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Literatur und Film – Anna Karenina von Joe Wright

Die ganze Welt ist Bühne

| Christina Tilmann |

Joe Wrights Neuverfilmung von „Anna Karenina“ ist visuell spektakulär – und bei aller Kostümseligkeit überzeugend modern.

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Schon ihr erster Auftritt ist choreografiert wie ein Pas de deux. Eine klassische morgendliche Ankleideszene, Reifrock-Panier, Cul de Paris, mehrere Unterröcke, Überkleid. Die Zofe tanzt um sie herum, die Kamera auch, umkreist ihr Objekt in immer schnelleren Schwüngen, Arme werden gehoben, Knöpfe geschlossen, Rüschen gelegt. Doch Madame Karenina steht bewegungslos, gedanklich abwesend, in einen Brief vertieft. Ihr Körper ist ein Ding, wie die Kleiderpuppen um sie herum. Sinnlich, verführerisch, stofflich ist diese Szene in hohem Maße. Doch der Körper schläft noch, ist noch nicht erwacht.

Wie anders die berühmte Ballszene. Auch da ein Pas de deux, ein wirbelnder Tanz der Arme, der Hände, der Kamera, ein Kreiseln bis zum Schwindel, zur Bewusstlosigkeit. Langsam, zögerlich hatte es angefangen, wie ein Kreisel, der erst noch in Schwung kommen muss, ein Austesten, noch am Bande und im Banne der Konvention. Doch in dem Maße, in dem der Tanz Schwung aufnimmt, erstarren die Mittänzer um das Paar herum, friert die Welt ein, bis auf ein heißes, pulsierendes Zentrum. Nackte Arme werden gestreichelt, Hände fliegen hin und her, ein Körper wird in den Himmel gehoben und wieder herabgesenkt, Blicke saugen sich fest ineinander, immer schnellere Atemzüge bilden den pulsierenden Grundschlag der Musik.

Über Bewegung, Rhythmus, Tanz und Choreografie öffnet sich Joe Wrights Neuverfilmung von Leo Tolstois Klassiker. Nicht nur, weil der französische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui für die Ball- und Gruppenszenen engagiert wurde und eine Armee von Statisten wie ein Ballett dirigierte. Auch die Kamera selbst (Seamus McGarvey) ist beständig in Bewegung, hetzt von Set zu Set, von Gesicht zu Gesicht. Eine hysterische, hektische Betriebsamkeit bestimmt dieses Bild einer eingefrorenen Gesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Da stempeln Büroangestellte in langen Reihen synchron wie in einer Massenchoreografie Dokumente ab, eilen Diener wie eine weiß befrackte Armee von Tablett-Trägern durch die Räume, finden sich Paare und trennen sich wieder im raschen Wechsel, im Vorübergleiten. Und die Kamera begleitet dieses Treiben mit wilden Schwenks, als tanze sie auch. Eine moderne Musikfilm-Ästhetik im Setting der Grand opéra.

Keira Karenina

„What’s the point of doing a safe adaptation“, hat Keira Knightley geseufzt, angesichts der einschüchternden Reihe von Vorgängerinnen, von Greta Garbo über Vivian Leigh und Tatjana Samoilowa bis zu Sophie Marceau. Die Vorbilder waren groß, die Herausforderung auch. Denn bei aller Starbesetzung, aller Eleganz in Kostüm und Ausstattung und bei aller Ehrfurcht vor der literarischen Vorlage: So recht befriedigend war keine der früheren „Anna Karenina“-Verfilmungen, weder Garbos statuarisch-elegische und ziemlich somnambule Interpretation von 1935, in der nie richtig der Funke überzuspringen scheint zwischen Frederic March und ihr, noch Vivien Leighs schnippisch-arrogante Anna von 1948, die auftritt wie eine zweite Scarlett O’Hara, noch Sophie Marceaus blass-melancholisch Leidende von 1997, die an der Opiumflasche hängt wie eine Süchtige an der Nadel. Immer scheint die Lust am eleganten Interieur, die Pracht der Kostüme, die Massenszenen von Bahnhof, Ballsaal und Pferderennbahn dominanter als das eigentliche, zentrale Liebesdrama.

