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Dossier Landschaft – Da ist nur Müll – Seelen- und andere Landschaften in Sokurows „Faust“

Da ist nur Müll

| Benjamin Moldenhauer |

Wohin die Seele wandert: In Alexander Sokurows Verfilmung des „Faust“ findet die Sinnsuche in erhabenen Naturlandschaften ihr Ende.

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Es ist selten geworden, aber hin und wieder begegnen einem doch noch Filme, die den Zuschauer nicht an die Hand nehmen, sondern ihn mit sich selbst und den Bildern alleine lassen. Man sitzt im Kino, weiß nicht so wirklich etwas anzufangen mit dem Gesehenen und ist in einer Weise berührt, die sich nicht ohne Weiteres beschreiben oder gar auf den Begriff bringen ließe. Manche Filme von David Lynch, die das Gerüst einer Struktur bildenden Erzählung weitgehend hinter sich lassen, beispielsweise Mulholland Drive (2001) und vor allem Inland Empire (2006), erlaubten derart ungreifbare Erfahrungen. Lynch sei es gelungen, hat Klaus Theweleit geschrieben, das Unbewusste zu filmen. Und das Unbewusste funktioniert nun einmal nach einer anderen Logik als ein in drei Akten aufgebauter Plot.

Ob der Befund des gefilmten Unbewussten stimmt oder nicht – er ist naheliegend. Tatsächlich neigen wir dazu, Bilder, die nicht mehr durch eine klassische Erzähllogik, sondern assoziativ miteinander verbunden sind, als Bilder von etwas Innerlichem zu deuten: als Abbildungen von etwas, das mit bloßem Auge nicht zu sehen ist. Sobald das Narrative nicht mehr das Primäre ist, soll es um die Seele gehen. Wenn man schon nicht mehr in der Position des Kindes, dem eine Geschichte erzählt wird, vor der Leinwand sitzen darf, dann doch wenigstens als erwachsener Traumdeuter, der die Bilder als Symbole versteht.

Seelenlandschaften

Das ist voraussetzungsreicher, und deswegen werden die Filme beispielsweise Andrei Tarkowskis als anstrengend empfunden, im Vergleich zu denen von, sagen wir, Robert Zemeckis. Keine Erzählungen sollen das dann sein, sondern Seelenlandschaften, die man als Zuschauer mit den ebenfalls überforderten Filmfiguren durchwandern darf: Die Zone in Stalker (1979), in der die Industrielandschaft langsam wieder überwuchert wird und sich mit der Natur vermischt, wäre dann ein Bild für die Psyche, der rote Ozean in Solaris (1972) ein Bild für das selbst unablässig Bilder produzierende Unbewusste. Und prompt herrschen wieder Sinn und Ordnung. Bloß kann der Film im Zuge seiner Deutung seinen Zauber verlieren. Filmisch errichtete Seelenlandschaften sind fragil und lassen sich schnell kaputt interpretieren, weil die Bilder dann doch noch einmal andere Dinge wissen, als das hermeneutische Vermögen dingfest machen könnte. Immer bleibt ein unverdingter Rest.

Hin und wieder begegnet einem also ein Film, dem es gelingt, nachhaltig zu irritieren und sich der Deutung zu entziehen. Wenn du dich schon für die Seele auf der Leinwand interessierst, rät ein belesener Bekannter, dann schau dir nicht Lynch an, sondern Alexander Sokurows Faust (2011). Dessen Figuren basierten schließlich – „sehr frei“ – auf dem Text Goethes, und der wiederum habe ja nun den berühmtesten Seelenverkäufer der Literaturgeschichte geschaffen. Das macht man und ist zuerst einmal erstaunt, dass ein derart spröder Film heute überhaupt noch finanziert werden kann. Eine rasche Internet-Recherche ergibt, Wladimir Putin habe höchstpersönlich dafür gesorgt, dass die russische Filmförderung in diesem Fall tätig wird – ein faustischer Pakt zwischen Kunst und Macht, eine ideale Voraussetzung für eine „Faust“- Verfilmung.

