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Berlinale

Ein Hauch von Weimar

| Jörg Becker |
Die Retrospektive der 63. Filmfestspiele Berlin legt nahe, Filmgeschichte grenzübergreifend zu kartografieren.

Wie weit reichten die Einflüsse der Filme der ersten deutschen, der Weimarer Republik auf das internationale Kino, nachdem die Nazis an die Macht gewählt waren und sich im Handumdrehen „ermächtigen“ konnten, alle nicht-arischen, systemkritischen, politisch missliebigen oder als entartet stigmatisierten Filmschaffenden vom Zugang zu ihren Fachorganisationen auszusperren und sie dadurch mit Berufsverbot zu belegen – wie weit reichen sie noch, quasi bildgenetisch nachvollziehbar, und durchziehen als ästhetischer Unterstrom die Filmgeschichte? Die Reihe anlässlich der diesjährigen Berlinale-Retrospektive will die These anschaulich belegen, dass sich der „Weimar Touch“ den Kinematografien der anderen Länder, in denen deutsche Filmemigranten Zuflucht fanden, tendenziell anzuverwandeln vermochte.

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Die Nazi-Kulturpolitik hatte eine hochproduktive, experimentierfreudige Phase im Nu beendet. Vor Arbeitslosigkeit, Verfolgung und Entrechtung flohen über zweitausend Filmschaffende ins Ausland. Ein kunstvoll beschwingtes Unterhaltungskino, das in Deutschland seit dem Aufkommen des Tonfilms mit dem Genre Tonfilmoperette verbunden wurde, mit ironischen Gesellschaftsfilmen im Design modernster Ausstattung, sollte sich im Reich nur noch in wenigen Beispielen fortsetzen – Einmal eine große Dame sein (1934) von Gerhard Lamprecht (aus dessen Privatsammlung sich die Berliner Stiftung deutsche Kinemathek 1963 begründete) wird hier gezeigt: Als das „Tippmädel“ (Käthe von Nagy) aus dem Mercedes-Autosalon der Tochter eines „Baumwollkönigs“ ein unerhört luxuriöses Cabrio verkauft (40.000 Mark) und dafür eine Provision erhält wie einen kleinen Lottogewinn, ist sie, nur allzu verständlich, zur Hochstapelei verführt, bekommt aber, nachdem der Schwindel aufgeflogen ist, dennoch ihren Baron und Schlosserben – ein durchweg eskapistischer Aufstiegstraum, für den Erich Pommers Ufa-Komödien Pate gestanden hatten, in denen ausgiebig mit Gesangseinlagen „fabelhafte“ gute Laune verbreitet wird. Mit etwas Phantasie ist hier auch etwas von den Lubitsch-Grotesken der Weimarer Anfangsjahre auszumachen. Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang die Travestiekomödie Viktor und Viktoria (1933, Regie: Reinhold Schünzel), das eigentliche Vorbild für Sidney Pollacks Tootsie (1982, mit Dustin Hoffman), schließlich auch Glückskinder (1936, Regie: Paul Martin), jener Film, mit dessen Erwähnung in Inglourious Basterds (2010) der Scharfschütze Zoller einmal mehr das Wohlwollen von Joseph Goebbels evoziert. „Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn …“ – auch diesen Film kannte Quentin Tarantino. Offenbar war mit Glückskinder im Olympia-Jahr 1936 diese von Frank Capras It Happened One Night (1934, mit Clark Gable) inspirierte unverhohlene Liebeserklärung an die Vereinigten Staaten möglich; beide Filme handeln von einem Reporter und einer entflohenen Millionärstochter. Der Vorspann erscheint über Aufnahmen von Wolkenkratzern, New York zeigt sich aus beeindruckender Untersicht. Und der Film-Kurier vom 19. September1936 triumphierte. „Bravo! Was die Amerikaner können, können wir auch!“

Das Kapitel Exilfilm

Ende März 1933 in der so genannten „Kaiserhof-Rede“ vor Vertretern der Filmbranche sprach der neu eingesetzte Propagandaminister über die „völkischen Konturen“ des künftigen Kinos im Nationalsozialismus, unter dem für jüdische und ausländische Künstler kein Platz mehr sei. Es beginnt das Kapitel Exilfilm. Der Verlust talentiertester Filmleute schlug unmittelbar und verheerend durch auf die Qualität des deutschen Kinos der „zurückgebliebenen“ Nachrücker. War die historische politische Aufgabe des deutschen Faschismus eine nachhaltige Niederschlagung der deutschen Arbeiterbewegung, so war ihre ästhetische in Sachen Laufbild eine weitgehende Einebnung jeglichen Formats und Anspruchs im Verbund mit der Tilgung jedes halbwegs seriösen, anständigen Begriffs von Realismus.

