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Viennale – Jörg Buttgereit kuratiert Horrorfilme

Eine Kleine Geschichte des Unheimlichen

| Benjamin Moldenhauer |

Der Berliner Filmemacher Jörg Buttgereit hat für die Viennale ein Programm mit dreizehn Filmen zusammengestellt, die von Grenzüberschreitungen und der Faszination des Monströsen
erzählen. In der Zusammenschau lässt sich wunderbar nachvollziehen, wie die im Horrorgenre herrschende Temperatur sich im Laufe seiner Geschichte geändert hat.

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Aus dem Zuschauerraum heraus lässt sich das Außergewöhnliche auf der Leinwand fasziniert betrachten, ohne dass es einem gefährlich werden könnte. Im Horrorfilm und einigen Bereichen der Science Fiction zeigt sich dieses Außergewöhnliche in der Verkleidung des Monströsen. Wer hier eine bestimmte Grenze überschreitet, scheucht zwangsläufig auf, was hinter dieser Grenze haust. Was folgt, ist meist garstig. Die Probleme, die damit einhergehen können, wenn man das angestammte Habitat verlässt und sich – mit welch guten Absichten auch immer – in Gefilde vorwagt, die nicht für einen gemacht sind, müssen die Figuren auf der Leinwand bewältigen, der Zuschauer bleibt sicher im Dunkeln. Hin und wieder aber gelingt es Filmen, diese Sicherheit vorübergehend porös werden zu lassen. Wirkt die filmische Konfrontation mit dem Monströsen allzu intensiv, fühlt man sich, als hätten die Bilder einen, wie es dann gerne heißt, getroffen – ganz so, als hätte ein wirklich physischer Kontakt stattgefunden. Solche Momente sind selten geworden im Kino, aber es gibt sie.

Der Berliner Regisseur, Hörspielmacher und „ray“-Kolumnist Jörg Buttgereit hat für die Viennale  eine „kleine Geschichte des Unheimlichen“ in Form von dreizehn exemplarischen Filmen rekonstruiert, die von der Begegnung mit dem bedrohlichen Unbekannten erzählen. Das Motto des Programms ist dem Trailer zu einem der rabiateren Vertreter des Horrorgenres entnommen: „They wanted to see something different, but something different saw them first.“ In Wes Cravens stilprägendem The Hills Have Eyes wird eine amerikanische Familie in der Wüste von einem Clan Kannibalen attackiert. Die schockhaft über die Figuren einbrechende Gewalt ist auch heute, 35 Jahre nach Entstehung des Films, passagenweise schwer zu ertragen, auch wenn der Trash-Appeal das Ganze abmildern mag (das 2006er-Remake von Alexandre Aja lässt einem diese Möglichkeit nicht mehr). In The Hills Have Eyes zeigt sich die Erzählung von der Begegnung mit dem Monströsen bereits in einer gebrochenen Form. Die Gegengewalt der nominell Guten hat hier nur noch wenig Heroisches, und am Ende ist es nicht einmal gelungen, die Liebsten zu beschützen; der Familienpatriarch stirbt als erster und wird bei lebendigem Leibe verbrannt, die Tochter vergewaltigt, die Frau getötet, das Baby entführt.

Die Auswahl der Filme bleibt allerdings nicht auf den Splatter-Kanon beschränkt; auch wer drastische Bilder lieber meidet, kann Spaß mit einigen B-Movie-Klassikern der 1950er Jahre haben. Zur Geschichte des Unheimlichen im Kino gehören auch die klassischen Erzählungen, in denen die Helden noch ohne Weiteres erkennbar waren und die Monster am Ende standesgemäß von der Bildfläche verschwinden mussten. Buttgereit lässt seine Geschichte des Unheimlichen 1951, mit dem von Howard Hawks produzierten The Thing From Another World beginnen. Was ungebeten aus dem All auf die Erde geplumpst kommt, lässt sich in diesem Fall mit Pragmatismus, Logik und Tatkraft zurück in die Schranken weisen.

