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Österreichischer Film – Julian Roman Pölslers Haushofer-Verfilmung „Die Wand“

Die Jetzt-Zeit-Frau

| Alexandra Seitz |

Julian Roman Pölsler setzt seine Verfilmung von Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ als Engführung dreier gleichberechtigter Soli für Stimme, Landschaft und das Gesicht von Martina Gedeck in Szene; den Generalbass dazu spielt ein Hund namens Luchs.

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Es gibt die Frau. Den Hund. Die Katze. Den Kater. Die Kuh. Den Stier. Es gibt den Wald, die Berge und das Wetter. Das Haus, den Herd, das Feuer. Und es gibt die Wand. Und mit ihr die Einsamkeit. Die Niedergeschlagenheit. Die Bekümmernis, das Nichtverstehen. Das Nachdenken. Das Einfachsosein.

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ (Franz Kafka, „Die Verwandlung“, 1915)

Die Frau hatte gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar einen Ausflug auf dessen Jagdhütte in einem abgelegenen Gebirgstal unternommen. Am Abend dann sind die Freunde hinunter ins Dorf und die Frau hat sich schlafen gelegt. Am anderen Morgen wacht sie alleine auf. Sie macht sich auf den Weg, nach dem Paar zu suchen. Die Frau stößt gegen eine unsichtbare Wand. Gegen eine unsichtbare Wand stößt die Frau. Jenseits derer alles in einem Zustand der Starre und ewigem Stillstand wie eingefroren zu sein scheint. Die Frau stößt gegen die Wand, mit Körper und Geist, immer wieder, irritiert, trotzig, wütend, verzweifelt, sich aufbäumend gegen ein rätselhaftes Geschick. Resignierend schließlich. Dann sich einrichtend. Die Welt hat sich verwandelt über Nacht.

Die Frau, einzige Überlebende einer Katastrophe, die unerklärt bleibt, ist die Protagonistin des 1963 erschienenen Romans „Die Wand“, der als der erfolgreichste der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer gilt. Haushofer – geboren 1920 in Frauenstein, gestorben 1970 in Wien, studierte Germanistin – veröffentlichte ab Mitte der vierziger Jahre Erzählungen und Romane, schrieb Kinderbücher und Hörspiele und wurde zweimal mit dem Staatlichen Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Zeit ihres Lebens kämpfte die Zahnarztgattin und Mutter zweier Söhne um ihren Raum als Schriftstellerin. Denn Haushofers Mann ging selbstverständlich davon aus, dass seine Frau ihr „Hobby“ ihren „eigentlichen“ Aufgaben unterordnete. So klagt sie in Briefen und Selbstzeugnissen über den Mangel an Muße, ihre Überforderung als Ehe- und Hausfrau, Mutter und Mitarbeiterin, über die Müdigkeit und Erschöpfung, die ihr ein konzentriertes und kontinuierliches Arbeiten unmöglich machten. In „Die Wand“ hat Marlen Haushofer ihrer namenlos bleibenden Heldin einen Freiraum geschrieben – doch um den Preis der Einsamkeit. Trost, Ansprache, Wärme findet die Frau bei ihren Tieren. Dem Jagdhund des befreundeten Ehepaares, der bei ihr geblieben ist. Der Kuh, die sie gleich zu Beginn findet. Der Katze, die sich eines Nachts beigesellt. Doch mit ihren Gedanken bleibt die Frau allein. Durch die Wand ist sie zugleich geschützt und gefangen.

Der Roman, der wie seine Autorin in Vergessenheit geraten war, wurde zu Beginn der achtziger Jahre im Zuge einer Neuedition des Haushofer’schen Gesamtwerkes wiederentdeckt und traf erneut den Nerv der Zeit. „Die Wand“ lässt sich auf vielfältige Weisen interpretieren: als Zivilisationskritik, als Robinsonade, als Endzeitvision. Über weite Strecken funktioniert der Roman als Utopie des harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Tier in unberührter Natur. Doch am Schluss erfolgt eine bittere Abrechnung mit dem Patriarchat. So ist er letztlich vielleicht doch eher eine Dystopie, in der es keine Hoffnung auf das Gute im Menschen gibt. Und alles umschlossen von der Wand als Metapher, die die Einsamkeit des Menschen, seine Gefangenschaft im Ich symbolisiert.