Auch für Joe Wright, der sein Gespür für Setting und Kolorit, seine Sensibilität im Umgang mit der Vorlage schon in Verfilmungen wie Pride & Prejudice (Stolz und Vorurteil, 2005) und Atonement (Abbitte, 2007) bewiesen hatte, wäre nichts naheliegender gewesen als ein opulentes Kostümdrama, an historischen Orten in St. Petersburg und Moskau, mit grandiosen Kulissen und russischen Schneelandschaften, wie es etwa Martha Fiennes mit ihrer „Onegin“-Verfilmung von 1999 oder Robert Dornhelm mit seiner vierteiligen TV-Fassung von Tolstois „Krieg und Frieden“ von 2008 vorgelegt haben. Zumal Wright ein von Tom Stoppard geschickt und effektvoll auf die Hauptstränge zurückgeschnittenes Drehbuch geliefert bekam, das die Liebes-, Freundschafts- und Familienbeziehungen in den Vordergrund rückt und alles überzählige Personal vermeidet.

Bildgewaltig ist denn auch diese Anna Karenina, allerdings auf eine spektakulär neuartige Weise. Der Film spielt fast vollständig in einem verlassenen Theater, vor, hinter und über der Bühne. All the world’s a stage, und alle Darsteller spielen erkennbar Rollen, wie auch die russische Gesellschaft im 19. Jahrhundert, halb provinziell, halb mondän, aus Rollenspielern bestand, nach dem Drehbuch der Konvention und dem Diktat der französischen Mode. Und wie Joe Wright dieses Gesellschaftstheater zum Leben, zum Schweben bringt, das ist die eigentliche Sensation des Films. Da heben sich Vorhänge und senken sich Kronleuchter, schlagen Kulissentüren auf und zu, drängen sich Gruppen durch die Bühnenmaschinerie auf der Hinterbühne, und mit einem Türöffnen ist man von Oblonskijs Dinnertafel über eine abendliche Straßenszene im kühl-dunklen Haus der Karenins gelandet. Mit einer Leichtigkeit, wie sie nur dem Theater gegeben ist, werden Illusionen gezaubert, wenn die Spielzeugeisenbahn des kleinen Serjoscha sich in eine reale Eisenbahn verwandelt, die Anna durch verschneite Landschaften trägt, oder wenn die blonde Kitty wie ein Putto-Engel in einer Wolkenkulisse auf den Heiratsantrag ihres Verehrers Lewin wartet. Wenn das Theaterrund wie mit einem magischen Trick plötzlich Raum bietet für eine ganze Eisbahn oder eine Pferderennbahn. Und der Vorhang sich dann, unter Missachtung aller Wahrscheinlichkeiten, hebt für reale verschneite oder sommerlich-leuchtende Landschaften.

Die Vermutung liegt nahe, dass das Theater-Setting auf Rechnung Stoppards geht, der mit Shakespeare in Love (1998) das historische Globe-Theater ingeniös zum Leben wiedererweckt hat. Doch die Idee kam von Joe Wright – mit durchaus historischer Begründung. Die Sehnsucht der russischen Vorrevolutionsgesellschaft nach französischer Eleganz und Lebensart habe zu einem höchst theatralischen Rollenspiel geführt, erklärt der Regisseur als Rechtfertigung für sein Kulissentheater – und gibt gleichzeitig das Marionettentheater seiner Eltern als Hauptinspirationsquelle an. Die Staffage hat dabei bewusst oft etwas von Grand Guignol, vor allem, wenn Anna Kareninas leichtfertiger Bruder Oblonskij (Matthew Macfadyen, Mr. Darcy aus Pride & Prejudice) auftritt, mit dem verführerischen Grinsen eines Conferenciers. Da wähnt man sich in einer Moulin-Rouge-Welt, wie Baz Luhrmann sie 2001 evozierte, in schäbiger Künstlichkeit, die die Verführung zum Geschäft gemacht hat. Es hat aber auch etwas von großer Oper, vor allem durch die rauschhaft aufspielende Musik von Dario Marianelli, die den Herzschlag für die großen Gefühle liefert. Auftritte über die Logen oder Kulissen werden inszeniert wie Arien.

