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Don Siegel – Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

| Jörg Schiffauer |

Don Siegel zeichnete für einige der herausragendsten Filme verantwortlich, die das US-Kino hervorgebracht hat. Eine Würdigung zum 100. Geburtstag  eines großen Regisseurs.

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Ruft man sich die von den Proponenten der Nouvelle Vague hervorgerufene Diskussion um die „politique des auteurs“ ins Gedächtnis, werden in Verbindung mit dem klassischen Hollywood-Kino vermutlich zunächst Namen wie John Ford, Howard Hawks, Raoul Walsh oder Alfred Hitchcock ins Spiel gebracht. Diesen Regisseuren wurde zuvorderst attestiert selbst im Rahmen des ziemlich rigiden Studiosystems, das in Hollywood vorherrschte, eine eigene unverkennbare Handschrift entwickelt zu haben. Don Siegel hatte es da trotz eines zweifellos beeindruckenden Gesamtwerks selbst bei Cineasten deutlich schwerer. Obwohl zahlreiche seiner Arbeiten große Erfolge verzeichneten, wurde Siegel über viele Jahre hinweg vor allem als exzellenter Handwerker angesehen, der jedoch in seinen Filmen keine ausgeprägten eigenen Spuren zu hinterlassen schien. Abgesehen davon, dass sich bei genauerer Betrachtung von SiegelsŒuvre eine solche Klassifizierung nur schwer aufrechterhalten lässt, repräsentiert seine Entwicklung als Filmemacher vom Studioregisseur hin zum Auteur auch sehr stark die Umbrüche, die sich in der US-amerikanischen Filmindustrie im Verlauf seiner Karriere vollzogen haben.

Klassische Anfänge

Der am 26. Oktober 1912 in Chicago geborene Donald Siegel kehrte nach einem kurzen Studienaufenthalt in England in die Vereinigten Staaten zurück, wo er 1934 zunächst einen Job im Filmarchiv von Warner Bros. fand. Siegel erlernte die Aspekte des Filmemachens auf die traditionelle Art – indem er die unterschiedlichsten Produktionsabteilungen durchlief und sein Handwerk mittels „learning on the job“ perfektionierte. So arbeitet er als leitendes Mitglied der Montage-Abteilung von Warner Bros. etwa an Michael Curtiz’ Casablanca mit. Nachdem Siegel weitere Erfahrungen als Second Unit-Regisseur sammeln konnte, gelang es ihm 1945, zwei Kurzfilme – Star in the Night und die Dokumentation Hitler Lives? – zu inszenieren, die in ihrer jeweiligen Kategorie mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Dieser Erfolg ebnete Siegel den Weg für seine erste Langfilminszenierung, The Verdict (1946). Seine ökonomische Arbeitsweise am Set – Resultat einer präzisen Planung und Vorbereitung – kam den Strukturen des Studiosystems zwar sehr entgegen, doch Ende der vierziger Jahre empfand Siegel die Einschränkungen als so erdrückend, dass er Warner Bros. verließ.

Als unabhängiger Regisseur arbeitete er die folgenden Jahre projektbezogen mit verschiedenen Studios zusammen, ohne sich jedoch fest an ein bestimmtes zu binden. Obwohl Siegel immer noch unter den fließbandartigen Produktionsbedingungen jener Ära arbeiten musste, zeigte sich schon mit dem Abschied von Warner Bros. sein Streben nach einer Position als Filmemacher mit eigenständigen Status innerhalb der Industrie. Siegels Filme standen in der Tradition des klassischen Genrekinos Hollywoods, gingen jedoch allein wegen ihrer lupenreinen Geradlinigkeit und narrativen Präzision über gängige Arbeiten hinaus. Darüber hinaus verlieh Siegels Vorliebe für die Verwendung natürlicher Lichtquellen etlichen seiner Filme ein semi-dokumentarisches Erscheinungsbild – Riot in Cell Block 11 (1954) ist ein anschauliches Beispiel hierfür –, das die Intensität und Authentizität seiner filmischen Narrationen verstärkte. Mit Invasion of the Body Snatchers (1956) gelang Siegel nicht nur ein mittlerweile zum Klassiker avancierter Film, sondern er begann damit auch seine Stellung als Auteur aufzubauen. Der Thriller um außerirdische Invasoren, die, zunächst unbemerkt, Menschen durch äußerlich identische, aber völlig emotionslose Kopien ersetzen, ist ein Meisterwerk des Genrekinos. Die geradezu fiebrige Atmosphäre, in der Angst und Misstrauen kontinuierlich ansteigen, ist nicht nur Spannungskino allererster Güte, sondern spiegelt auch kongenial die in den Vereinigten Staaten zur Zeit der McCarthy-Ära vorherrschende paranoide Stimmung wider. Siegel gelang es dabei, den politischen Subtext so geschickt zu verklausulieren – und damit den Film vor Eingriffen zu bewahren –, dass jahrelang sogar darüber diskutiert wurde, ob Invasion of the Body Snatchers nicht nur als Kritik an der McCarthy-Ära verstanden werden kann, sondern vielmehr zur Aufmerksamkeit gegenüber verborgenen Feinden (im Duktus von Senator McCarthy natürlich Kommunisten) aufrufe.

