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TV-Serien – David Simons Geniestreich „The Wire“ auf DVD

Now take a look, motherfucker ...

| Roman Scheiber |

… cos tv-serial ain’t gonna get much better than this!
The Wire von David Simon und Ed Burns, zugleich weit verzweigtes Stadtporträt Baltimores und „Great American Novel“ im 4:3-Format, ist eine der interessantesten Serien aller Zeiten. Anlässlich des Erscheinens der dritten Season auf DVD: eine dringende Empfehlung.

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Ein Toter liegt auf der Straße, erschossen, offene Augen. Etwas abseits davon unterhält sich Detective Jimmy McNulty (Dominic West) mit einem jungen Zeugen, den die Sache nicht kalt lässt. Obwohl der Ermordete, den alle Snot Boogie nannten, dafür bekannt gewesen war, beim Würfelspiel immer mit dem Geld abzuhauen, war er bislang stets mit einer Abreibung davongekommen, erzählt der Zeuge. „But why did you keep him in the game?“, fragt McNulty, „if Snot Boogie always took the money, why’d you let him play?“ – „Got to. This America, man“.

Seinen Resonanzverstärker findet der Prolog der ersten Folge von The Wire später in der charismatischen Figur des Außenseiters Omar Little (Michael Kenneth Williams), der davon lebt, Drogenhändler auszurauben. Er ist auch ein Zitat aus der Vorgänger-Serie Homicide, vor allem aber ist er eine schöne Metapher für diese ebenso weit verästelte wie tiefgründige Erzählung, für die soziologische Durchmessung der postindustriellen Metropole Baltimore, Maryland, die sich durch wenig mehr als ihre erschreckend hohe Mord- und Drogenmissbrauchsrate vom Durchschnitt amerikanischer Städte abhebt. „Bodymore, Murdaland“ steht als found graffiti-writing auf einer Hauswand im Vorspann. The Wire (HBO 2002–2008), mit Verspätung auch hier zu Lande etwas breiter bekannt, ist eine geistreiche Erzählung über eine Stadt und ihre Spieler, die sich selbst ihren Raum auf dem Spielfeld schaffen. It’s all in the game: Über das Missverständnis eines individuellen Freiheits-Ethos und welche verqueren Logiken und eigenen Gesetzlichkeiten es generiert. Oder allgemeiner ausgedrückt, in den Worten von Creator David Simon: „It’s about the other America, the America that got left behind“.

When you walk through the garden you gotta watch your back

Ihre Verwurzelung in der realen Geschichte der Stadt wird schon aus der Vorgeschichte und den Entstehungsbedingungen der Serie ersichtlich. Das vergessene Amerika, von dem David Simon spricht, er kennt es aus eigener Anschauung: Baltimore, 65 Kilometer nordwestlich von Washington, 600.000 Einwohner, Arbeitslosigkeit, Armut, Drogen. Von 1982 bis 1995 war Simon Polizeireporter der „Baltimore Sun“, 1991 legte er ein Buch vor, auf dem später auch der Kosmos von The Wire basieren sollte: „Homicide. A Year on the Killing Streets“ (seit 2011 auch auf Deutsch). Mit Hilfe des damaligen Polizisten Ed Burns und gegen den Widerstand der Belegschaft hatte Simon durchgesetzt, ein Jahr lang die Arbeit des Morddezernats der Stadt von innen verfolgen zu dürfen. Zum Bestseller wurde das Buch durch die Adaption als TV-Serie (Homicide: Life on the Street, 1993–1999). „Embedded“, ohne dabei zensuriert zu werden, war Simon später auch im Drogendezernat der Stadt. Das Ergebnis dieser Recherchen hieß „The Corner. A Year in the Life of an Inner-City Neighborhood“ (mit Ed Burns, 1997, seit heuer auf Deutsch, 2000 als HBO-Miniserie adaptiert).