Veritables Ehedrama

Wie in Pride & Prejudice und Atonement ist Keira Knightley die ideale Projektionsfigur. Eine spektakulär-zarte Erscheinung in Taft und Pelz, mit hauchfeinen Stickschleiern auf den Wangen und extravagant geschnittenen Dekolletés, auf denen teure Perlen leuchten. Raffiniert spiegeln die Kostüme (Jacqueline Durran war inspiriert von Fin de Siècle, Balenciaga und Dior) Annas Entwicklung, die gedeckte dunkel-violette Eleganz der braven Ehefrau, das verführerische Rot der Verführten, das Sommerhelle der frisch entdeckten Liebe. Und wie zwischen Reifrock und Morgengewand die verschiedenen Stadien psychischen Gebundenseins ihren Ausdruck finden. Und doch ist Knightley ebenso in der Lage, mit einem schrägen Blick, dem grübchenbewehrten Lächeln sehr modernes Leben in diese historische Kostümeleganz zu bringen, glaubhaft das Erwachen der Liebe zu zeigen, mit allem dazugehörigen Egoismus – ganz ähnlich wie ihre Darstellung der Georgiana von Devonshire in Saul Dibbs unterschätztem Kostümfilm Die Herzogin. Historisch im literaturtreuen Sinn ist diese Anna Karenina nicht. Zu heutig, zu lebendig ist Keira Knightleys Performance als Frau, die die unwiderstehliche Macht der Liebe entdeckt.

Dabei war Tolstois Roman keineswegs nur als Romanze, sondern auch als Großstadt-Kritik mit utopischem Gegenmodell gedacht. Michael Hoffmans Ein russischer Sommer zeigte diese Seite des Schriftstellers als zivilisationskritischen Aussteiger zuletzt wunderbar. Aber nicht dem Landmann Lewin (Domhnall Gleeson) und seiner Liebe zur leichtherzigen Kitty (die schwedische Tänzerin und Schauspielerin Alicia Vikander) gilt das besondere Interesse des Drehbuchs – anders als noch in Bernard Roses Version von 1997, die die Geschichte ganz aus Lewins Sicht erzählte. Stattdessen lässt es dem in allen bisherigen Verfilmungen als knöchern, konventionell und autoritär geschilderten Karenin Gerechtigkeit widerfahren: Der verlassene Ehemann, der seine Liebe nie zeigen kann und seine gesellschaftliche Rolle über sein privates Glück stellt, wächst in Jude Laws Darstellung zur eigentlichen Hauptfigur, der auch das hoffnungsvolle Schlussbild gehört. Der Kampf, den Anna und er mit aller Rücksicht, viel Verständnis und wissender Verzweiflung ausfechten, macht aus dieser Anna Karenina eher ein veritables Ehedrama als eine große Liebesromanze. Zumal der blond-hübsche Aaron Taylor-Johnson als Wronskij zwar Arroganz wie Verliebtheit glaubwürdig verkörpert, gegenüber den anderen Protagonisten aber doch eher ein Leichtgewicht bleibt.

Wenn Keira Knightley schließlich im strahlend weißen Gewand erstarrt in der Opernloge sitzt, ausgeliefert einer tuschelnden, zischenden Gesellschaft, gleicht sie der Marquise der Merteuil in Stephen Frears’ Gefährliche Liebschaften. Und reiht sich ein in die lange Reihe gegen die Konvention rebellierender Frauen von Emma Bovary über Lea de Lonval und Effi Briest bis Lady Chatterley, die die Literatur so liebt und das Kino so gerne immer wieder feiert. Weil am Ende mit den Kostümen alle Masken abgelegt werden und auf der Bühne des Lebens ein Mensch erscheint. Bevor der letzte Vorhang fällt.