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The Master

The Master

Kampf der Thetanen

| Daniela Sannwald |

Paul Thomas Andersons „The Master ist″ vor allem großes Schauspielerkino.

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Man denkt, dass Philip Seymour Hoffman mittlerweile genug Gelegenheiten hatte, alle Facetten seines schauspielerischen Könnens zu demonstrieren. Nicht nur bei Paul Thomas Anderson, mit dem er seit Boogie Nights (1997) nun zum vierten Mal zusammengearbeitet hat, sondern auch in so großartigen Filmen wie 25 Hours (2002), The Ides of March (2011) oder Moneyball (2011), in denen er bewies, dass character parts keine Nebenrollen sind, bis hin zu Filmen wie Owning Mahoney (2003) oder Capote (2005), die er fast allein bestritt. In The Master spielt Philip Seymour Hoffman die Titelrolle und präsentiert einmal mehr eine Glanzleistung, indem er seiner abstrusen Figur Würde und vor allem Glaubwürdigkeit verleiht. Aber er hat in Joaquin Phoenix einen adäquaten Antagonisten gefunden – und den beiden bei ihrem schauspielerischen Duell zu folgen, ist das Aufregendste an diesem insgesamt bemerkenswerten Film.

The Master ist Lancaster Dodd, ein Guru, ein Scharlatan, ein Machtmensch, der in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gemeinschaft aus devoten, in ihrer Teigigkeit einander ähnelnden Proselyten um sich geschart hat. Er hat nichts Dämonisches, dieser Lancaster Dodd, er ist kein begnadeter Demagoge, kein böser Verführer, nicht einmal ein Missionar. Vielmehr verkörpert ihn Philip Seymour Hoffman mit seiner gewichtigen, unhübschen, aber nicht uncharmanten Präsenz als Bonhomme und Bonvivant, dessen kleinbürgerliche Ängste ganz dicht hinter seiner großmütigen Fassade lauern.

Überdruck

1950 begegnet er zum ersten Mal Freddie Quell, der sich als blinder Passagier auf dem Schiff wiederfindet, wo die Dodd-Community die Hochzeit seiner Tochter feiert, während es Kurs auf New York nimmt. Die Filmzuschauer kennen Quell zu diesem Zeitpunkt: Er ist Kriegsveteran, traumatisiert vom Einsatz im Pazifik, schwerer Säufer. Joaquin Phoenix interpretiert ihn als gescheiterten, verzweifelten, gewaltbereiten Mann, dessen Körper die Mühe, die ihn seine vergeblichen sozialen Anpassungsversuche gekostet haben, in Form von Verkrampfungen eingeschrieben ist. Phoenix ist ein intensiver Darsteller, aber in dieser Rolle geht auch er über das hinaus, was man bisher von ihm gesehen hat, weiter noch als Hoffman. Sein Freddie Quell ist vergleichbar mit einem Topf, der kurz vor dem Überkochen ist; der sich bereits hebende Deckel droht jeden Moment, in die Luft zu fliegen und das dunkle Gebräu freizugeben, das sich darunter verbirgt: etwas sehr Heißes wie Teer, Eisen oder mindestens Öl. Ein bisschen weniger wäre unter Umständen mehr gewesen – gegen Phoenix wirkt Hoffmans präzises Spiel wie veritables underplay, was es nicht ist.

Es beginnt ein Verhältnis zwischen den beiden Männern, in dem pro forma Lancaster Dodd der Chef und Freddie sein Leibwächter, Sekretär oder Assistent ist, je nach Situation. Tatsächlich begeben sie sich in wechselseitige Abhängigkeit, nicht unähnlich einer Amour fou, und es bleibt offen, wer der Stärkere und wer der Schwächere ist. Lancaster Dodds Frau ist vielleicht die Einzige, die das begreift, weil ihr Einfluss auf ihren Mann mit Auftauchen Freddies abnimmt. (Amy Adams behauptet sich in dieser Rolle, so gut sie das zwischen zwei solchen Schauspieltitanen eben kann.)