Um sukzessive den Bildausschnitt zu vergrößern, vom Mikrokosmos der Straßenecke zum Makrokosmos der Stadt, ging David Simon gemeinsam mit Ed Burns und einigen der renommiertes­ten Journalisten und Belletristen Amerikas den Weg der Fiktionalisierung seiner Stadterforschung. Um nur einige Kollaborateure an The Wire zu nennen: Rafael Álvarez („The Fountain of Highlandtown“), George Pelecanos („The Big Blowdown“), und später Richard Price („The Wanderers“, „Clockers“) und Dennis Lehane („A Drink Before the War“, „Mystic River“). Das enorme Verdienst der Serienautoren ist die Entwicklung von Charakteren, anhand derer die komplexe Soziologie der Stadt unaufdringlich lebendig wird. Laut Simon setzen sich viele Figuren jeweils aus Komponenten mehrerer realer Vorbilder zusammen. Und manch ein Vorbild wurde für die Produktion zum Nachbild, die Wirklichkeit gewissermaßen impersonifiziert: Einen Teil des Figurenpersonals von The Wire stellen einstige Player des örtlichen Drogenkriegs. David Simon selbst wiederum ist längst zum Institutionen- und Gesellschaftskritiker geworden, dessen Stimme gerade durch den Erfolg von The Wire beim aufgeklärten US-Publikum Gewicht bekommen hat. Der Krieg gegen Drogen sei ein Krieg gegen die Unterschicht geworden, sagt er zum Beispiel, oder: „Pure capitalism can’t substitute for a social policy“. Seine Sympathien gehören dezidiert den Vernachlässigten und Rechtlosen, den „Überschuss-Amerikanern“, wie er sie auch nennt.

Well I beg your pardon walk the straight and narrow track

Von Season zu Season erweitert die Serie ihren Blick: auf die Straßenecken, auf den maroden Hafen, auf die Justiz, die politischen, sozialen und Medieninstitutionen der Stadt. Titelgebend und symbolmächtig dabei ist der multiperspektivische Einsatz des wiretap, der Technik des polizeilichen Abhörens – wobei sich die mühsame Übersetzungs- und Decodierungsarbeit des gesammelten Materials leitmotivisch über die Serie spannt. Sinnbildlich für die schrittweise Erweiterung des Blicks ist der für jede Season neu montierte Vorspann und die in jeder Season verschiedene Version des Tom-Waits-Titelsongs „Way down in the Hole“. Der Vorspann steht in seiner detailreichen Symbolik der kleinen Handlungen und Gesten auch für das Erzählverfahren der Serie, das Wichtiges und scheinbar Unwichtiges, Legitimes und Illegitimes, Entwicklung und Permanenz, oben und unten gleichermaßen in den Fokus nimmt. Es ist ein Verfahren, das keine vordergründige moralische Zuteilung vornimmt. Die Welt als Abfallprodukt des Folgeprodukts des Nebenprodukts. In der dritten, inklusive aufschlussreicher Audiokommentare und Interviews nunmehr auf DVD vorliegenden Season verlässt die Serie ihren dokumentaristischen Gestus und stellt ein soziales Experiment zur Diskussion: Ein Bezirkspolizeichef treibt die Straßendealer in free zones (wo sie toleriert werden), um im Rest der Stadt die Kriminalitätsrate zu dämpfen. Die daraus folgende Ghettobildung wird in allen Facetten verhandelt – Pflichtlektüre für Stadtpolitiker aller Couleurs.