Zwar hatte Siegels Status als nicht an ein Studio gebundener Regisseur zur Folge, dass er allein aus ökonomischen Notwendigkeiten zeitweilig auch reine Auftragsarbeiten annehmen musste, doch auch hier kamen seine Qualitätskriterien auch innerhalb des Systems immer wieder zum Tragen. So lieferte etwa Elvis Presley unter Don Siegels Regie im Western Flaming Star (1960) nach allgemeinem Dafürhalten die beste schauspielerische Leistung seiner Karriere ab. Seine Fähigkeit, gängiges Genrekino mit eigener, unverwechselbarer Handschrift zu versehen, stellte Siegel mit The Killers (1964) erneut eindrucksvoll unter Beweis. In dem auf einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway basierenden Thriller sind zwei professionelle Killer so verwundert, dass eines ihrer Opfer seine Exekution völlig gleichgültig über sich ergehen lässt, dass sie versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Diese Spurensuche enthüllt eine bedrückende Vorgeschichte, der The Killers mit seiner düsteren, pessimistischen Grundstimmung ebenso Rechnung trägt wie mit dem geradezu irritierenden „unhappy ending“. The Killers markierte zudem auch den Beginn von Don Siegels produktiver Kooperation mit Universal Pictures.

Einzelgänger

Coogan’s Bluff (1968) war nicht nur den Beginn der Zusammen-arbeit mit Clint Eastwood, die insgesamt fünf Filme umfassen sollte, sondern rückte auch einen Figurentypus in den Mittelpunkt, der einen zentrales Platz in Siegels Werk einnehmen sollte. Der Polizist aus Arizona, der sich in dem ihm fremden New York auf Verbrecherjagd begeben muss, repräsentiert den typischen Don-Siegel-Protagonisten: ein Einzelgänger, der sich gesellschaftlichen Konventionen und Bindungen an soziale Gruppen verschließt und trotz klarer Grundsätze doch immer auch eine etwas ambivalente Figur bleibt. Siegels zentrale Charaktere sind spätestens mit Coogan’s Bluff so etwas wie ein eigenständiger Mikrokosmos in einer komplexen Welt, Außenseiter, die kaum Bindungen familiärer oder freundschaftlicher Natur aufweisen.

Am deutlichsten tritt dieser Typus mit der Figur des Cops Harry Callahan – kongenial von Clint Eastwood verkörpert – in Dirty Harry (1971) zutage. Die Kompromisslosigkeit, mit der Callahan dabei seiner Aufgabe, der Verbrechensbekämpfung, nachgeht, und mit der er sich dabei über Konventionen hinwegsetzt, macht ihn paradoxerweise in jener Gesellschaft, deren Schutz er sich ja zur Aufgabe gemacht hat, zum Außenseiter. In der Figur des Harry Callahan manifestiert sich aber auch eine Linie, die ebenfalls charakteristisch für Siegels Arbeiten ist und verschiedentlich durchaus auch zu Missverständnissen in der Rezeption seiner Filme geführt hat: Don Siegel verweigert anhand seiner Figuren die traditionell klare Trennung in Gut und Böse, Held oder Schurke. Aufgrund der konsequenten Vermeidung einer solchen moralischen Demarkationslinie tun sich in Siegels Filmen dann auch jene Grauzonen menschlichen Verhaltens auf, die der Realität oft unangenehm nahe kommen. Dirty Harry wurde nicht selten wegen seines vermeintlich reaktionären Weltbilds gescholten. Dabei – und darauf dürfte diese Missinterpretation beruhen – ist Harry Callahan kein Proponent einer populistischen Law-and-Order-Ideologie, sondern vielmehr ein Mann, der in einer sich ständig verändernden, immer mehr zum Opportunismus tendierenden Welt versucht, seinen Grundsätzen treu zu bleiben. Dass diese Grundsätze durchaus angreifbare Ecken haben, ist nur die konsequente Fortsetzung von Don Siegels ambivalenter Betrachtung konventioneller Moralvorstellungen.

Bereits unmittelbar vor Coogan’s Bluff hatte Siegel mit dem Krimi Madigan eindrucksvoll seine Auslotung von Grauzonen demonstriert. Die Jagd nach einem geflohenen Kriminellen in den Straßen von New York bildet nur den – wenngleich ungemein mitreißend in Szene gesetzten – Rahmen für die Widrigkeiten beruflicher und privater Natur, die die Arbeit als Polizist mit sich bringt. Anhand des einfachen Detectives Madigan (Richard Widmark) und des Commissioners Russell (Henry Fonda) enthüllt Siegel das Spannungsfeld, dem Polizisten tagtäglich ausgesetzt sind und das zunehmend zur kaum bewältigbaren psychischen Belastung wird. Mit Madigan und Dirty Harry nahm Don Siegel den Typus des Antihelden – oder auch des gebrochenen, mit Makeln behafteten „Helden“ –, der mit den siebziger Jahren breiten Raum im US-amerikanischen Kino einnehmen sollte, vorweg.

Trotz der vielschichtigen Subtexte, die in seinen Filmen zu finden sind, waren Siegels Regiearbeiten aber immer auch exzellentes, geradliniges Genrekino von allerhöchster Qualität. Schöne Spätwerke, wie der elegische Spätwestern The Shootist (1976) mit dem von seiner Krebskrankheit gezeichneten John Wayne in seiner letzten Rolle oder der im nüchternen True-Crime-Stil gehaltene Escape from Alcatraz (1979) – die letzte Zusammenarbeit mit Eastwood, der in den Credits seines Oscar-prämierten Films Unforgiven seinen großen Mentor Siegel würdigte  – sollen dafür nur stellvertretend genannt werden. Seinen Platz als einer der ganz Großen des US-amerikanischen Kinos hatte sich der am 20. April 1991 verstorbene Don Siegel längst gesichert.