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Daniel Day-Lewis
Daniel Day-Lewis

Steven Spielberg und Daniel Day-Lewis

Überzeugungsarbeit

| Elaine Lipworth |

Steven Spielberg und Daniel Day-Lewis über ihre Sicht auf die historische Bedeutung Abraham Lincolns und die Herangehensweise, um einer solchen Persönlichkeit gerecht zu werden.

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Mit welchen Intentionen sind Sie an das Projekt herangegangen, einen Film über Abraham Lincoln zu drehen?
Steven Spielberg: Ich wollte Lincoln als Mensch zeigen, um es dem Publikum zu ermöglichen, vielmehr direkt an seinen Denkprozessen teilzuhaben, anstatt lediglich Zeugen des Geschehens zu sein. Denn schließlich hat Lincoln Beschlüsse gefasst, die nicht nur für die Amerikaner, sondern auch für den Rest der Welt nachhaltige Auswirkungen hatten. Das Dramatische war, dass Lincoln eine Entscheidung treffen musste, die letztlich dazu führte, dass noch viele tausende Menschen mehr ihr Leben auf dem Schlachtfeld des Bürgerkriegs lassen mussten. Denn das war die Folge, nachdem er beschlossen hatte, die Sklaverei noch vor Kriegsende abschaffen zu wollen. Aber Sklaverei ist verschleierter Völkermord an den Lebenden und eine schreckliche Untat, und Lincoln hat es geschafft, ihre Abschaffung gesetzlich zu verankern. Dieser Aspekt hat mich an Tony Kushners Adaption von Doris Kearns’ Buch am meisten fasziniert, und für mich war von Anfang an klar, dass darin das Herzstück des Films liegen musste.

Was unterschied Lincoln von anderen, als Führungsperson und als Mann?
SSP: In den meisten Fällen handelt es sich doch um Persönlichkeiten, die präsidial wirken, es aber längst nicht sind. Sie treffen keine Bestimmungen, die dem Gemeinwohl dienen. Diese Menschen haben einfach ein Image, das vor der Kamera gut rüber kommt, und um sie herum gibt es wieder eine Reihe hochintelligenter Typen, die alles daran setzen, dieses Image an die Öffentlichkeit zu verkaufen. Und so läuft das nicht erst seit den letzten 20 Jahren, das geht schon viel, viel länger so. Lincoln dagegen sah alles andere als präsidial aus. Hätte man damals jemanden mit verbunden Augen in einen Raum geführt und Lincoln gegenübergesetzt, ohne dass derjenige gewusst hätte, dass er da den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vor sich hat, er hätte ihn wahrscheinlich in erster Linie für einen sehr geduldigen, freundlichen und bodenständigen Geschichten-erzähler gehalten.

Was für einen Menschen hätten wir genau vorgefunden?
SSP: Jemanden, mit dem Sie am liebsten gemeinsam ausspannen und Zeit am Feuer sitzend verbringen würden. Sie würden wissbegierig seinen Kamingeschichten lauschen und den sehr witzigen, oft selbstironischen Anekdoten, die er parat hätte.

Worin lag das Genie des Abraham Lincoln?
SSP: Wenn Sie mich fragen, war ihm sein Genie bereits in die Wiege gelegt worden. Gefördert wurde es durch all die Bücher, die er regelrecht verschlang, durch die Kenntnisse, die ihm zunächst sein Vater und später sein Kanzleipartner vermittelten, und durch die eigenen Erfahrungen, die er in seiner frühenpolitischen Karriere sammeln konnte. Dazu kam, dass er eine sehr ambitionierte Frau namens Mary Todd kennen lernte, die seine Ehefrau wurde. Sie war der Motor, der ihn dazu antrieb, jene wahre Größe zu erreichen, die er selbst sich nicht hätte vorstellen können. Lincoln hat die Leute nicht im Sturm erobert, sondern er hat sie überrumpelt, und er verstand es, seine Gegner in Schach zu halten; Angehörige seines Kabinetts, die seinen Ideen skeptisch gegenüber standen und die ihn für seine Behutsamkeit kritisierten. Irgendwie ist es ihm gelungen, sie alle in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter zu vereinen und somit die Nation in ihre Emanzipation zu führen.

