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3D-Technik Avatar

3D / Fernsehen

Alles fliegt dir um die Ohren

| Benjamin Moldenhauer |

Die Diskussion um die ökonomischen und ästhetischen Möglichkeiten der 3D-Technik im Kino spaltet weiterhin die Filmwelt. Eine Annäherung von Benjamin Moldenhauer.

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Der 3D-Hype scheint im Großen und Ganzen erst einmal vorbei zu sein. Der einsame Höhepunkt war 2009 mit James Camerons Avatar erreicht, drei Jahre später sind die Diagnosen in den einschlägigen Fachzeitschriften und Blogs überwiegend eindeutig: Zu viele 2D-Filme, die im Nachhinein und erkennbar lieblos ins 3D-Format konvertiert wurden, uninspirierte Sequenzen, in denen den Filmemachern oft nicht mehr zu der neuen Technik eingefallen ist, als Gegenstände Richtung Kamera und damit Richtung Publikum fliegen zu lassen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Bwana Devil (1952) nicht wesentlich von Final Destination 4 (2009). Die von nicht wenig Zuschauern beklagten Kopfschmerzen und Ermüdungserscheinungen kommen erschwerend hinzu, ganz abgesehen davon, dass die nach wie vor notwendigen Brillen spätestens beim dritten Kinobesuch nicht mehr als lustiges Gimmick, sondern als lästig empfunden werden.

Mit der schlechten Stimmung korrespondieren die Zahlen. Bereits kurz nach dem Erfolg von Avatar verminderte sich der anfangs recht eindrucksvolle Abstand zwischen den Einspielergebnissen von 2D- und 3D-Versionen in den US-amerikanischen Kinos zusehends. Vier exemplarische Beispiele aus demselben Jahr, chronologisch geordnet: My Bloody Valentine spielte in 3D noch etwa sechs Mal soviel ein wie die 2D-Variante. Coraline brachte es in 3D auf immerhin noch drei Mal so viele Tickets. Monsters vs. Aliens 3D schaffte noch das Doppelte, im Fall von Ice Age 3 hielten sich die jeweiligen Zuschauerzahlen dann bereits die Waage. Ein ähnlicher Vergleich ließe sich heute kaum noch anstellen, denn ein Großteil sowohl der amerikanischen als auch der deutschsprachigen Multiplexe zeigt ausschließlich die dreidimensionale Fassung eines Films – aber man kann davon ausgehen, dass die Bereitschaft, freiwillig den obligatorischen Aufschlag zu zahlen, inzwischen eher gering sein dürfte. Das Finale der Harry-Potter-Serie oder etwa Green Hornet wollten in den USA voriges Jahr jedenfalls mehr Zuschauer im herkömmlichen Format sehen. Dass viele Kinos die 2D-Version gar nicht erst ins Programm nehmen, legt nahe, dass es notwendig geworden ist, das Publikum zu seinem Glück zu zwingen.

Man ahnt, dass der Zweck der aggressiven Durchsetzung des neuen Formats nicht in erster Linie ein Dienst am Konsumenten, sondern ein ökonomisch motivierter Schachzug der Studios war. Und es hat auch keiner bislang etwas anderes behauptet, schließlich zielte die technische Innovation einmal mehr darauf, den Entwicklungen auf dem Fernseh- und Heimkino-Markt etwas entgegenzusetzen. In den Fünfzigern war es die Einführung des Fernsehens, in den Achtzigern waren es die Videotheken. Was so etwas wie eine stereoskope Allzweckwaffe der Filmindustrie im Kampf gegen Filesharing und Downloadplattformen hätte werden sollen, scheint einen ähnlichen, wenn auch nicht ganz so schnellen Verlauf zu nehmen, wie die beiden vorhergegangen Versuche, 3D als eine nur im Kino zu bestaunende Attraktion zu etablieren.

Profitgier und Polemik

In den fünfziger und achtziger Jahren dauerte der zuerst euphorisch begrüßte, am Ende dann aber sang- und klanglos verabschiedete Boom jeweils etwa drei bis vier Jahre. Zwischen 1952 und 1955 wurden in den USA etwa fünfzig Filme in 3D veröffentlicht, dann war der Spuk wieder vorbei. Knapp dreißig Jahre später begann die nächste Welle mit der italienisch-amerikanischen Koproduktion Comin‘ at Ya! Der deutsche Titel formulierte das ästhetische Konzept des Films noch genauer: Alles fliegt dir um die Ohren. Etwa drei Jahre später, 1983, fand auch diese Welle ihr Ende (ein ausführlicher Überblick über die Geschichte des 3D-Films findet sich in „ray“ 03/10; wer es ganz detailliert haben möchte, sollte zu Ray Zones Buch „Stereoscopic Cinema & the Origins of 3-D Film“ aus dem Jahr 2007 greifen).

