auch begann, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, wollte sie unbedingt dorthin gehen.

Haben Sie auch andere Leute im Gefängnis beobachtet? Ich fand das unglaublich. Ich stand nur dort und beobachtete die Kambodschaner, die dort hineingingen. Was es da für ein Spektrum an Reaktionen gibt.
Ja, ganz unterschiedlich.

Von Tränen bis zu einer absolut stoischen Miene. Wie ist das überhaupt mit den Reaktionen? Was mich sehr irritiert hat, als ich dort war, und man sieht es auch im Film, war, dass die Leute immer lächeln. Das berühmte „Lächeln der Khmer“. Man weiß nicht so recht, was das soll.
Ja, das ist für uns sehr befremdend, sehr irritierend.

Es gab, zumindest damals, gegenüber dem Gefängnis ein kleines Café. Wir sprachen dort mit einem jungen Mann, der gut Englisch konnte. Er erzählte von seiner Großmutter, die im Gefängnis umgekommen war, und dabei lächelte er die ganze Zeit.
Das ist schon auch typisch asiatisch. Es ist für uns befremdlich, aber man muss einmal sehen, was dort alles passiert ist. Wir kennen das auch, aber nicht in so diesem Ausmaß. Jeder von uns hat sicher Situationen erlebt, in denen wir versuchen, unserer Emotionen Herr zu werden, indem man lächelt oder einen dummen Scherz macht. Man kennt diese Situationen. Das ist einfach die Art, wie Menschen mit ihren Emotionen fertig werden, zum Beispiel, indem sie lächeln. Das ist für uns dann sehr eigenartig, wenn jemand wie der Mann in meinem Film sagt „Ich bin der einzige Überlebende“ und dabei lacht. Aber im letzten Moment wischt er eine Träne weg. Man darf also nicht glauben, nur weil die Menschen lachen, dass sie nicht einen extrem tiefen Schmerz empfinden. Vielleicht ist es so, je mehr die Menschen lachen, desto eher kann man ermessen, wie stark ihr Schmerz ist. Weil sie irgendwie damit fertig werden müssen. Aber es wirkt für uns, wenn wir das sehen, eigenartig. Manchmal denkt man, es lässt Sopha kalt, oder was ist das für ein Empfinden, wenn sie so lacht? Aber sie lacht, weil es ihr nahe geht. Es ist Ausdruck von Betroffenheit, dieses Lachen. Lachen und Weinen liegen ganz nah beieinander.

Was auch faszinierend ist, ist diese Szene auf dem Damm. Dass der Mann das, was er erlebt hat, nachspielt, beinahe wie ein Schauspieler. Das ist wie in Rithy Panhs Film S21. Da gibt es diesen Wärter, der erzählt, wie das damals war und dann völlig hineinkippt, wie in eine Rolle.
Ja, das war genauso mit dem Mann auf dem Damm. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass er das machen würde. Ich muss sagen, er ist eine Ausnahme, denn er muss darüber reden. Er ist so stark traumatisiert, dass er unentwegt darüber reden muss. Und diese Situation in dieser Familie ist eine Ausnahme, denn die meisten Eltern haben ihren Kindern nichts erzählt. Er hingegen hat seinen Kindern sehr viel darüber erzählt.

Man spürte während der ganzen Dreharbeiten dieses Trauma und diese Angst in den Menschen. Sie waren nur innerhalb ihrer eigenen vier Wände bereit, darüber zu sprechen. Es war für sie absolut unmöglich, irgendwo anders als in dem geschützten Bereich zu sprechen. Das ist diese Kombination von Trauma, Misstrauen und Angst, dass andere Leute zuhören und etwas passieren könnte. Es war erst, als die Vertrauensbasis aufgebaut war, möglich, ein paar Szenen außerhalb der eigenen vier Wände zu drehen. Er erklärte sich dann bereit, dass er auf den Damm geht, und er sagte, er will, dass seine Tochter das sieht. Es kommt in dem Film nur ein paar Mal vor, aber er hat es noch viel öfter gesagt: „Glaubst du mir jetzt?“, „Glaubt ihr mir jetzt?“. Es war großartig für den Film, wie er begann, das vorzuspielen. Er war plötzlich wieder in seinen Erlebnissen. Und es war interessant, als plötzlich dieser andere Mann hinzukam.