Das erste, was wir in diesem Film von einem Menschen sehen, sind die Genitalien einer Leiche in Großaufnahme, Professor Faust (Johannes Zeiler) wühlt im geöffneten Bauch und zerrt die Organe hervor. Sein Assistent Wagner versucht, die Seele zu lokalisieren, aber Faust hat schon resigniert: „Da ist nur Müll.“ Dann wird sauber gemacht, die Innereien klatschen auf den Boden, und die Totengräber kommen. Das ist der Prolog. Von da an sehen wir den Professor auf seinen Wegen durch eine mittelalterliche Stadt, bald begleitet von der Mephisto-Gestalt Mauritius (Anton Adassinsky) und wild auf die Kindfrau Margarete (Isolda Dychauk). Für eine Nacht mit ihr wird er seine Seele verpfänden.

Die Dialoge bleiben fragmentarisch und gehen über lange Passagen kraus durcheinander. Wie präzise die Tonspur konstruiert ist, realisiert man erst, wenn man den Film über Kopfhörer hört und die Stimmen ganz nah am Ohr hat; dann ist der Effekt hypnotisch. So etwas wie einen Plot gibt es nur in Ansätzen, das Geschehen fasert immer wieder aus. Der erste Eindruck ist der von unverbundenen Einzelszenen, Fetzen aus Goethes Text tauchen immer wieder auf. Der Film erscheint als eine Art Anti-Faust, der nicht nur die literarische Vorlage, sondern auch die vorangegangenen Verfilmungen unterläuft und sich einer offensichtlichen Deutung zu entziehen versucht. Die Figuren agieren widersprüchlich, am Ende steinigt Faust Mephisto, der bei dieser Gelegenheit einen der berühmtesten Sätze aus der literarischen Vorlage in sein Gegenteil verkehrt: „Verweile doch, das ist nicht schön.“

Leere

Schön ist das anfangs wirklich nicht. Die Farben der Stadt wirken ausgebleicht, die Straßen sind verschlammt, die Menschen sind – von Margarete abgesehen – hässlich, innen wie außen; alle teufeln aufeinander ein, alle hassen einander. Nicht einmal Mephisto hat noch Charme. Im Dampfbad legt er die Kleider ab, der Körper eine Anballung von einander überlappenden Hautfalten, ein kleiner Schwanz hinten, und fürchterlich stinken tut er anscheinend auch. Gustaf Gründgens hat den Mephisto auf der Bühne als charmanten Verführer gespielt, Emil Jannings in Murnaus Verfilmung 1926 als lebenslustigen Derwisch. Hier ist er ein Misanthrop und Wucherer von Beruf (man kann Sokurows Mephisto-Gestalt auch als antisemitisch aufgeladene Metapher nehmen, das Potenzial dazu hat die Figur; dann müsste man einen anderen Text schreiben als diesen hier). Die Seelen gibt es günstig, Faust klagt am Ende, er habe nicht genug für seine bekommen.

Dass in diesem Szenario auch die Motivlage eine andere ist, wundert nicht. Bei Goethe verzweifelt Faust an seinem unbedingten Erkenntnisdrang, bei Sokurow ist er pleite, lamentiert über die eigene Armut und wirkt entleert. „Sie wissen so viel“, sagt Margarete und versucht es mit den letzten Fragen: „Was macht der Tod? Stirbt der Mensch ganz?“ Faust weiß Rat: „Die Wissenschaft besagt, dass der Tod existiert.“ Das Leben, entgegnet Margarete, gebe die gleiche Antwort, wozu brauche man da die Wissenschaft? „Das ist so eine Beschäftigung“, erklärt Faust, „um die Leere auszufüllen.“ Hätte der Mann Recht, man müsste es auch von der Filmwissenschaft behaupten. Die auszufüllende Leere wäre in diesem Fall die semantische Leere eines Films, der enigmatisch bleibt. Was also fängt man mit so einem Brocken an? Man kann versuchen, eine Ordnung in das Rätselhafte zu bringen.

Der naheliegende Ansatzpunkt für den geübten Deuter sind die Naturbilder, die, so möchte man meinen, Aufschluss geben über das Innere der Figuren. Was hat es mit dem friedvoll ruhenden See auf sich, in den sich Faust im einzigen Glücksmoment des Films gemeinsam mit Margarete fallen lässt? Wenn man zudem noch weiß, dass das deutsche Wort „Seele“ etymologisch mit „See“ in Verbindung gesetzt und also gerne mit Flüssigem assoziiert ist? Und was ist mit dem Eis? Am Ende führt Mauritius Faust an den Fuß eines Gletschers. Warum fühlt Faust sich hier offensichtlich wohler als an allen anderen Orten? Ist es doch simpel, und das Glück liegt in der Natur, in die man nur zurückzukehren braucht?