Die Frage nach dem kommerziellen Kalkül ist die erste, die Frage nach den ästhetischen Möglichkeiten die zweite Frage, die sich stellt, wenn man über Sinn und Zweck der neuen Technik diskutiert. Begleitet wird der von vielen Filmkritikern zuerst vehement beschworene und nun heftig begrüßte Niedergang von polemischen Attacken. Der prominenteste Kontrahent ist der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert, der, unterstützt vom legendären Cutter Walter Murch, die rhetorisch schärfsten Geschütze gegen die Stereoskopie aufgefahren hat. Einige der Argumente Eberts erscheinen auf den ersten Blick recht zwingend, überzeugen aber nicht, wenn es darum geht, die ästhetischen Grenzen der neuen Technik (und damit auch ihre Potenziale) zu verstehen. In der Quintessenz läuft es bei Ebert darauf hinaus, dass 3D im Kino a) unseren Wahrnehmungskapazitäten zuwider laufe und b) vor allem gar nicht notwendig sei. Zum einen sei unser Wahrnehmungsapparat evolutionär nicht auf die neue Technik vorbereitet und könne die dreidimensionalen Bilder kognitiv nicht ohne übermäßigen Mehraufwand prozessieren. Zum anderen sei das aber auch gar nicht nötig, schließlich habe niemand die dritte Dimension im Kino je vermisst.

Dagegen lässt sich einwenden, dass die Wahrnehmungskapazitäten sich in der Geschichte des Kinos immer wieder der medialen Entwicklung haben anpassen müssen. Wäre es möglich, einem Kinogeher sagen wir des Jahres 1926 eine Kopie von Terminator 2 vorzuführen, das Ergebnis wäre intensiv gespürte Reizüberflutung. Und dass der Schnittrhythmus von MTV-Clips in den 1990-er Jahren von Menschen, die älter als vierzig Jahre alt waren, als nervtötend aufgefasst wurde, spricht nicht per se gegen schnelle Schnittfolgen. Und zum zweiten Punkt: Ein dreidimensionales Kino war tatsächlich nicht der Wunsch des Publikums, sondern, wie in Ray Zones erwähnter Studie nachzulesen, ein in rudimentärer Form bereits früh in der Filmgeschichte realisierter Wunschtraum zuerst der Erfinder der Kinematografie und später der Filmproduzenten. Das wiederum spricht nicht gegen die Technik, Ähnliches ließe sich von nahezu allen technischen Innovationen des Mediums sagen. Ohne von Profitgier befeuerten Innovationsdrang sähe die Geschichte des Kinos retrospektiv um einiges ärmer aus. Dementsprechend trifft auch der Einwand des britischen Filmkritikers Mark Kermode, 3D sei nichts Neues, sondern älter als der Tonfilm, nicht wirklich, auch wenn die Diagnose sich letztlich wahrscheinlich bewahrheiten wird: „Whatever the suits tell us, 3D is not the future. It is, was, and always will be the past“ (nachzulesen in Kermodes „The Good, The Bad & The Multiplex“, einem der unterhaltsamsten Filmbücher der jüngeren Zeit).

Stereoskopie als Missverständnis

Befürworter wie Gegner tragen also gemeinsam dazu bei, dass eine der neuen Technik adäquate Filmästhetik sich nicht entwickeln kann. Hinter der aufgeheizten Debatte um die Zukunft des Kinos und den profitorientierten Betrug am Zuschauer verschwindet die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Stereoskopie. James Cameron gestand der gestrenge Roger Ebert immerhin zu, in Avatar die dreidimensionalen Effekte intelligent und zurückhaltend eingesetzt zu haben – was impliziert, dass es verschiedene und unterschiedlich zu bewertende Möglichkeiten gibt, das neue Werkzeug zu nutzen.

Wie verhält es sich nun aber mit denen, die mit der neuen Technik arbeiten? Dass die Industrie begeistert sein würde, war nicht verwunderlich, dass Martin Scorcese und Ang Lee (der seine Verfilmung von Yann Martels „Life of Pi“ in 3D drehen wird) zu Advokaten der dreidimensionalen Bilder geworden sind, hingegen schon; Scorcese hat zuletzt verlautbaren lassen, er würde Taxi Driver und Raging Bull heute in 3D drehen. Hugo, sein als Kinderfilm vermarkteter Essay über Illusionskraft des Kinos, war die erste Großproduktion, die nicht mehr nur auf das Verblüffungspotenzial der neuen Bilder setzte, sondern die digitale Stereoskopie als eine weitere Etappe in der Geschichte der Filmtechnik auffasste und selbstreflexiv einsetzte. Hugo ist eine Hommage an das Werk des ersten großen Illusionisten des Kinos, George Méliès, zitiert einen der ersten Spektakelfilme, L‘arrivée d‘un train der Gebrüder Lumière, und verweist auf die Affinität der dreidimensionalen Bilder zum Gimmick (die Hundezunge, direkt vor der Nase des Publikums!).