Für manche Filmschaffende bot sich die Chance, die Weimar-Traditionen zunächst in Europa fortzusetzen. Hermann Kosterlitz etwa – der später unter dem Namen Henry Koster in den USA arbeitet und als der Regisseur in die Filmgeschichte einging, der mit The Robe (1953) den ersten Cinemascope-Spielfilm inszenierte – realisierte 1934 in Budapest die Filmkomödie Peter, zu sehen im Programmkapitel „Rhythm and Laughter“, in der Titelrolle Francisca Gaál in einer „Hosenrolle“: Die Maskerade ist purer ökonomischer Not geschuldet (man denke an die Travestiekomödie Some Like It Hot des Emigranten Billy Wilder), mit diesem Attribut der List hat sich auch das Genre der „Depressionskomödie“ ins Exil hinübergerettet, eine Lustspielform, die zugleich ins Fach der Genderkomödie übergeht, wie es Viktor und Viktoria prototypisch repräsentierte. Im selben Kapitel der Reihe läuft auch Max Reinhardts und William Dieterles A Midsummer Night’s Dream (1934/35), ein Film nach Shakespeare mit der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die märchenhafte Inszenierung der Elfen und Trolle in einer Zaubernatur, gleichsam auf großer Bühne für die Kamera inszeniertes Theater, das Zugang in die Hollywood-Studios gefunden hatte, lässt eine Ahnung jener Bildschöpfungen entstehen, wie sie in Friedrich Wilhelm Murnaus Faust (1926) oder Fritz Langs Nibelungen (1922/24) enthalten sind. Die Regie-Emigranten Fritz Lang und Robert Siodmak waren zunächst in Frankreich tätig, Kurt Gerron und Ludwig Berger konnten in den Niederlanden drehen. Doch spätestens nach dem deutschen Überfall auf Polen wurden die Vereinigten Staaten der einzig sichere Zufluchtsort. Bedingung der kontingentierten Immigration waren Bürgschaften, die Filmagenten wie Paul Kohner ausstellten, wenn sie von Hollywood aus Ansprechpartner wurden und Verträge vermitteln konnten. Paul Kohners für die Filmexilforschung zentrale Nachlasssammlung ist im Archiv der Deutschen Kinemathek erfasst und zugänglich.

Die Filmreihe „The Weimar Touch“ mit rund 30 Titeln geht weit über den sogenannten Exilfilm hinaus, offenbar zielt sie auf die Veranschaulichung eines ikonografischen Erbes, auf die Bewusstmachung ästhetisch-stilistischer Herkünfte und atmosphärisch-motivischer Einflüsse, die unverkennbar im Weimarer Kino verankert seien. Neben der Wiederentdeckung einer wenig bekannten Seite, auf der „The Weimar Touch“ fortlebte – angesichts der in der Retrospektive gezeigten Remakes Weimarer Ikonen: Le Golem (F/Tschechoslowakei 1936, Regie: Julien Duvivier), First a Girl (1934, Regie: Victor Saville, das britische Remake von Viktor und Viktoria, 1933) sowie M (US 1951, Regie: Joseph Losey; Produzent: Seymour Nebenzal, der bereits das Original produziert hatte) –, läuft ein Klassiker wie Casablanca (1942, Regie: Michael Curtiz), aus dem einfachen Grund, weil Emigration sein zentrales Thema ist und der Film dieses bestens „am eigenen Leibe“ repräsentiert, indem er überwiegend mit europäischen Schauspielern besetzt ist. Schließlich zählt er auch zu den bekanntesten Filmexemplaren jener Auswahl expliziter Anti-Nazi-Filme, die unter dem Titel „Know Your Enemy“ gezeigt werden.

Einflüsse und Kontinuitäten

Am Beispiel eines Films wie How Green Was My Valley (1940), von John Ford für Twentieth Century Fox realisiert, lässt sich der bildkünstlerische Einfluss des Regisseurs F.W. Murnau deutlich erkennen, der 1926 bis 1929 bei der Fox unter Vertrag stand. Murnaus spezielle Technik einer weichen Lichtsetzung, nachvollziehbar am bedeutenden Beispiel Sunrise – A Song of Two Humans (1928), ist deutlich als Einfluss auf Fords Film vom Leben in einem walisischen Minenort erkennbar.