If you walk with Jesus he’s gonna save your soul

Zahlreiche berufene Stellen haben in diversen Publikationen auf die unschätzbare Kulturleistung dieser Serie hingewiesen. Haben untersucht, wie der Drahtseilakt von The Wire zwischen der realistischen Darstellung bürokratischer, langatmiger Polizeiarbeit, den institutionalisierten Befehlsketten jenseits und diesseits des Gesetzes und den Vorgaben eines character driven dramas gelungen ist. Vom perfekten Casting, von grandios gezeichneten Figuren und tollen Schauspielern könnte die Rede sein, von der Totalität dieser Einbettung der sozialen Realität in eine Geschichte archaischer Tragik von Sophokles’scher Dimension, von der Ästhetik der verpassten Möglichkeiten wie bei Tschechow, von der Doppelbödigkeit der Überwachung (der Gangster durch die Polizei, beider Seiten durch das Publikum), von treffenden Seitenhieben auf den Irakkrieg, von der Soziologie des Zusammenhangs. Stellvertretend Daniel Eschkötter in seinem jüngst bei „diaphanes booklet“ zur Serie erschienenen Text: „The Wire … findet im Seriellen das Systemische auf, serialisiert das Systemische. Der systemische Zusammenhang wird überführt in Ereignisketten, bei denen mitunter deutlich markiert ist, dass sie durchaus als kausale gelesen werden sollen …“ Selten ist ein kaum durchsichtiges, komplexes System so klar in seine Wirkungsmechanismen aufgeschlüsselt worden.

McNulty „gives a fuck, when it ain’t his turn to give a fuck“, heißt es einmal, und das lässt sich optional als Anregung des Publikums lesen: Sich für etwas interessieren, was einen nicht interessieren muss. McNulty pfeift auf die chain of command, er fährt den Kollegen mit dem Arsch ins Gesicht, er betrinkt sich nachts mit Kumpel Bunk (Wendell Pierce), er hurt herum. Sich mit diesem freigeistigen Rüpel zu identifizieren, ist mitunter nicht leicht. Andererseits: Wo andere an ihre Karriere oder den Feierabend denken, bohrt McNulty auf eigene Faust nach, sucht etwa Namen und Angehörige von Toten, um die sich sonst niemand kümmert. Sein Ermittlungs-Ethos entspricht dem journalistischen Ethos der gesamten Serie. Auch wenn er irgendwann begreifen muss, dass er bei aller Fixierung auf seinen Job nicht mehr als ein Rädchen im System ist; dass das System ihn und seine Dämonen massiver beeinflusst als ihm lieb ist; dass auch seine Freiheit ihre Grenzen hat.

You gotta keep the devil way down in the hole

„Listen Carefully“ heißt der Slogan zur ersten Season. Unabdingbar ist, The Wire in der amerikanischen Originalversion anzuschauen beziehungsweise eben: anzuhören. „Listen Carefully“, das klingt didaktisch und ist auch so gemeint, doch reich belohnt und begeistert wird, wer acht gibt auf die Sprachen, die hier gesprochen werden. Wer den Jargon und die Kürzel der Polizisten, den Streetslang und die Codes der Dealer, das Mundwerk der polnischen Hafenarbeiter, das Vokabular der Politiker und Staatsanwältinnen, das Schimpfen der Bosse und der Subalternen, den Soziolekt der Lehrer, der Kinder und der Alten zu verstehen beginnt, beginnt etwas zu begreifen vom Wesen dieser Stadt im Besonderen und der amerikanischen Gesellschaft im Allgemeinen, vom Druck der Institution auf das Einzelwesen, von fragilen Kommunikationsdrähten. Man lernt über die Zusammenhänge von Rasse, Schicht, Armut, Bildung, Öffentlichkeit, Kriminalität, Ehrgeiz, Profit- und Machtstreben und den Verlust von Menschlichkeit. Das Einzigartige dabei ist, und es verteilt sich über die gesamte Laufzeit der Serie: Allen, die hier sprechen, wird das gleiche Recht auf Gehör eingeräumt. The Wire ist in diesem Sinn tatsächlich ein demokratisches Lernangebot. Wer will, kann damit auf nie da gewesene Weise seinen Horizont erweitern, im zum Entstehungszeitpunkt der Serie noch gängigen und später beibehaltenen 4:3-Format (das den Gebrauch englischer oder deutscher Untertitel erleichtert). Man könnte sogar sagen: Wer hier genau zuhört, wird ganz beiläufig selbst ein Stück demokratischer.

David Simon, Ed Burns: Homicide. Ein Jahr auf mörderischen Straßen, München 2011 / David Simon, Ed Burns: The Corner. Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt, München 2012
Verlag Antje Kunstmann