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The Amazing Spider-Man

The Amazing Spider-Man

The Amazing Spider-Man

| Oliver Stangl |

Eine positive Überraschung unter den Sommer-Blockbustern: Marc Webbs „The Amazing Spider-Man“ nimmt seinen Helden ernst und besticht durch die formidable Besetzung.

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Als vor kurzem Iron Man, Hulk, Captain America und Co. in Joss Whedons Megahit The Avengers New York vor einer außerirdisch-göttlichen Invasion retteten, fehlte mit Spider-Man der wohl populärste Held des Comicverlags Marvel. Der Grund: Die Filmrechte an der Figur liegen bei Sony Pictures – dem einzigen Unternehmen, das es bisher schaffte, die Figur ins Kino zu bringen. Die misslungenen Anläufe anderer Studios sind Legion, in den achtziger Jahren scheiterte Carolco ebenso wie Cannon, in den neunziger Jahren warfen namhafte Filmemacher wie David Fincher und James Cameron entnervt das Handtuch. Sony engagierte schließlich Horrorlegende Sam Raimi (The Evil Dead) als Regisseur und landete mit insgesamt drei Filmen einen gigantischen finanziellen Erfolg – weshalb Spider-Man im Kino wohl bis auf weiteres ein Einzelkämpfer bleiben wird. Bei Fans und Kritik waren besonders die ersten beiden Teile beliebt, Spider-Man 3 (2007) stieß wegen soapiger Elemente und zu vieler Bösewichte jedoch überwiegend auf Ablehnung.

Hauptdarsteller Tobey Maguire galt vielen als Idealbesetzung des Superhelden, ein Umstand, der sich auch daran zeigt, dass er sich bisher nicht wirklich von der Rolle freispielen konnte. Ein geplanter vierter Teil scheiterte an kreativen Differenzen zwischen Raimi und dem Studio, das sich schließlich dazu entschloss, nochmals von vorne zu beginnen. Als Sony (Besitzer des Studios Columbia) 2010 den Reboot ankündigte, waren die skeptischen Stimmen in der Mehrzahl. Zu frisch schien noch die Erinnerung an Raimis Trilogie. Marc Webbs The Amazing Spider-Man dürfte jedoch auch die Zweifler verstummen lassen, denn die neue Version, die pünktlich zum 50-Jahr-Jubiläum erscheint (Spider-Man wurde 1962 von Stan Lee und Steve Ditko erfunden), verleiht dem berühmten Netzschwinger neue Aspekte, hält sich aber gleichzeitig enger an die Comics als die Raimi-Filme.

Sticky Fingers

Die Eltern Peter Parkers (Andrew Garfield) – beide Forscher, die an einer revolutionären Formel arbeiten – verschwinden spurlos, als dieser noch ein kleiner Junge ist. So wächst Peter in der Obhut von Onkel Ben (Martin Sheen) und Tante May (Sally Field) auf. In der Schule ein schüchterner Einzelgänger mit technisch genialer Seite und  einem Hang zur Fotografie, verliebt sich Peter in seine Mitschülerin Gwen Stacy (Emma Stone), die nebenbei im Forschungsinstitut Oscorp Industries jobbt. Der Leiter der Forschungsabteilung ist Dr. Curtis Connors (Rhys Ifans), ein einarmiger Wissenschaftler, der versucht, die regenerativen Kräfte von Echsen für die Menschheit nutzbar zu machen und dessen Ziel „a world without weakness“ ist. Da Connors mit Peters Eltern zusammenarbeitete, schleicht sich Peter ins Labor, gewinnt Connors’ Vertrauen und verhilft diesem mittels einer Formel, die er in der Hinterlassenschaft seiner Eltern entdeckte, zum Durchbruch. Im Labor wird Peter von einer verstrahlten Spinne gebissen und entwickelt Superkräfte – enormes Reaktionsvermögen, die Fähigkeit, Wände hochzuklettern und große Stärke. Doch auch Connors erfährt eine Veränderung: Er testet das Regenerationsserum im Selbstversuch und mutiert nach jeder Einnahme zur gewaltigen, bedrohlichen Echse. Nachdem Onkel Ben von einem Räuber, den Peter laufen lässt, erschossen wird, schwört Peter, nicht eher zu ruhen, bis er den Täter gefasst hat – Spider-Man, der Kämpfer für das Gute, ist geboren. Doch wer Gutes tut, dem wird es nicht immer gedankt: Ausgerechnet Gwens Vater, der Polizist Captain  Stacy (Denis Leary), macht es sich zur Priorität, Spider-Man zu schnappen, da ja nicht einfach jeder, der ein selbst geschneidertes rot-blaues Kostüm trägt, einfach Selbstjustiz ausüben kann. Als ob der Lizard nicht schon Problem genug wäre …

