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Dexter Serie

TV-Serie

Slice of Life

| Roman Scheiber |

Der Titelheld der abgründigen, schwarzhumorigen, fabelhaften Krimi Drama-Serie „Dexter“ ist ein Serienkiller zum Liebhaben.
Würdigung eines
außerordentlichen Falls von Zuschauerbindung.

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Sein Fischerboot trägt den Namen „Slice of Life“. Ein „Stück aus dem Leben“. Er nutzt es zur Entspannung, vereinzelt auch zu Wochenend-Ausflügen mit seiner Schwester Debra, mit seiner reizenden Partnerin Rita und ihren Kindern oder mit einem seiner äußerst raren Freunde. Wer den unverbindlich freundlichen Mann schon auf dem Bildschirm hatte, weiß aber: Zuvorderst dient die „Slice of Life“ ihm dazu, zerstückelte, in Plastiksäcken verpackte Leichen vor der Küste von Miami zu entsorgen. Denn Dexter Morgan (Michael C. Hall), von Beruf Forensiker und Blutspurenanalyst bei der örtlichen Polizei, hat den unbezwingbaren Drang, Menschen das Leben zu nehmen. Übrig bleibt von seinen Opfern jeweils ein einziger zwischen Glasplättchen aufgebrachter Tropfen Blut – um welchen Dexter nach Abschluss jedes Hinrichtungsrituals seine Trophäensammlung aufstockt.

Dexter, im Oktober 2006 erstmals auf dem US-Pay-TV-Sender Showtime ausgestrahlt, stellt die CSI-Formel auf den Kopf, indem sie den Ermittler selbst zum Monster macht. Die Serie erregte sofort Aufsehen, avancierte zum Kritikerliebling und fruchtbar untersuchten Gegenstand der Film- und Medienwissenschaft. In ihrer Innovationskraft exemplarisch für die jüngste Hochblüte US-amerikanischen Serienschaffens, fand Dexter durchaus überraschend auch beim Publikum nachhaltig Anklang. Das Finale der vierten Season etwa bescherte Showtime mit 2,5 Millionen Seherinnen und Sehern eines der besten Quoten­ergebnisse seiner Geschichte (obzwar im Vergleich zum Erfolgskonzept-Serienbereich immer noch bescheiden), eine siebente Season entsteht gerade, eine achte ist beauftragt. Auch der ORF ließ sich zur Ausstrahlung von bislang vier Seasons hinreißen (siehe dazu auch das Interview mit ORF-Serienchefin Andrea Bogad-Radatz auf Seite 86).

Dexter verfügt über alle Merkmale, die eine sogenannte Qualitäts-Serie kennzeichnet, schöpft stilistisch aus dem Vollen, ist narrativ elliptisch und visuell erfinderisch. Doch wie war es möglich, dem Publikum einen Soziopathen als Identifikationsfigur nahe zu bringen? Die emotionale Zuschauerbindung an einen Titelhelden hinzukriegen, der andere Menschen mit einer ähnlichen Gefühlsregung beseitigt wie er die Gelse auf seinem Unterarm zum Auftakt des Vorspanns zerklatscht, nämlich anscheinend ohne eine solche? „My name is Dexter, Dexter Morgan. I don’t know what made me the way I am. But whatever it was left a hollow place inside.“ Dexter ist ein Fall wie aus dem Lehrbuch von C.G. Jung: Durch ein schweres Kindheitstrauma (seine Backstory Wound) hat sich sein Schatten-Selbst („my dark passenger“ nennt er es später selbst) von ihm abgespalten und wirkt seither im Verborgenen. Der äußere Rest seiner Persönlichkeit ist Gefühlen – so scheint es zumindest zu Beginn der Serie – unzugänglich. Die Herkunft seines dunklen, blinden Passagiers wird Dexter erst zum Finale der ersten Season durch einen versierten narrativen Kunstgriff ins Bewusstsein gehoben.

Text-Bild-Schere

Ob es trotz der kruden emotionalen Störung Dexters zumindest ansatzweise zu einer „parasozialen Beziehung“ zwischen Protagonist und Zuschauer kommt, untersucht zum Beispiel Wolfgang Hagen in seinem Dexter-Beitrag im 2011 bei Schüren erschienenen Band „Serielle Formen“. Begünstigen soll die Entstehung der Zuschauerbindung schon die Besetzung mit Michael C. Hall, den man vielleicht als sympathischen, scheuen Schwiegersohntypen aus der HBO-Serie Six Feet Under (2001–2005) kennt – wobei er dort nur sein Schwulsein verbergen muss. Vor allem aber wird die Bindung an Dexter durch eine umstandslos via Voice-Over angebotene Komplizenschaft ermöglicht.