Mr. Day-Lewis, wie kamen Sie zu dem Projekt? Waren Sie von Anfang an Feuer und Flamme für die Rolle?
Daniel Day-Lewis: Nein, ich war ganz und gar nicht begeistert. Ich war mir so sicher, wie jemand nur sein kann, dass ich nicht der richtige Mann für den Job war. Es schien mir völlig absurd, dass ich auch nur versuchen könnte, die Sache durchzuziehen. Ich dachte einfach nicht, dass ich dazu in der Lage sei, diese Rolle zu übernehmen. Mich hat zwar der Gedanke gereizt, mit Steven darüber zu reden und ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen, einfach so, nur um zu hören, was er zu sagen hatte. Aber nichtsdestotrotz: Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich aus den verschiedensten Gründen nicht der war, den Steven für diese Rolle brauchte.

Wie ging es weiter, nachdem Sie Tony Kushners Drehbuch gelesen hatten?
DDL: Tonys Drehbuch hat mich sofort gefesselt, aber ich fühlte mich nicht so in die Geschichte hineingezogen, wie man es eigentlich sein muss, um eine Rolle tatsächlich übernehmen zu können. Sie benötigen dazu dieses drängende Empfinden, sich mehr und mehr in ein unbekanntes Leben hineinversetzen zu wollen. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber ich habe es hin und wieder erlebt, sobald ich mich in die Umlaufbahn dieser oder jener Figur begeben hatte. Dieses Gefühl fehlte mir hier zunächst, wohingegen mir die hervorragende Qualität des Drehbuchs an sich sofort aufgefallen war.

Was hat Sie schließlich dazu bewogen, die Rolle doch anzunehmen?
DDL: Was mich gereizt hat, war die Aussicht auf eine mögliche Auseinandersetzung mit Lincolns Leben als Ganzem. Ich war allerdings auch nach unserem nächsten Treffen noch weit davon entfernt zu glauben, dass ich der Richtige dafür sei, Lincoln zu spielen. Aber wir haben damals ein ganz großartiges Gespräch geführt. Tony verbrachte die darauffolgenden Monate damit, das Drehbuch nochmals zu überarbeiten, das damals ja noch längst nicht in der endgültigen Fassung vorlag. Also, unsere Wege trennten sich erneut, und ich machte mich daran, das Buch von Doris Kearns zu lesen. Letzten Endes, und das habe ich auch Steven mehrmals so gesagt, gingen mir irgendwie die Entschuldigungen aus.

Gab es etwas Bestimmtes, das Ihre Meinung letztlich geändert hat?
DDL: Allerdings, denn mir wurde bewusst, dass man manchmal einfach das tun muss, wovor man sich am meisten fürchtet. Angst war eines der wenigen Dinge, die ich mit meinem Vater [dem Dichter Cecil Day-Lewis, Anm.] gemeinsam hatte. Allerdings wurde mir das erst nach seinem Tod [1972, Anm.] bewusst, als ich seine Autobiografie las. Auf einmal schien es mir, als gäbe es da vielleicht doch eine Verbindungslinie über der großen Kluft, die zwischen uns lag; etwas, das uns auch einander näher brachte. Mein Vater beschrieb darin einen Vorfall an seiner Internatsschule, bei dem er sich dem stellte, wovor er am meisten Angst hatte, anstatt davor wegzurennen. Ich denke, so war das für mich mit dieser Rolle auch.

Worin genau bestand denn Ihre Angst?
DDL: Ich wollte nicht derjenige sein, der die Erinnerung entweiht an den größten Präsidenten, den Amerika jemals hatte, an den größten Mann des 19. Jahrhunderts. Ich war mir der Verantwortung, die ich mit dieser Rolle annehmen würde, durchaus bewusst. Nur war ich mir keineswegs sicher, ob es mir gelingen würde, diesem Mann, der mir so fremd war, tatsächlich Leben einzuhauchen. Das Erstaunliche an Lincoln ist allerdings, dass sein gesamtes Leben und seine Persönlichkeit unmittelbar zugänglich werden, sobald man sich dem großen Schwall an Literatur hingibt, die es über ihn gibt, und mehr noch seinen eigenen Aufzeichnungen, die an sich schon etwas ganz Besonderes sind. Damit hatte ich ganz und gar nicht gerechnet.

