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Lincoln Film

Lincoln

Mechanismen der Macht

| Jörg Schiffauer |

Mit „Lincoln“ zeichnet Steven Spielberg das Porträt eines großen Staatsmannes als politisches Lehrstück allererster Güte.

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Es herrscht so etwas wie Eiszeit im US-amerikanischen Kongress. Besonders im Repräsentantenhaus hinterlassen die Auffassungsunterschiede in einer entscheidenden Frage einen tiefen Riss zwischen den Abgeordneten der beiden großen Parteien, was sich im rauen, oft gehässigen Ton der politischen Debatten handfest widerspiegelt. Doch der Präsident braucht zumindest einige Stimmen aus dem gegnerischen Lager, um eines seiner großen Vorhaben bei der Abstimmung durchzubringen. Ein beinahe aussichtsloses Unterfangen, hatten er und seine engsten Mitarbeiter doch schon alle Hände voll zu tun, um die Vertreter aus dem eigenen Lager geschlossen auf Linie zu bringen. Und so entwickelt sich ein zähes Ringen mit teilweise sehr fragwürdigen Mitteln, um doch ein paar politische Gegner umzudrehen.

Wer jetzt angesichts aktueller Bezüge nicht zu Unrecht vermuten würde, dass es sich hierbei um eine Skizzierung des Zustands der gegenwärtigen innenpolitischen Situation der Vereinigten Staaten handelt, liegt dennoch falsch. Denn dieses Szenario beschreibt die Ausgangslage von Steven Spielbergs Biopic über einen der größten Präsidenten der USA, bei der angesprochenen Streitfrage handelt es sich nicht um Angelegenheiten wie eine Krankenversicherung für alle Bürger oder Steuererhöhungen, sondern – wir schreiben nämlich das Jahr 1865 – um den 13. Zusatzartikel zur Verfassung, mit dessen Hilfe die Abschaffung der Sklaverei festgeschrieben werden soll. Kurioserweise mit parteipolitisch im Vergleich zur Gegenwart vertauschten Rollen: Abraham Lincoln war ja Vertreter der Republikaner, seine politischen Widersacher, die sich mit unfassbarer Sturheit einer vernünftigen Veränderung entgegenstellen, sind die Mitglieder der Demokratischen Partei.

Prinzipientreue und Pragmatismus

Große Erwartungen waren Spielbergs biografischer Annäherung an Abraham Lincoln – die auf dem Buch „Team of Rivals: The Political Genius of Abraham Lincoln“ der Historikerin und Gewinnerin des Pulitzerpreises Doris Kearns Goodwin basiert – vorausgegangen. Gemeinsam mit seinem Drehbuchautor Tony Kushner hat sich Steven Spielberg für einen auf den ersten Blick recht ungewöhnlichen dramaturgischen Ansatz entschieden. Anstatt einen konventionellen Querschnitt von Lincolns Lebensweg samt diversen biografischen Höhepunkten zu liefern, konzentriert sich der Film fast ausschließlich auf jene wenigen Wochen im Jänner 1865, in denen sich der Präsident um die Durchsetzung des 13. Zusatzartikels bemühen musste – eine Fokussierung, die sich gleich in mehrfacher Hinsicht als ungemein kluge und effektive Entscheidung erweist.

Mit der Konzentration auf diese Schnittstelle von Abraham Lincolns Biografie entgeht der Film einmal der Gefahr, zur puren Hagiografie zu werden. Denn Lincoln zeigt den Präsidenten zunächst als Politiker, der im Bemühen um die Balance zwischen persönlichen Überzeugungen wie der Abschaffung der Sklaverei und pragmatisch dringend notwendigen Anforderungen wie der möglichst raschen Beendigung des Bürgerkriegs, immer wieder taktieren muss. Die Mittel, die er dazu einsetzt entsprechen dabei oft keineswegs jenen moralischen Standards, die man an einen so hochrangigen Politiker anlegen möchte. Denn um die notwendigen Stimmen aus dem oppositionellen Lager zu gewinnen, müssen Lincoln und seine engsten Mitarbeiter Methoden anwenden, die nicht nur nach heutigen Maßstäben teilweise schon ein Fall für das Strafrecht wären. Von moralischem Druck über die Vergabe lukrativer Ämter und Posten bis hin zu kaum verklausulierter Erpressung ist den Männern des Präsidenten beinahe jedes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele recht. Selbst ein Charakter wie „Honest Abe“ – so Lincolns Spitzname, den er sich mit seiner Aufrichtigkeit schon in den Anfangsjahren als Politiker erworben hatte – muss da den Mechanismen der Macht Tribut zollen.

Überhaupt zeichnet Steven Spielberg ein erfrischend unpathetisches Bild eines zweifellos großen Staatsmannes. Lincoln erscheint dabei zwar als durchaus charismatische Persönlichkeit, der jedoch keineswegs als alles überstrahlende Lichtgestalt durchs Leben wandelt, sondern seine engste Umgebung schon einmal mit der Angewohnheit nervt, zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit ein wenig abgegriffene Anekdoten zum Besten zu geben. Und der private Lincoln kann angesichts einer nervigen, hysteroiden Ehefrau zumindest daheim einmal durchaus auch die Contenance verlieren.