Eine Kontinuität auf einer anderen Ebene lässt sich in Billy Wilders Komödienklassiker Some Like It Hot (1959) feststellen, dessen Figurenzeichnung stark in der Tradition der Weimarer Tonfilmkomödien angesiedelt ist. Mit Max Ophüls’ im niederländischen Exil gedrehter Komedie om Geld (1936) steht in derselben Programmreihe, „Rhythm and Laughter“, eine Wiederentdeckung angesichts einer jüngst restaurierten Kopie bevor. Dass der US-amerikanische Thriller zur Zeit der hochkarätigen Phase des Film noir in hohem Maße von Regisseuren und Autoren geprägt war, die aus Deutschland emigrieren mussten, ist kein Geheimnis. Das Kapitel „Unheimlich – The Dark Side“ verzeichnet zu diesem Aspekt neben Fritz Langs Fury (1936) und Jacques Tourneurs Out of The Past (1947), mit seinen für Tourneur charakteristisch vollendeten Helldunkel und grafischen Untersichten, auch den späten Höhepunkt der Schwarzen Serie, Orson Welles’ Touch of Evil (1958) als Ausläufer einer Ästhetik, deren Wurzeln im expressionistisch Unheimlichen der frühesten Weimarer Zeit, im weitesten Sinne „Caligaresken“, liegen. Deren Clair-Obscur zeigt oft einen moralischen, auch psychogenen Schattenwurf, sichtbar etwa am Beispiel einer Entdeckung wie The Chase (1946; Regie Arthur Ripley) mit Peter Lorre, ein Film von radikaler Eindunkelung. Anscheinend brachten gerade die deutschsprachigen Emigranten gleichermaßen metaphorisch wie buchstäblich eine Optik mit, die das Bild der US-Gesellschaft veränderte, deren Verhältnisse in ein ambivalentes Licht setzte.

F.W. Murnau kann als der Regisseur malerischer Lichtsetzung gelten; der Kampf zwischen Licht und Schatten sei das Thema seines Faust-Films (1926) gewesen, so hat es Eric Rohmer nachgewiesen. Zu diesem Kapitel der Retrospektive, „Light And Shadow“, gehören auch Max Ophüls’ zweite Hollywood-Produktion Letter from an Unknown Woman (1948), in der melancholischen Atmosphäre dunkler Treppenhäuser und Gassen einer verlorenen Zeit in einem Studio-Wien der Jahrhundertwende gehalten, der Film Mollenard/Capitaine Corsaire von Robert Siodmak (F 1937), für den ein so bedeutender Weimar-Exponent wie Eugen Schüfftan („Was man später Poetischen Realismus nennen sollte, ist fast ganz eine Schöpfung Schüfftans“, so hat Thomas Brandlmeier diesen Kameramann eingeschätzt, der „sogar Transmissionsriemen deutscher Kinotraditionen in den Vorfrühling der Nouvelle Vague“ sei) mit dem Filmarchitekten Alexandre Trauner kooperierte, und die Entdeckung The Small Dark Room von Powell/Pressburger (GB 1949), für die der Maler Hein Heckroth als Set Designer tätig war, ein Film, der für die alkoholisiert-psychotischen Zustände seines gebrochenen Helden, eines kriegsversehrten Wissenschaftlers (Walter Pidgeon) mitunter düstere, perzeptiv verzerrte, fast wahnhaft surreale Bildkompositionen gefunden hat.

Know Your Enemy

Die Programmschiene „Variations“ zeigt neben den oben genannten Remakes einen Film wie Car of Dreams (GB 1935;
Regie: Graham Cutts), entstanden unter Beteiligung der Emigranten Mutz Greenbaum an der Kamera und dem Filmarchitekten Alfred Junge, – ein Stoff, ganz im Stil der Weimarer Filmoperette, in dem Ladenmädchenträume mit ironischem Witz zielgenau in Erfüllung gehen: das „Mädel“ (Grete Mosheim), das sich gern völlig arg- und neidlos Attribute der wohlhabenden Kreise aus der Nähe anschaut, wird vom Sprössling eines Musikinstrumentenfabrikanten erwählt, weil sie von seinem Reichtum nicht einmal etwas ahnt und von Geldinteresse ungetrübte Neigung im Spiel scheint. Der musikalische Witz (Arrangements von Mischa Spolianski) liegt nahe, auch das obligate Buffo-Paar, auf dessen Kosten gelacht werden darf. Zudem in bester Weimarer Chargenspieler-Manier eingesetzt findet sich als Vater des Mädels ein weiterer Emigrant, Paul Graetz.