Wie kommt einer auf die Idee, diesen Roman verfilmen zu wollen? Freilich, es ist verführerisch, einen zunächst nur zögerlich aufgenommenen Kampf ums Überleben in der wilden Schönheit einer Gebirgslandschaft in Bilder zu übersetzen. Zu zeigen, wie sich eine Stadtfrau in eine Bäuerin und Jägerin verwandelt, und wie die Jahreszeiten wechseln. Doch „Die Wand“ ist kein Text, der sich auf Handlung und Dialog stützt, sondern einer der tiefen Reflexion und des Selbstgesprächs. Ein Text, der das Außen über das Innen vermittelt und dabei immer wieder ins Geistige abschweift.

Haushofers Roman ist der Bericht eines Ich, das kein Du mehr hat. Zwei Jahre sind vergangen, seitdem die Frau gegen die Wand lief. An einem gemutmaßten fünften November beginnt sie in der Jagdhütte damit, ihre Geschichte aufzuschreiben: „Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. Ich bin ganz allein, und ich muss versuchen, die langen dunklen Wintermonate zu überstehen.“

Julian Roman Pölsler hat mit „Die Wand“ sein, wie er sagt, „Lebensbuch“ verfilmt. Bei der sieben Jahre währenden Entwicklung des Drehbuchs war ihm vor allem daran gelegen, „möglichst viel aus dem Roman in den Film zu übernehmen – daher auch die Off-Stimme. Ich habe mir die Maxime gesetzt, den Text nur durch Streichungen zu verändern und nichts hinzuzufügen.“

Es liegt auf der Hand, dass eine geglückte Verfilmung dieses wesentlich schweigsamen, zudem stilistisch unprätenziösen und ganz und gar unpathetischen Textes mit der Besetzung der Figur der Frau steht und fällt. Martina Gedeck erweist sich hier als Glücksgriff. Sie gibt sich der Sprache des Buches mit ebensolcher Unbedingtheit hin wie den inneren und äußeren Umständen, die mit Hilfe dieser Sprache beschrieben werden. Über die Arbeit an ihrer Figur, die sie als „Jetzt-Zeit-Frau“ bezeichnet und als „Kriegerin“, erzählt Gedeck: „Statt einen Text zu lernen, habe ich mich in den Raum der Figur begeben. Ich habe versucht, in mir den Zustand zu empfinden, den die Frau im Roman innehat. Sie schwingt zwischen unbewusst und bewusst. Vielleicht könnte man sagen, dass sie sich in einem Raum zwischen Leben und Tod bewegt, in dem sie sich mit ihren Urkräften – ihren Tieren – verbindet. Diese Stimmung und die Gedanken der Frau kann man nicht spielen, man muss sie erleben.“

Glücklicherweise muss Gedeck den Film nicht ganz alleine tragen. Ihr zur Seite steht Luchs, der bayrische Gebirgsschweißhund, Gefährte der Frau und von enormer Bedeutung für das emotionale Gefüge sowohl des Buches als auch des Films. Luchs wiederum gehört Pölsler, der ihn auch dressiert hat. Dies mag wohl auch der Grund dafür sein, dass dieser durch keine Filmschule gegangene Hund sich in Die Wand vollkommen natürlich bewegt und mit seiner Souveränität, Eleganz und zugeneigten Aufmerksamkeit zur authentischen Wirkung des Gezeigten entscheidend beiträgt.

Gedreht wurde Die Wand im Raum Losau, am Dachstein, im oberösterreichischen Salzkammergut, von Februar 2010 bis Januar 2011 in mehreren zeitlichen Blöcken. Den Verlauf der Jahreszeiten in realiter einzufangen, war entscheidend für die Glaubwürdigkeit einer Geschichte, in der die Natur eine Hauptrolle spielt. Allerdings führte der langwierige Drehplan auch dazu, dass nicht alle immer dabei sein konnten, wodurch sich beispielsweise die beeindruckend lange Liste der Kameraleute erklärt.

„Die Wand“ ist ein großer Roman, und Die Wand ist eine große,
würdige Verfilmung geworden. Sie verlangt seitens des Zuschauers die Bereitwilligkeit, sich verlangsamen zu lassen und sich zu öffnen. Sie belohnt dieses Vertrauen mit einem kostbaren und raren Reflexionsraum. Man kann diesen Film lesen wie ein Buch, ganz allein auf sich gestellt und völlig frei in der Interpretation. Man kann in aller Ruhe nachdenken, endlich.