Der jüngste Film des Programms ist John Carpenters Remake The Thing von 1981 (das selbst wiederum die Vorlage für eine erst voriges Jahr erschienene Neuverfilmung abgab – der im Genre virulente Wiederholungszwang hat selbst bereits etwas Unheimliches). Anders als das Original verlegt Carpenters Film das Monströse gleichsam von außen nach innen: Das Ding aus einer anderen Welt nistet sich nun in den Körpern der Menschen ein; Ridley Scotts Alien, ebenfalls im Programm enthalten, hat es vorgemacht. Am Ende von The Thing bleiben zwei Überlebende in der arktischen Kälte zurück, einer ist bereits nicht mehr er selbst.

Zwischen beiden Versionen liegen dreißig Jahre Genregeschichte. Der Schrecken, der im Horror bis spätestens Ende der 1960er typischerweise durch eine Wiederherstellung der verletzten Ordnung aufgefangen wurde, bekam – parallel zur vorübergehenden Radikalisierung des US-Kinos während der Ära des New Hollywood – paranoische Züge. Der gruselige Spaß mit den Pappmaché-Monstern transformierte sich zum Versuch, das Publikum möglichst intensiv spürbaren audiovisuellen Attacken auszusetzen. Buttgereits Auswahl enthält beides – heute wertkonservativ anmutende Filme der 1950er und 1960er Jahre und die Dokumente der kurz darauf einsetzenden Lust am Fatalismus und am Terror. „Something different“ darf ab den 1970er Jahren tatsächlich die Oberhand behalten.

Spätestens seit 1974 war der Triumph über das Böse im Kino nicht mehr die einzige Option. Tobe Hoopers in diesem Jahr erschienener Film The Texas Chainsaw Massacre mündet in einer elend langen Folterszene, die den Plotverlauf zum Stillstand bringt und nur noch darauf zielt, die Nerven des Zuschauers blank zu legen. Eine junge Frau ist an einen Stuhl aus Knochen gefesselt, vor ihr ein Tisch, auf dem die zu Würsten verarbeiteten Überreste ihrer Freunde aufgehäuft sind. Der kaum noch bewegungsfähige Großvater der Familie wird hereingetragen und bekommt einen Hammer in die Hand gedrückt. Unvermittelt rückt die Kamera das panisch weit aufgerissene Auge der Protagonistin ins extreme Close-up. Die Assoziation mit dem eigenen Auge, dem des Zuschauers, drängt sich geradezu auf. Wenn einem das Monströse zu nahe kommt – und Hoopers Film setzt alles daran, diese im Kino natürlich nur gefühlte Nähe zu intensivieren – bleibt vom souveränen Blick auf das Leinwandgeschehen nicht mehr viel übrig.

Heute eher harmlos und unbeholfen wirkenden Filmen wie The Trollenberg Terror oder Angry Red Planet derart schwer Erträgliches gegenüberzustellen, ist natürlich eine verwegene Idee. Aber es geht immer noch schlimmer. Cannibal Holocaust ist einer der berüchtigtsten Filme der Kinogeschichte – mit dem, wie Georg Seeßlen es einmal formuliert hat, das Genre sein Maß verloren hat. Das faszinierende Andere lebt hier am Amazonas und wird von einer bildergierigen Filmcrew aufgestöbert. Die Filmemacher fallen einem Kannibalenstamm zum Opfer. Die Sichtung des gefilmten Materials aber zeigt, dass es die Besucher aus der zivilisierten Welt waren, die zuerst unter den so genannten Wilden ein Massaker angerichtet hatten. Cannibal Holocaust zeigt hyperbolische Splatterszenen, semi-pornografische Sequenzen und reale Tiertötungen in einer irritierenden Found-Footage-Ästhetik und wurde nach seinem Erscheinen für ein Snuff-Movie gehalten. Die Verunsicherung des Zuschauers beginnt spätestens hier. Der von Buttgereit geschaffene Rahmen verleiht dem Film eine reflexive Ebene, die den Zuschauer auf die nicht ohne Weiteres zu beantwortende Frage zurückwirft, warum er sich solchen Bildern überhaupt aussetzt. Mit Cannibal Holocaust, einem Film, den es vielleicht besser nicht gegeben hätte, kommt die Geschichte des Unheimlichen im Kino an eine Art vorläufigen Endpunkt. Unheimlich wird einem das Publikum, das den Saal nicht verlässt.