Mr. Spielberg, hatten Sie Daniel von vornherein für die Rolle im Auge?
SSP: Meine größte Angst bestand darin, dass Daniel bei seinem Nein bleiben würde. Ohne ihn hätte ich den Film nicht gemacht. Nachdem Daniel nicht länger nein sagte, hatte ich schreckliche Angst, dass Tommy Lee Jones ablehnt. Ich wollte unbedingt, dass Tommy die Rolle des Thaddeus Stevens [Anhänger der Sklavenbefreiung, Anm.] übernimmt. Er hatte das Zeug dazu, und ich wusste, dass dieser Film ihm die wundervolle Gelegenheit bieten würde, all das rauszulassen, was in seinem Innern brodelte. Ich kenne Tommy, wir haben bei anderen Filmen bereits als Produzenten zusammengearbeitet, und ich wusste, er hat diesen schlafenden Riesen in sich, der in seiner Darstellung des Thaddeus Stevens zum Vorschein kommt, allerdings mehr als ein Glühen, anstatt zu explodieren. In keinem der Filme, in denen er unlängst mitwirkte, hat Tommy sich so richtig ins Zeug legen können wie das hier allein aufgrund der Sprache und der großen Ideen, um die es geht, der Fall ist. Die Tatsache, dass es Tommy gab, machte es unmöglich, dass irgendein anderer Schauspieler die Rolle hätte übernehmen können.

Es gibt unheimlich viele spannende Momente im Film, obwohl man ja eigentlich weiß, dass Lincoln es geschafft hat, den entscheidenden 13. Zusatzartikel zur Verfassung durchzusetzen, mit dem das Ende der Sklaverei besiegelt wurde.
SSP: Die Spannung war absolut notwendig, denn Leben und Freiheit standen auf dem Spiel: die totale Emanzipation. Zumal war es eine schreckliche Entscheidung, die Lincoln treffen musste. Er musste den Krieg verlängern, um die Sklaverei mittels Verfassungsänderung abzuschaffen. Damit hatte er Blut an seinen Händen kleben, und zwar das Blut jener, die im andauernden Bürgerkrieg ihr Leben ließen.

Hat sich Lincolns Einstellung zur Sklaverei über die Jahre verschärft, oder war er von Anfang an dagegen?
DDL: Darüber wird heute heftig diskutiert. Die Meinungen gehen weit auseinander, und ich denke, ein Teil des Problems ist, dass man ihn und sein Handeln allzu oft von einem gegenwärtigen Standpunkt aus bewertet. Ich bin mir absolut sicher, dass er in dem Moment, als er zum ersten Mal mit Sklaverei in Berührung kam, nämlich als er als junger Mann einen Haufen Sklaven geknebelt auf einem Kahn im Mississippi treiben sah, darüber zutiefst entrüstet war. Er wusste in seinem Innersten, dass es frevelhaft und unrechtmäßig war, dass darin eine Sünde lag. Ich bezweifle, dass er damals auch nur annähernd ahnte, dass er eines Tages in der Lage sein würde, etwas an der Situation zu ändern, aber er hatte eine ausgeprägte intuitive und entschiedene Abneigung gegen die Sklaverei. Obendrein erkannte er, dass auch Schwarze Menschen sind wie du und ich. Denn immerhin gab es zu dem Zeitpunkt ja nicht sehr viele, die diese Ansicht teilten, geschweige denn, die Schwarze überhaupt zur Gattung Mensch zählten.

Was war so besonders an Lincoln als Präsidenten, das ihn auch für die heutige Zeit wichtig macht?
SSP: Er hat es einfach geschafft. Er setzte den 13. Artikel durch. Damals hat keiner daran geglaubt, dass sie tatsächlich genügend Stimmen zusammenbringen würden, um das Gesetz durchzukriegen. Die Südstaaten waren bereit, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Als Demokrat möchte ich Lincoln ungern dazu missbrauchen, meine persönliche politische Agenda an den Mann zu bringen beziehungsweise auf gegenwärtige Politiker anzuspielen, weil ich den Film unbedingt in seinem Kontext und dem zeitlichen Rahmen des 19. Jahrhunderts verstanden wissen will. Lincolns Taten sprechen mehr als alle Worte.

Er befürchtete, dass es zu einem weiteren Bürgerkrieg kommen würde. Er glaubte, dass wenn er zunächst den Krieg beendet und dann versucht hätte, die Sklaverei abzuschaffen, dass er dann gescheitert wäre. Niemals hätte er nach Kriegsende die nötigen Stimmen zusammengebracht, denn der Wiederaufbau hätte zahlreiche andere Entscheidungen in den Vordergrund gerückt, und Lincoln war überzeugt, dass es eine kurzzeitige Pause zwischen diesem und dem nächsten Krieg geben würde.