Naturgemäß ist die Titelfigur im Zentrum des Films, doch Lincoln konzentriert sich keineswegs ausschließlich auf die Porträtierung einer historischen Figur, sondern – und das ist eine weitere große Qualität von Spielbergs Film – beleuchtet intensiv die Komplexität und alle damit verbundenen Schwierigkeiten, die Meinungsfindungen und Entscheidungen in demokratischen Systemen nun einmal an sich haben. Mittels brillanter Dialoge und pointierter Wortgefechte erweist sich Lincoln nicht nur als hochspannender Politthriller vor einem historischen Hintergrund, sondern auch als profundes Lehrstück in Sachen Demokratie. Dass es dabei nicht einfach genügt, das Richtige zu beabsichtigen, wird schon bald deutlich, die Durchsetzung bester Absichten  erweist sich als mühevoller, oftmals beinahe qualvoll zäher Weg, der von Irrationalitäten und dogmatisch bedingten Sturheiten gesäumt ist. Steven Spielbergs Inszenierung gelingt es dabei auch kongenial, den aktuellen Bezug zur US-amerikanischen Innenpolitik deutlich zu machen, ohne dabei belehrend zu wirken oder den moralisierenden Zeigefinger zu erheben.

Klassisches Kino

Unterfangen, sich historischen Persönlichkeiten filmisch anzunähern, wurden mit höchst unterschiedlichen Strategien durchgeführt. Der Bogen spannt sich dabei von akribisch recherchierten, von Zeitzeugen kommentierten Doku-Dramen Heinrich Breloers über psychologische Interpretationen mit der Wucht einer Shakespeare’schen Tragödie (Oliver Stones Nixon oder Vincente Minellis Van-Gogh-Porträt Lust for Life), bis hin zu jenen Arbeiten, die Biografien primär anhand dekorativer Ereignisse und klischeehafter Bilder abarbeiten (Raúl Ruiz’ Klimt und Julie Taymors Frida seien an dieser Stelle als abschreckende Beispiele erwähnt).

Obwohl Lincoln sich auf einen kurzen Abschnitt im Leben seines Protagonisten konzentriert und Parlamentsdebatten und Winkelzüge hinter den verschlossenen Türen der Macht dominieren, findet Spielbergs Inszenierung genau die richtige Mischung aus dialogintensivem Drama mit streckenweise kammerspielartigen Sequenzen und epischer Breite, die einem Charakter von der Dimension Abraham Lincolns durchaus angemessen erscheint. Mit Kameramann Janusz Kaminski setzt Steven Spielberg dabei eine Lichtdramaturgie ein, die an klassisches Hollywood im besten Sinn erinnert.

Dass Lincoln Geschichte als Drama von höchster Qualität zu transportieren versteht, verdankt der Film zu einem nicht unwesentlichen Teil einem formidablen Ensemble. Inmitten aufwändiger CGI-Materialschlachten, die gegenwärtig Hollywood dominieren, hält Spielberg ein beeindruckendes Plädoyer für traditionelles Schauspielerkino. Überragend agiert dabei in erster Linie Daniel Day-Lewis, der von der äußeren Erscheinung dem historischen Vorbild frappierend ähnelt, dessen facettenreiche und psychologisch nuancierte Darstellung Abraham Lincolns über ein Auftreten als Look-alike jedoch meilenweit hinausgeht. Der Golden Globe als Bester Darsteller war der verdiente Lohn für eine grandiose Leistung, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird demnächst der Oscar folgen – es wäre übrigens bereits der dritte für Daniel Day-Lewis. Bis in die Nebenrollen hinein ist Lincoln großartig besetzt, stellvertretend für das exzellent agierende Ensemble sollen hier nur Tommy Lee Jones in seiner Rolle als herrlich exzentrischer Abgeordneter, James Spader als Mann fürs Grobe und Lee Pace, der den polemischen Sprecher der Opposition kongenial spielt, erwähnt werden.

Steven Spielberg, seit New-Hollywood-Zeiten einer der maßgeblichen Einflüsse des US-amerikanischen Kinos, auf seine Fähigkeit phantasievolle Geschichten in einzigartiger Qualität auf die Leinwand zu bringen zu beschränken, hat immer schon zu kurz gegriffen. Hätte es nach Schinder’s List und Munich noch eines Nachweises bedurft, dass Spielberg (zeit-)geschichtliche Stoffe als großartige Filme samt allgemeingültigem Kontext in Szene zu setzen versteht, Lincoln ist da ein geradezu perfektes Beispiel für seine Vielschichtigkeit und Virtuosität als einer der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart.

Lincoln zeichnet anhand eines entscheidenden Moments in der Biografie eines großen Staatsmannes nicht nur ein komplexes Porträt dieser Persönlichkeit, sondern entwirft auch ein politisches Lehrstück mit brisanter Aktualität. „Die Fehler der Vergangenheit sind die Weisheit der Zukunft“, heißt es einem oft verwendeten Zitat zufolge. Nach Ansehen dieses Films könnte der Spruch als Leitlinie politischen Handelns, nicht nur für gegenwärtige US-Parlamentarier, durchaus Sinn machen.