Paul Thomas Anderson hat, so gibt er zu Protokoll, die Anfänge der Scientology-Sekte und ihren Gründer L. Ron Hubbard vor Augen gehabt, als er diesen Film schrieb; einige Eigenschaften seiner Titelfigur seien der Biografie Hubbards nachempfunden, und die vorgestellten Psycho-Techniken des „Processings“ glichen dem „Auditing“ der Scientologen. Auch von der unsterblichen, immer weiter wandernden Seele, die im Scientology-Sprech „Thetan“ heißt, ist in The Master die Rede. Für die Rezeption des Films sind diese Informationen freilich irrelevant. Es geht nämlich gar nicht um die Sekte.

Gruppendynamik

Anderson erzählt vielmehr, wie schon einmal explizit in Boogie Nights und implizit in allen seinen Filmen, von Abweichlern, die dem bürgerlichen Leben für immer abgeschworen haben, und ihrer verzweifelten Sehnsucht, eben dahin zurückzukehren. Jeder in so einer Gemeinschaft von Outlaws durchlebt die anfangs zögerliche, dann enthusiastische Identifikation mit der Gruppe, die Hybris, die mit der Verachtung der restlichen Welt einhergeht, das Gefühl der Stärke durch Einigkeit, die Selbstüberschätzung. Dann folgen Krisen durch interne oder externe Kritik, Verfolgung, Verrat, materielle Not und persönliche Enttäuschungen. Die gruppendynamischen Prozesse finden in The Master – anders als in Boogie Nights – im Hintergrund statt. Davor entwickelt sich das Beziehungsdrama um den Meister und seinen Lieblingsschüler, der trotz aller Domestizierungsversuche unkontrollierbar bleibt. Das ist eine Liebesgeschichte, und zwar eine verzweifelte.

Paul Thomas Anderson findet unglaubliche Bilder, um seine Protagonisten zu beschreiben. Am Anfang sieht man Freddie beim Einsatz im Pazifik am Strand, zunächst aus der Ferne, dann fährt die Kamera heran: Mit zuckendem Becken legt er sich auf eine aus Sand geformte nackte Frau; seine Kameraden grölen, verstummen aber, als er mit den Fingern ein Loch zwischen ihre gespreizten Schenkel stößt. Lancaster Dodd wird auf dem Oberdeck eines Schiffs eingeführt, tanzend, nur von Weitem ist er zu sehen, eine plumpe, aber nicht unelegante Figur. Das Motiv wird später wieder aufgenommen, und da zeigt Philip Seymour Hoffman seine ganze Könnerschaft: In einer Phantasie Freddies tanzt der korrekt mit Anzug bekleidete Dodd einen burlesken, selbstverliebten Square Dance zwischen lauter nackten Frauen, seiner Gemeinde, und singt dazu. Er kommt ins Schwitzen, sein Gesicht rötet sich, die Luft wird ihm knapp, aber er hält durch. Dass Freddie, der immer und überall nur an Sex denkt, wie eine ironische Rorschach-Test-Szene beim Army-Psychologen beweist, dem Meister nackte Frauen jeden Alters an die Seite stellt, ihn aber angezogen zwischen ihnen tanzen lässt, mag für den Respekt stehen, den er dem Meister inzwischen zollt.

Die Phantasie führt auch die körperlichen Unterschiede zwischen den Männern vor Augen: hier Dodd, schwerfällig, behäbig, weich und weiß; da Freddie, sehnig, kantig, dunkel und impulsiv – man denkt natürlich auch, der eine beneide jeweils den anderen um die Eigenschaften, die ihm selbst fehlen. „Ich bin der Einzige, der dich mag“, brüllt Dodd den tobenden Freddie einmal an, und ein bisschen scheint es in diesem Augenblick, als ob Dr. Jekyll und Mr. Hyde miteinander kommunizierten, als ob Freddie eine inkarnierte Abspaltung einer multiplen Persönlichkeit sei. Als solche hat sich Dodd nämlich vorgestellt: Er sei Forscher, Schriftsteller, Arzt, vor allem jedoch Mensch. Freddie lacht dazu, wie er immer lacht – laut und unfroh, ein Lachen, das dem Weinen sehr nahe ist. Und auch ums Lachen geht es zwischen den Männern. Das sei tierisch, findet Dodd, und man müsse die Emotionen deshalb unter Kontrolle bringen, damit man sich vom Tier unterscheide. Aber als er sein zweites Buch auf einer Versammlung seiner Anhänger vorstellt, da enthüllt er: „Lachen ist das Geheimnis.“