Christopher Nolan wiederum hat sich erfolgreich geweigert, seinen dritten Batman-Film, The Dark Knight Rises, in 3D zu drehen und einen Punkt benannt, der auch Ebert und Kermode nicht entgangen ist. Die ganze Stereoskopie im Kino sei, sagt Nolan, ein Missverständnis: „3-D is a misnomer. Films are 3-D.“ Und er hat Recht damit. Der menschliche Wahrnehmungsapparat ist in der Lage, die zweidimensionalen Bilder eines herkömmlichen Films um eine dritte Dimension gleichsam zu ergänzen und dem Bild so die Resonanz, Haptik und Fülle zu verleihen, die den stereoskopen Bildern paradoxerweise gerade abgeht. Ein 3D-Film, so Nolan weiter, würde jedem Zuschauer einen je nach Standort perspektivisch variierenden Ausschnitt des Geschehens anbieten und dadurch als wesentlich kleiner wahrgenommen werden. Gerade in Anbetracht der (zweidimensionalen) Bilder von Nolans extrem hypnotisch wirkender filmischer Großtat Inception, die noch einmal gezeigt hat, was Immersion im Kino bedeuten kann, wirkt die angeblich realitätsnähere Räumlichkeit auch von ambitionierten Projekten wie James Camerons nachträglich konvertiertem Titanic vergleichsweise puppenstubenhaft.

Immersion versus Konstruktion

Ein Blockbuster entfaltet sein volles Wirkungspotenzial, wenn er die Zuschauer in der von ihm erschaffenen Welt aufgehen lässt, und es scheint ganz so, als sei ausgerechnet jene Sparte, die momentan noch mit aller Kraft auf die Stereoskopie setzt, nämlich der groß budgetierte Spektakelfilm, der Bereich des Kinos, dessen Wirkung von ihr eher behindert wird. Die viel beschworenen immersiven Qualitäten des dreidimensionalen Bildes sind ein leeres Versprechen, das Gegenteil ist wahr. Einige Kritiker assoziieren die Stereoskopie im Kino sogar mit einem Verfremdungseffekt im Sinne Bertolt Brechts. Der Film würde nicht mehr als eine in sich geschlossene Welt wahrgenommen, die man als Unsichtbarer aus dem Dunkeln heraus betrachten und in die man sich hineinnehmen lassen kann, sondern als ein artifizielles Konstrukt. Zwischen Zuschauer und Filmwelt entsteht Distanz, der Wirklichkeitseffekt bleibt aus.

Damit ist eine Grenze benannt, die zugleich auch ein Potenzial sein kann, dessen Logik dem momentanen Gebrauch der digitalen Stereoskopie allerdings zuwider läuft. Wenn der dreidimensionale Film artifiziell wirkt in dem Sinne, dass er den Zuschauer fortwährend an seine Artifizialität erinnert, warum dann nicht den Effekt vor allem für Erzählungen nutzbar machen, die genau diese Distanznahme verlangen? Vielleicht sind nicht die Filme Jerry Bruckheimers prädestiniert für die Stereoskopie, sondern die von Lars von Trier? Durchweg gut weggekommen bei der Kritik sind denn auch nur Produktionen, die das immersive Eintauchen in eine fiktionale Welt gar nicht benötigen, um ihre wirkungsästhetischen Potenziale zu entfalten. Wim Wenders Pina und Werner Herzogs Höhle der vergessenen Träume (der in einer denkwürdigen Sequenz die Trickästhetik der Frühzeit von 3D, namentlich Bwana Devil ironisiert) haben auch Roger Ebert gefallen – beide sind Dokumentarfilme, die den Glauben an die erzählte Welt beim Zuschauer gar nicht erzeugen müssen.

Noch ein weiterer Punkt spricht für eine andere Verwendung von 3D als die momentan gängige. Die Technik scheint wesentlich besser dort zu greifen, wo langsame und lang andauernde Einstellungen erlaubt sind. Dann kann sich tatsächlich eine Plastizität entfalten, die nicht unbedingt immersiv sein muss, sondern aus der Distanz heraus wahrgenommen und als Bewegungskino genossen werden kann. Auch Scorcese nutzt den Effekt der Dreidimensionalität in Hugo, um in langen fließenden Einstellungen üppig ausstaffierte filmische Räume zu erschaffen, in denen sich eine dezidiert künstliche Welt entfalten kann.

So verstanden aber ist 3D eben nicht mehr nur ein Effekt, noch bildet die neue Technik das zukünftige Alleinstellungsmerkmal des Kinos, das sich mehr und mehr auf technisch aufwändige Krawallästhetik kaprizieren müsste, um am Markt zu bestehen. Die Stereoskopie wäre nicht mehr als eine weitere wirkungsästhetische Ressource des Films, dem es momentan ganz gut tun würde, wenn er nicht mehr ausdauernd gegen benachbarte Medien in Frontstellung gebracht werden müsste, sondern sich organisch und in Fühlung mit seinen technischen und ästhetischen Möglichkeiten weiter entfalten könnte.