Das heißt, was er getan hat, war nicht nur extrem riskant, sondern mutig und folgte seinen Prinzipien?
SSP: Ja. Er war ein Präsident, der an seinen Idealen festhielt. Er hatte einen Plan. Und bereits als junger Mann hatte er eine Vision, nachdem er diese Menschen zusammengepfercht auf dem Sklavenkahn sah. Sei Vater hatte ihm das gezeigt, und die Bilder ließen ihn einfach nicht mehr los. Außerdem war er ein hervorragender Politiker, ein wahrer Staatsmann. Im Grunde besaß er die Fähigkeit, gute hundert Jahre vorauszublicken und mehrere tausend Jahre zurück. Aber er hat es auch verstanden, in sich selbst hineinzusehen, das Gute wie das Schlechte, die Dunkelheit und die Trauer in sich zu sehen, sowie die Antworten, die in ihm verborgen lagen. Es war diese Ausgewogenheit, die Art wie er zum Dreh- und Angelpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft wurde und wie er obendrein die Zukunft beeinflussen konnte, die ihn zum Genie machte.

Tony Kushner hält Sie für einen genialen Geschichtenerzähler. Er vergleicht Sie mit Charles Dickens. Was sagen Sie dazu?
SSP: Zum Teufel mit Dickens! (Lacht.) Das würde ich zu Tony sagen. Zum Teufel mit Dickens. Es ist unheimlich nett von Tony, so etwas zu sagen, und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie es mir erzählt haben, denn ich selbst hatte das von ihm noch nicht gehört – also vielen Dank.

Wie auch bei Dickens sind Ihre Geschichten zumeist erstaunlich universell angelegt, selbst wenn Sie komplexe Themen behandeln oder historische Filme angehen, die von enormer Bedeutung sind, wie jetzt Lincoln. Wie wichtig ist es Ihnen, Filme für jedermann zu machen?
SSP: Nun ja, ich wollte keinen Film über Lincoln drehen, der lediglich für Hochschulabsolventen interessant gewesen wäre. Ebenso wenig sollte es ein Lehrfilm für die Unterstufe werden. Ich musste also eine gewisse Balance finden, um zu vermeiden, dass der Film in irgendeiner Weise belehrend daherkommt, und gleichzeitig offen genug ist, um es jedem zu ermöglichen, mit der Sprache und der Komplexität des Themas Schritt zu halten. Ich wollte, dass die Zuschauer komplett in die Geschichte integriert sind, kurz bevor es zur Abstimmung über den 13. Artikel kommt. Denn da ist der Film ganz Kino, ganz Drama und Hochspannung pur. Diesen Ausgleich zu schaffen, darum ging es uns.

Mr. Day-Lewis, empfinden sie noch immer die gleiche alte Leidenschaft für die Schauspielerei? Erfüllt Sie Ihre Arbeit auch heute noch genauso wie früher?
DDL: Ja, dieses Gefühl der Erfülltheit hat sich für mich nicht gemindert. Wenn es anderen so scheint, ist das ein Irrtum. Meine Arbeit ist so belebend und einnehmend wie eh und je. Aber mit den Jahren habe ich nun das Bedürfnis, etwas kürzer zu treten. Ich denke, man muss sich selbst einem Test unterziehen, bevor man eine Rolle zusagt. So wie ich mir um meiner selbst Willen die Frage stellen musste, bis zu welchem Grad ich mich dem Projekt verschreiben wollte und konnte, musste ich mir diese Frage auch für Steven stellen, der zu dem Zeitpunkt bereits komplett von der Idee überzeugt war, diese Geschichte erzählen zu wollen. Wie hätte ich mich dazu verpflichten können ohne den entsprechenden Glauben, ohne eine ähnlich starke Leidenschaft dafür zu haben? Das wäre doch sinnlos.

Mr. Spielberg, würden Sie sagen, dass es sich bei dem Film um eine Herzensangelegenheit handelt?
SSP: Ich würde sagen, dass die Geschichte unsere Liebe und unseren Respekt gegenüber Lincoln zum Ausdruck bringt, und unseren Glauben daran, dass er mit Abstand der größte Präsident war, den wir in den Vereinigten Staaten je hatten.