Wir sehen, wie er den Kollegen von der Miami Metro Mordkommission (durch die Bank originell gezeichnete, gut gecastete, markante Typen) eine 16-er-Packung Donuts ins Büro mitbringt und beim Verteilen freundliche Nasenlöcher macht. Doch wir hören ihn aus dem Off, und es hört sich entwaffnend ehrlich an: „People fake a lot of human interactions, but I feel like I fake them all. And I fake them very well.“

Wir sehen, wie Dexter seiner Adoptiv-Schwester Debra (mit Jennifer Carpenter ebenso wunderbar besetzt wie Julie Benz als seine Lebensgefährtin Rita) dabei hilft, Karriere im Morddezernat zu machen. Doch nur wir hören die intime Off-Stimme dazu: „That’s my foul-mouthed foster Sister, Debra. She has a big heart but won’t let anyone see it … I don’t have feelings about anything, but if I could have feelings at all, I’d have them for Deb.“

Dexter erzählt uns, zumeist in aller Ruhe, scheinbar alles: seine Einschätzung der Lage, seine Vorhaben, seine Meinung über andere. Als Forensiker auf einer Crime Scene berichtet er uns weit mehr als seinen Kollegen. Er reflektiert und grübelt über seine persönliche Verfasstheit. Als er in der zweiten, vielleicht doppelbödigsten Season an einem Tatort im Comic-Shop Plastikfiguren des Kapuzenledermantel-Superhelden „The Dark Defender“ bemerkt, lässt er uns wissen: „I never really got the whole superhero thing. But lately it seems we have a lot in common: tragic beginnings, secret identities, part human, part mutant, archenemies.“ Gleich darauf zieht ihn ein Plakat des Dark Defender in den Bann, doch nach kurzem Sinnieren meint er: „Nääh, Miami is too hot for all that leather.“ Wenig später träumt er sich und uns in die Phantasie, seiner Mutter das Leben zu retten – bekleidet mit einem Kapuzenledermantel.

Aus Dexters im Stil eines postmodernen Film-noir-Detektivs vorgetragenen Monologen und Mitteilungen aus dem Off entsteht nicht nur ein erheblicher, reizvoller Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber sämtlichen anderen Figuren der Serie. Es entstehen bei aller Ambivalenz auch zarte Parallelen zur eigenen „normalen“ Existenz. Wer hat kein Geheimnis vor seinen Nächsten? Wer wünscht nicht Mitmenschen zuweilen Übles an den Hals? Und wenn Dexter uns in nuanciert wechselndem Tonfall dann auch noch etwas über seine aktuelle Befindlichkeit verrät, sind wir vielleicht schon mitten drin in der parasozialen Beziehung. „I am not the person I am supposed to be. I am unable to reach out to the people close to me.“ Er lässt keinen wirklich an sich heran. Außer uns.

Harry’s Code

Sein Adoptivvater Harry (James Remar), ein Cop, brachte Dexter bereits als Halbwüchsigem bei, den Tötungsdrang zu kanalisieren, ihm eine Berufung aufzustülpen, seine Opfer nach einem „Code“ zu wählen. Von Harry hat Dexter gelernt, nur solche Menschen zu töten, die aus seiner Sicht das Recht zu leben verwirkt haben – vorzugsweise andere (potenzielle) Serienkiller, die er mittels Zugriff auf polizeiliche Datenbanken ausforscht und sorgfältig beobachtet. Er geht rational und umsichtig vor. Und er hat gelernt, seinem Umfeld gegenüber sozial verträglich zu agieren. Harry, obwohl längst verstorben, ist nach wie vor Dexters wichtigste Bezugsperson im Leben – was sich an einprägsamen Rückblenden und (in Gewissensfragen auch erfundenen) Dialogen mit Harry in mal milchig weichen, mal scharf grau überbelichteten Mindscreen-Szenen zeigt.

Wenn Dexters erste sichtbare Opfer, deren stilgerechtes Ende auf seinem Hinrichtungs-Tisch wir mitverfolgen, ein pädophiler Serienmörder und ein brutaler Serienvergewaltiger sind, mischt sich zum anfänglichen Ekel vielleicht schon eine kleine Dirty-Harry-Phantasie hinzu. Harrys Code soll einen legitimierenden Faktor des Mordens evident werden lassen: Schutz von Kindern und Familien, wo der Staat in seiner Schutzfunktion versagt. Dieser uramerikanische Aspekt der „gerechten“ Selbstjustiz (in Verbindung mit der gesellschaftlich immer noch weithin akzeptierten Todesstrafe), mit dem das gewagte Zuschauerbindungs-Konzept von Anfang an kokettiert, wird in der abschließenden Szene der ersten Season explizit. Nachdem Dexter unerkannt den ganz Miami, aber auch ihn persönlich aufwühlenden „Ice Truck Killer“ zur Strecke gebracht hat, imaginiert er sich – in extremer Verlangsamung, eingehüllt in die verspielt lässige Titelmusik von Rolfe Kent – durch einen pastellfröhlichen Kordon Konfetti werfender Gratulanten promenierend („Thank you for taking out the garbage, Dexter!“) und sagt zu sich: „I am like one of them – in their darkest dreams“. Lies: In euren dunkelsten Träumen bin ich einer von euch.