Dilemma

Ein Meister, der sich widerspricht und wütend wird, wenn man ihn dazu befragt, taugt nicht als Halbgott, nicht als Vorbild. Und so ist The Master auch ein Film über eine Demontage. Freddie, der sich qualvollen Selbstreinigungsritualen hingibt, um des Meisters würdig zu sein, kann seinen renitenten Geist nicht verleugnen. Er schlägt jeden, auch sich selbst, wenn er Zweifel an der Lehre des Meisters äußert, aber das hilft nichts. Und so verschwindet Freddie eines Tages einfach – wie schon mehrmals vor seiner Begegnung mit Dodd läuft er davon.

Eine frühe Szene von The Master zeigt die heimgekehrten Soldaten bei einer Ansprache zu ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Man hört die ermutigenden, anerkennenden Worte des Redners im Off; währenddessen zoomt die Kamera auf einzelne Gesichter. Es sind junge Gesichter mit alten Augen, leere Gesichter, verwüstete Gesichter. Es sind Augen, die zu viel gesehen und das Staunen verlernt haben. „Vielleicht eröffnen Sie einen Eisenwarenladen oder eine Tankstelle“, schlägt der Redner vor, und man spürt den Unglauben, den seine Zuhörer ihm entgegenbringen, während sie sich immer wieder an derselben Stelle kratzen, sich katatonisch vor- und zurückwiegen oder apathisch in die Luft starren. Oder, wie Freddie, in ständiger Sprungbereitschaft auf und ab wippen. Fliehen, das hat er gelernt; Angreifen, Verletzen, dann selbst ums Leben laufen – den Fluchtreflex kann ihm auch der Meister nicht austreiben. Die Wunden des Krieges heilt nämlich kein Guru, denkt man. Und so ist Andersons Film implizit auch eine Studie über die US-amerikanische Nachkriegsgesellschaft und die Befindlichkeit einer Nation, die zwar den Krieg gewonnen und maßgeblich an der Verwandlung europäischer Faschisten in einigermaßen verlässliche Demokraten beteiligt war, aber innenpolitisch gar nicht einlösen konnte, was sie nach außen so erfolgreich vertrat. Linke und Schwarze spürten in jenen Jahren nichts von den demokratischen Prinzipien, die man den Europäern einbläute. Wie arrangierte man sich mit dem Dilemma, Sieger zu sein und gleichzeitig mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima eines der größten Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte begangen zu haben? Wer sollte an die Stelle des nun besiegten, äußeren Feindes treten, um die nationale Identität der heterogenen Staatengemeinschaft weiterhin zu wahren? Wie integrierte man die Veteranen in eine zunehmend konsumorientierte Gesellschaft? Es sind solche Fragen, die Paul Thomas Anderson in seinem Film anklingen und als mögliche Auslöser für die Sinnsuche und die blinde Guru-Gefolgschaft gelten lässt.

Paul Thomas Anderson hat einen beinahe rührend altmodisch wirkenden Breitwandfilm gedreht, und man denkt, dass jedes einzelne Bild das Format verdient hat. Farbgebung und Licht erinnern an Todd Haynes’ wiederbelebte Fünfziger-Ästhetik, nur dass in Andersons Film die Vierziger noch sichtbar sind. Das machen Set Design und Kostümbild deutlich. Die soeben vergangene Dekade scheint bereits überholt, aber die sich allenthalben ankündigenden Fifties versprechen, das zeigen Paul Thomas Andersons Bilder auch, keinen gesellschaftlichen Neubeginn. Der sollte noch zwanzig  Jahre auf sich warten lassen.