Regisseur Webb, der bereits mit der ungewöhnlichen romantischen Komödie (500) Days of Summer ein gutes Händchen für Beziehungsgeflechte bewies, legt den Schwerpunkt auf das wechselvolle Verhältnis der Figuren untereinander, wodurch The Amazing Spider-Man beinahe schon als Ensemblefilm zu bezeichnen ist. Voraussetzung dafür ist natürlich eine gute Besetzung, und über die verfügt der Film eindeutig. Andrew Garfield (der bereits in David Finchers The Social Network glänzte) ist der ultimative Peter Parker – er verleiht dem Film ein emotionales Zentrum und macht einen glatt vergessen, dass jemals ein anderer Schauspieler die Rolle verkörperte; ihm zuzusehen, ist ein reines Vergnügen. Garfield gelingt es mühelos, alle Facetten Parkers abzudecken: das Schüchterne, beinahe Autistische ebenso wie den erwachenden Helden mit dem Herzen am rechten Fleck und das Technikgenie. Nicht zuletzt steckt in Garfield, der der schlaksigen Figur aus den Comics auch körperlich gerecht wird, ein formidabler Komiker, der Mimik und Körpersprache überaus wirkungsvoll einzusetzen weiß.

Das Drehbuch, an dem unter anderen Steve Kloves, Autor und Regisseur von The Fabulous Baker Boys (auch ein Film, der die wechselvollen Beziehungen seiner Charaktere verhandelt) mitwirkte, bietet Garfield eine Menge Gelegenheiten, das Publikum zum Lachen zu bringen. Die Szenen, in denen Peter seine Kräfte entdeckt, sind überaus komisch und slapstickartig – so besiegt er ein paar Schläger in der U-Bahn, ohne sich anzustrengen und entschuldigt sich jedes Mal, wenn er einen von ihnen zu Boden streckt. Spezielle Fähigkeiten können aber auch ein Fluch sein: Klebrige Finger sind eher ein Nachteil, wenn man nach Computerarbeit sämtliche Tasten an den Fingerkuppen hat. Dennoch überdecken die komischen Elemente den tragischen Kern der Story (die verschwundenen Eltern wurden bei Sam Raimi nur am Rande erwähnt) nicht.

Ebenfalls gut besetzt ist Emma Stone als Gwen – sie ist eine selbstbewusstere und intellektuellere Freundin als die von Kirsten Dunst gespielte Mary Jane Watson aus den Raimi-Filmen. Die Chemie zwischen ihr und Garfield stimmt, die Liebesgeschichte vermag zu überzeugen. Der Film sollte also nicht nur für Buben, die gern Superkräfte hätten, interessant sein, sondern auch ein weibliches Publikum ansprechen.

Auch die anderen Akteure können sich sehen lassen: Sheen und Field sind wunderbar als Ben und May, die als moralische Instanz fungieren und Peter mahnen, seine Kräfte verantwortungsvoll einzusetzen. Denis Leary, früher gesuchter Darsteller von Freaks aller Art, nimmt man den konservativen, strengen Polizisten ab. Dass die „Bösen“ in Hollywood gern mit Briten besetzt werden (in The Avengers gibt Tom Hiddleston Loki, in The Dark Knight Rises spielt Tom Hardy Bane) ist ein Trend, dem sich auch The Amazing Spider-Man nicht verschließt: Der Waliser Rhys Ifans als Connors ist jedoch kein Bösewicht um des Selbstzwecks willen. Er glaubt daran, dass seine Erfindung der Menschheit helfen wird. Allerdings übernimmt mit dem Lizard dann doch seine dunkle, gefährliche Seite. Schade nur, dass Ifans, ein hervorragender Schauspieler, diese Zerrissenheit nur andeuten kann; ein oder zwei Szenen mehr hätten die tragischen Seiten des Charakters sicher noch deutlicher herausgearbeitet. Dass die Bedrohung durch eine Riesenechse im weißen Wissenschaftermäntelchen im Film sanft ironisch gebrochen wird („Do I look like the mayor of Tokyo?“ herrscht Captain Stacy Peter an, als dieser ihn vor der Bedrohung warnen will) ist dagegen als großes Plus zu verzeichnen.