Hatten Sie den Eindruck, dass die Leute froh waren, endlich über Ihre Erinnerungen reden zu können?
Die Dreharbeiten fanden in einem Zeitraum von zwei Jahren statt, inklusive der Recherche-Drehs. Ich erlebte es so, dass dadurch, dass das Tribunal öffentlich wurde, es einen großen Unterschied innerhalb der Bevölkerung ausmachte. Am Anfang waren die Menschen verschlossen. Aber mit der Zeit fingen die Leute an, immer mehr darüber zu reden. Sie hatten plötzlich das Gefühl: Jetzt können wir darüber sprechen und diskutieren, was passiert ist.

Das Tribunal war ja auch sehr umstritten. Es gab ja genug Leute, die gesagt haben: „Das bringt doch jetzt nichts mehr.“
Es gibt immer noch Leute, die meinen, das sei Geldverschwendung, und man solle lieber in Straßen und Krankenhäuser investieren und nicht in die Aufarbeitung.

Rithy Panh hat gesagt, es muss einfach sein. Wenn auch nur auf einer symbolischen Ebene. Abschließen kann man es wahrscheinlich nie.
Ja, das kann man nicht abschließen.

Das ist, glaube ich, wichtig, dass man sich damit auseinandersetzt.
Ja. Es ist interessant, wenn man bedenkt, dass das Wort „Vergangenheitsbewältigung“ etwas beschreibt, das abgeschlossen ist. Es soll aber gar nicht abgeschlossen werden. Was wirklich wichtig ist, ist diese fortlaufende Auseinandersetzung damit, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, sowohl dort im Land als auch bei uns. Das war auch ein Beweggrund, diesen Film zu machen – dass es sehr wichtig ist, dass man sich mit dieser Vergangenheit konfrontiert, überlegt, forscht und Fragen stellt. Ich wollte, dass sehr viele Fragen aufgeworfen werden, um zur Reflexion darüber anzuregen. Denn es gibt so vieles, bei dem wir sagen, wir können es nicht begreifen. Aber wir können versuchen diese Dinge zu ergründen und vielleicht Muster und Alarmzeichen zu erkennen, damit so etwas nie wieder passiert.

Leider hat sich der Westen ja sehr spät für Kambodscha interessiert.
Das ist wirklich tragisch, allein, wenn man bedenkt, dass die Roten Khmer einen offiziellen Sitz in der UNO hatten. Bei solchen Dingen sind immer auch politische Interessen involviert.

Ja, das waren vor allem antivietnamesische Interessen. Und später kamen die UNO-Soldaten, und plötzlich war Phnom Penh die teuerste Stadt der Welt, weil sie so mit dem Geld um sich warfen. Und seit sie da waren, gibt es Prostitution und Kinderprostitution und AIDS.
Man sagt, Kambodscha sei das Land mit der höchsten Anzahl an NGOs. Also, man darf auch nicht vergessen, dass da viele Leute sind, die sehr gute Arbeit machen.

Wie haben Sie Phnom Penh erlebt?
Ich war in vielen Vierteln, wo man als Tourist gar nicht hinkommt. Ich habe verschiedene Familien in Phnom Penh besucht und war auch bei Sopha zu Hause, in ihrer kleinen Studentenwohnung. Ich habe Teile von der Stadt gesehen, wo man sonst überhaupt keine Ausländer sieht. Ich habe also sehr verschiedene Gesichter von Phnom Penh und von Kambodscha erlebt. Sowohl in der Großstadt als auch in entlegenen Dörfern.

Haben Sie vor, den Film auch in Kambodscha zu zeigen?
Das will ich gerne. Aber zuerst muss der Produzent den französischen Teil in Khmer übersetzen lassen und mit Untertiteln versehen. Natürlich ist das auch eine finanzielle Frage, aber da ihn viele Leute darauf angesprochen haben, ob der Film auch in Kambodscha gezeigt wird, wird er das wohl machen. Es wäre schön, und ich glaube, dass es auf viel Interesse stoßen wird, gerade eben weil diese verschiedenen Seiten dargestellt werden. Also sowohl Sophany und seine Familie, in dem ehemaligen Rote-Khmer-Dorf, als auch Sopha und ihre Familie.

Und auch die Pariser Familie.
Ja. Der Großteil der Menschen in Kambodscha hat keine Ahnung, wie es ist, im Exil zu leben. Ich denke, dass es interessant wäre, zu erfahren, wie das in Kambodscha aufgenommen wird. Mir wäre das schon sehr recht.