ray Filmmagazin » Filmfestivals » Erinnerungen, ungeschönt

Wiener Festwochen

Erinnerungen, ungeschönt

| Andreas Ungerböck |

Wu Wenguang und Wen Hui bringen zwei groß angelegte Oral-History-Projekte zu den Wiener Festwochen.

Werbung

Wu Wenguang, geboren 1956 in der südchinesischen Provinz Yunnan, gilt mit Recht als einer der Begründer sowie als ein führender Protagonist des „anderen“ Dokumentarfilms in der Volksrepublik China. „Anders“ deshalb, weil lange Zeit nichts geduldet wurde außer vom staatlichen Fernsehen aufwändig produzierte und geschönte Propagandadokumentationen über die prächtigen Landschaften und den tiefen sozialen Frieden. Dass seit den neunziger Jahren unter der gelackten Oberfläche mehr als das sichtbar wurde, ist Wus Verdienst, weil er der Erste war, der es sichtbar machte. Später folgten couragierte Kollegen wie Duan Jinchuan und Jiang Yue, die des öfteren auch gemeinsam arbeiteten. Großartige und (wegen der Zensur) oft sehr hintersinnige Dokumentarfilme entstanden da, etwa über die völlig sinnlose, aber zur Causa prima hochgepuschte Bergung eines von den Japanern versenkten Kriegsschiffes (Sunken National Treasures). Allmählich drangen diese Filme – via Festivals – auch in den Westen.

Wu, der von 1974 bis 1978, gegen Ende der Kulturrevolution, auf einem Bauernhof arbeitete, schloss danach sein Chinesisch-Studium ab und ging nach Beijing, wo er seither als Filmemacher, Autor, Theaterregisseur und Lehrer tätig ist. Schon mit seinem ersten Film, Bumming in Beijing (1990), der wenige Monate nach der blutigen Niederschlagung der Aufstände in Beijing fertig gestellt wurde, erregte er Aufsehen: Wu dokumentiert darin in einer Art Cinéma-Verité-Stil das Leben von fünf Künstlern am absoluten Rand der chinesischen Gesellschaft. Fünf Jahre später nahm er in At Home in the World den Faden wieder auf: Vier der fünf Künstler hatten inzwischen das Land verlassen, er folgte ihnen nach Österreich, Frankreich, Italien und in die USA. Zwischen den beiden Porträtfilmen, mit denen Wu 1996 persönlich bei der Viennale zu Gast war, entstand 1992 seine viel beachtete Doku 1966 – My Time with the Red Guards, eine der ersten und immer noch bedeutendsten Stellungnahmen zur Kulturrevolution. Es handelt sich um ein zweieinhalb Stunden langes Oral-History-Dokument, in dem Wu eine Gruppe von fünf Menschen über ihre Erinnerungen an die „bleierne Zeit“ befragt, die von der offiziellen Geschichtsschreibung noch lange nicht „freigegeben“ war. Der Film, schrieb Ted Shen im „Chicago Reader“, unterstrich Wu Wenguangs Talent, „for asking the right questions and recording the most revealing gestures and expressions.“

In dieser sehr aktiven Zeit gründete er 1994 gemeinsam mit seiner Frau, der Tänzerin und Choreografin Wen Hui, das Living Dance Theatre, das sich in der Folge als künstlerisch avancierte und äußerst vitale Institution in Beijing etablierte. Aus dem Stück „Dances with Farmworkers“ entstand der gleichnamige Film (2001), später gründete Wu mit anderen das China Village Self-Governance Film Project, für das er – anlässlich der ersten einigermaßen freien Wahlen auf lokaler Ebene – Dorfbewohnern Kameras zur Verfügung stellte, um sie zu eigenen Stellungnahmen anzuregen. Daneben drehte er immer wieder Filme, darunter den wunderbaren Porträtfilm Fuck Cinema (2005) über einen Mann aus der Provinz, der selber gerne Filmemacher wäre und ein mit seinem ganzen Herzblut geschriebenes, aber leider nicht sehr gutes Drehbuch stets bei sich trägt.

Bei den Festwochen gastieren Wu Wenguang und Wen Hui mit den beiden groß dimensionierten (acht bzw. fünf Stunden) Projekten „Memory“ und „Memory 2: Hunger“. Im ersten erinnert sich Wen Hui an ihre Kindheit während der Kulturrevolution. Darin sind erneut Gespräche mit Opfern und Tätern der Roten Garden eingeflochten. Im zweiten Projekt geht es um die katastrophale, oft geleugnete Hungersnot der Jahre 1959 bis 1961. Zwanzig von Wu und Wen entsandte Theaterkünstler interviewten rund 200 Zeitzeugen; die Gespräche werden sozusagen auf der Bühne nachgestellt. Wu Wenguang und Wen Hui erweisen sich damit, wie mit vielen ihrer früheren Arbeiten, die zwischen Tanz, Theater, Performance und Film angesiedelt sind, erneut als Pioniere einer unglaublich kraftvollen, gesellschaftlich und politisch relevanten Gegenwartskunst. Eine Ausstellung mit Foto- und Videoaufnahmen begleitet die Vorführungen.