Ein echter Held

Wie einflussreich Christopher Nolans Batman-Filme mit ihrem quasi-realistischen Ansatz in den letzten Jahren waren, wird auch hier evident: Dieser Spider-Man fühlt sich definitiv echter an als jener aus den Vorgängerfilmen (die sich allerdings auch stärker an den Comics der sechziger Jahre orientierten und – kein Wunder bei Raimi – bewusst mit Camp spielten). Auch werden bei Webb (Könnte der Regisseur einen passenderen Namen tragen?) die genialen Seiten Parkers stärker betont: Dr. Connors ist von Peters wissenschaftlichen Fähigkeiten beeindruckt und akzeptiert ihn als gleichgestellten Mitarbeiter; wie im Comic sind auch die Netzschussapparate eine Erfindung Parkers (bei Raimi war das Netz eine Körperflüssigkeit). Peters Rolle bei der Erschaffung der Heldenidentität ist dadurch eine aktivere.

Was weiters positiv im Vergleich zur ersten Trilogie auffällt, ist, dass hier deutlich mehr echte Stunts im Spiel sind. Spider-Man erscheint dadurch nicht als unbezwingbarer Held – so viele Schrammen und Wunden, wie er hier abbekommt, wurden Spidey in der gesamten Raimi-Trilogie nicht verpasst. Außerdem spielen viele Szenen bei Nacht, was den Film düsterer, zwingender erscheinen lässt. Auch gelingen Webb und Kameramann John Schwartzman einige effektive Bilder, etwa in einer Sequenz, in der Spider-Man in der Kanalisation ein großes Netz spinnt und, in der Mitte ruhend, auf den Lizard wartet. Freilich fehlt auch bei solchen Szenen die Komik nicht: Der Held vertreibt sich die Wartezeit mit einem Handyspiel. Die Effekte – der Film wurde in Real 3D gedreht – sind vor allem in den Point-of-View-Shots aus der Perspektive des Wandkrabblers effektiv, bei Szenen mit schnelleren Schnitten dagegen verpufft die Dreidimensionalität. Insgesamt trägt der künstliche Look jedoch dazu bei, dass die Technik hier mehr ist als ein Gimmick. Die Animation des Lizard ist eine zwiespältige Sache: solide, aber nicht in jeder Szene glaubwürdig.

So erfreulich der zwischenmenschliche Ansatz des Films ist, das Finale setzt dann doch sehr stark auf CGI-Spektakel. Und beim Bio-Waffenangriff des Lizard, der die Einwohner der Stadt in Echsen verwandeln will, fehlen weder die amerikanische Flagge noch die Beschwörung des New Yorker Solidaritätsgeistes. Allerdings werden im Finale auch gute Gründe dafür geliefert, warum es vorerst kein Happy End zwischen Peter und Gwen geben kann – überzeugender als  im ersten Teil der Raimi-Trilogie. Überhaupt ist der Film durch die Story-Arcs – das Mysterium um die verschwundenen Eltern, die Jagd nach dem Mörder Ben Parkers – episch aufgebaut, und auch der nächste ikonische Bösewicht wird bereits angedeutet (es gibt eine Szene in der Mitte des Abspanns, es empfiehlt sich also, das Kino nicht sofort zu verlassen). Man darf gespannt sein, wie es mit dem Helden weitergeht – er steht jedenfalls auch ohne die Avengers seinen (Spinnen-)Mann.