In der Reihe „Know Your Enemy“ läuft ein Film Ludwig Bergers, Ergens in Nederland (NL 1940), der die Gefahr einer Okkupation durch die deutsche Wehrmacht zum Thema hat, die noch im selben Jahr Wirklichkeit wurde. In den traditionellen Anti-Nazi-Filmen, deren bedeutende Zeit erst nach der deutschen Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941 begann, spielten jüdische Emigranten Nazis oder mussten Offiziersuniformen anziehen und sich auf die harten Konsonanten und das rollende R konzentrieren. Hangmen Also Die (1943), Produkt einer durchaus komplizierten Kooperation von Fritz Lang und Bertolt Brecht, die vom gelungenen Attentat auf den SS-Gruppenchef Heydrich in Prag handelt, greift in Konstellationen des einzelnen Verfolgten und der verschworenen Massen Motive aus Fritz Langs deutschen Filmen – M bzw. das Spinnennetz der „Mabuse“-Organisation – wieder auf; der Film bildet neben Ernst Lubitschs To Be or Not to Be (1941) und Casablanca (1942) den Klassiker-Anteil der Programmschiene. Confessions of a Nazi Spy (1939; Regie Anatole Litvak), erster offen antifaschistischer Film in den USA, sticht heraus, indem er eine frühe Vorstellung deutscher Nazi-Netzwerke in Amerika gibt, bis E.G. Robinson in der Rolle des erfahrenen FBI-Mannes den deutschstämmigen Agenten, gespielt von dem Emigranten Franz (Francis) Lederer, mit psychologischer Raffinesse überführt und zum Kronzeugen macht. Überdies in der Reihe: Hitler’s Madmen von Douglas Sirk, ehemals Detlef Sierck (1943).

Das US-Debüt des Kameramanns Eugen Schüfftan fand nur inoffiziell statt, da der Emigrant aufgrund strenger Gewerkschaftsauflagen wenn nicht „uncredited“, so allenfalls beratend bzw. als technischer Supervisor genannt werden durfte, wenngleich er faktisch die Kamera führte. Auch für Sirk war es der erste US-Film, von einer Gruppe deutscher Emigranten initiiert, der nach Beendigung von MGM gekauft wurde, die ein paar Nachdrehs verlangte. Die Story erzählte ein aktuelles Ereignis: das erfolgreiche Attentat auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich (gespielt von John Carradine als sadistische Herrenmenschen-Bestie, hervorragend in der Maske: die Heydrich-Nase) am 10. Juni 1942 in der Tschechoslowakei und das darauf folgende Massaker durch die SS in dem Ort Lidice. Angesichts dieses grauenhaften, barbarischen Racheakts, der bei den Dreharbeiten zu Hitler’s Madmen noch kein Jahr zurücklag, mutet es geradezu bizarr an, wie melodramatisch und mit welch musikalischem Bombast das Publikum berührt, ergriffen werden sollte. Das Vertrauen auf die emotionale Wirkung, wenn nicht gar politische Bewusstwerdung gegenüber einer unfassbaren Bestialität wie jener, von der dieser Film erzählt, war anscheinend längst verloren. Die Wirkungsästhetik der Filmindustrie hatte sich, als Konsequenz ihrer gefühlskonditionierenden Techniken, auf unheimliche Weise verselbstständigt.

Die wenigsten Filme der Reihe „The Weimar Touch“ sind Teil einer „deutschen Filmgeschichte“, aber vielleicht ist es an der Zeit, die Geschichte der Filme verändert zu denken – sie grenzübergreifend zu kartografieren, in ganz anders verlaufenden Genealogien zu begreifen.

Die Kunst der Filmfotografie

In außergewöhnlicher Druckqualität gibt der gewichtige Band „Licht und Schatten“ einen Überblick auf das Beste, was die Fotografischen Sammlungen der Deutschen Kinemathek Berlin zu bieten haben. Deren ehemaliger Direktor hat eine Auswahl an Standfotos getroffen, aus einem „Goldenen Zeitalter“ des deutschen Films, von der „Spitze des Eisbergs“ des Kinos der Weimarer Republik, dessen Ikonografie tief in die visuellen Künste ausgestrahlt hat. Überwiegend ungezeichnete, neben den eigentlichen Dreharbeiten entstandene Aufnahmen erreichen nun
Museumsrang. Zwischen dem Tag der Carmen-Uraufführung (Regie: Ernst Lubitsch) im Dezember 1918, als in Berlin der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte tagte, auf den Straßen des Zeitungsviertels Bürgerkrieg herrschte, dessen Schießereien die Filmmusik des Kostümdramas übertönte, und der Berliner Premiere von Liebelei – „der schönste Film aus 100 Jahren Kino“ schrieb Ilse Aichinger – am 16. März 1933 (als dessen Regisseur Max Ophüls bereits nach Paris emigriert war) sind hier an 72 Filmbeispielen – von Kostüm- und Straßenfilmen, Kammerspiel- und Bergfilmen, expressionistischem Design und Neuer Sachlichkeit – Zeugnisse einer prosperierenden Kunst versammelt, deren visionäre Stärke, ästhetisch-stilistische Besonderheiten, spezifische Motivik und Figurenzeichnung vor Augen geführt werden.