Erst wenn Dexter unter Verletzung von Harrys Code den ersten „Unschuldigen“ getötet hat, also sein erstes Opfer tatsächlich „auf dem Gewissen“ hat, stehen wieder die nötigen ideologischen Fragezeichen hinter der anfangs suggestiv gezeichneten Selbstjustiz. Das mag die mühsam aufgebaute parasoziale Bindung denn auch prompt wieder schädigen. Und Dexters Beziehung zu Harry leidet besonders darunter, denn dieser pfuscht nun immer heftiger hinein in sein täuschend hyperreales Paralleluniversum.

Wer Dexter einmal bis in die vierte Season (Motto: „Living the dream“) gefolgt ist – also rund dreißig abwechslungsreiche, anregende Fernsehstunden mit ihm verbracht hat –, weiß zwar immer noch nicht, wer Dexter ist. Aber man kann leicht nachempfinden, wie sich hier einer zwischen professioneller Berufsausübung, dem Dasein als aufmerksamer und verständnisvoller Familienvater und einer zugegeben obsessiven Freizeitbeschäftigung (plus stetig steigendem Spurenverwischungsbedarf) derart zersprageln muss, dass er kaum noch Schlaf bekommt. Irgendwann beginnt man Anteil zu nehmen an seinem Doppellebens-Schicksal. Sei es aus dem Grund, den Produzentin Sara Colleton angibt: „Wir schauen ihm gern dabei zu, wie er am Abgrund entlangläuft, weil wir uns stellvertretend ausrechnen, welchen Preis er dafür zahlen wird.“ Sei es aber auch, weil man paradoxerweise einen Serienmörder liebgewonnen hat.

Gruss von Hitchcock

Der Stoff stammt von dem 60-jährigen, in Florida geborenen Schriftsteller Jeff Lindsay, dem mit „Darkly Dreaming Dexter“ ein später Durchbruch gelang. Für das Fernsehen aufbereitet wurde er von The Sopranos– und The Shield-Schreibkraft James Manos und Show Runner Clyde Phillips, um zwei weitere aus dem mehr als 30-köpfigen Produktions- und Kreativteam zu nennen. Der überhöhte Erzählansatz und artifizielle Stil von Dexter ist schon an der enorm fleischlichen, selbstbewusste 1:45 Minuten langen Close-Up-Titelsequenz eindrucksvoll abzulesen. Derart verspielt ist die Ästhetik der gesamten Serie. Sie kippt vom sonnenlichtdurchfluteten Pastellrosa Miamis in blutgesättigten Rotfilter, oder sie lässt uns zusammen mit Dexter den ersten, bewundernden Blick auf eine kunstvoll hinterlassene Crime Scene werfen (die gängigen Nahaufnahmen von DNA versprechenden Krümeln sind die Ausnahme), der Score von Daniel Licht ist mal schmaldosiert dämonisch, mal kontrastierend heiter. Es liegt nicht fern, in Dexter einen Hybrid aus der zelebrierten, sinnlosen Tötungsmechanik eines Quentin Tarantino und dem Psychothriller-Suspense einer Art ausgedehnten Hitchcock’schen Crime-Kosmos zu sehen (die Eskalation „perfekter“ Verbrechen!), erzählerisch eingesponnen in ein All American Family Drama. Doch Dexter ist mehr.

Ambivalente Helden verbreitete schon New Hollywood oder der Italo-Western, heute heißen sie Walter White oder Don Draper. Dexter Morgan steht in dieser Reihe, darüber hinaus erweitert er den im vergangenen Jahrzehnt sprunghaft angestiegenen Serienkiller-Ausstoß um eine unbehagliche Qualität. Dr. Hannibal Lecter (The Silence of the Lambs, 1991) war gebildet, geistreich und kultiviert, dennoch war er ein Monster, von dem wir uns problemlos abgrenzen konnten. Mit Dexter als Serienheld ist die Sache knifflig geworden. Seine Obsessivität, seine Neigung zur Zwangshandlung lässt sich auch wahrnehmen als Vergrößerungsspiegel für mildere Formen zwanghafter Flucht vor Unsicherheiten und Ängsten – welche sich, wie bei Dexter, auch im Kleben an Beziehungsmustern äußern kann. A slice of real life, ein Stück aus dem Leben der selbstbezogenen, emotional behinderten, maskierten, entwicklungsunfähigen, lebensersatzweise durchmedialisierten Menschen von heute. Mit Dexter ist das Monster gewissermaßen in unserer parasozialen Vorstellungskraft angekommen. Oder, wenn man so will, „in uns“.