Die Frage wird auf der Leinwand selbst verhandelt. „Was ist das hier?“, fragt der Professor angesichts des rauschenden Wassers, und Mauritius antwortet: „Nichts. Geh hin und schau mal selbst.“ Das ist wohl als Aufforderung auch an den Zuschauer zu verstehen. Die Naturbilder des Films sind wunderschön, und sie sind keine Metaphern mehr für Seelisches. Wir sehen Wälder, Seen und Gletscher, erhabene Landschaften, vor denen sich die armen Teufel des Films blamieren. Die Geysire versetzen den Wissenschaftler noch einmal in Begeisterung und stimulieren seine Hybris: „Wie ist das beschaffen?! Das kann ich nachbauen!“ Aber da hört schon niemand mehr zu. Am Schluss findet die Sinnsuche in der Natur ihr Ende, nicht weil da jemand an sein Ziel gekommen wäre, sondern weil in der weiten Landschaft alles Menschliche und damit auch die Seelenqualen nicht mehr von Bedeutung sind. Gretchens Stimme tönt vom Himmel – „Wohin gehst du?“ –, und Faust rennt euphorisch los, hinein ins ewige Eis, dorthin, wo niemand mehr ist. Das Schöne an der Landschaft in Faust ist, dass in ihr keine Menschen mehr sind.

Erlösung durch Natur

Muss man da noch groß interpretieren? Vielleicht sollte man einfach ausdauernder beim eigenen Unbehagen verharren, als das klassische Erzählkino es einen gelehrt hat. Und vielleicht sind gerade jene Filme die eigentlich aufschlussreichen, die man eben nicht „versteht“, bei denen man aber spürt, dass da etwas ist. Ähnliches hat Tarkowski selbst verlautbaren lassen und sich gegen die deutungswütigen Interpreten seiner Filme verwahrt. Das Kino, schreibt Tarkowski in „Die versiegelte Zeit“, sei kein Symbolsystem, sondern erschaffe eine „emotionale Realität“, die der Zuschauer als eine „zweite Realität“ erlebe – und eben nicht deute. Und es stimmt: Das Wort „Seelen“ in „Seelenlandschaft“ steht da schon ganz richtig, nur müssen sie nicht auf die Couch.

Was also lässt der Film spürbar werden? Wo sich im Text noch interpretationswürdige (und damit sinnstiftende) Dramen und Tragödien abspielen, kreist das Geschehen hier um etwas, das die Figuren verloren haben, wenn überhaupt dann aber nur noch diffus vermissen können. (Sokurow selbst formuliert es im Interview so: „Die Zahl derer, die heutzutage bereit sind, ihre Seele zu verkaufen, ist so riesig geworden, dass der Preis immer weiter fällt.“) Die Verweigerung eines greifbaren Sinns, die den Zuschauer mit leeren Händen zurücklässt, findet ihre Entsprechung in der selbst bereits entleerten und ohne jede Zuversicht vonstattengehenden Suche Fausts auf der Leinwand.

Erlösung verspricht einzig die menschenleere Natur, die nun nicht mehr als zu interpretierende Verbildlichung des Seelischen fungiert, sondern in ihrer Schönheit als erhabenes Gegenbild zu den menschlichen Nöten vor den Augen des Zuschauers erscheint – Nöten, gegenüber denen nicht nur Mephisto, sondern auch der Film selbst einiges an Verachtung aufbringt. Die Natur verlangt nicht nach Deutung, vor ihr soll alles andere nichtig werden. Faust errichtet eine filmische Welt, in der die Menschen mitsamt all ihrer Hybris und ihrem Begehren im Elend leben. Und er spinnt einen in diese misanthrope Weltwahrnehmung ein. So erschafft Faust für Zuschauer, die sich auf ihn einlassen, etwas, das man vielleicht gar nicht fühlen möchte „Da ist nur Müll“ – dem wird vom Film nicht wirklich widersprochen. Ob man diese Verkoppelung von Misanthropie und erhabener Naturschönheit als „emotionale Realität“ an sich heranlassen möchte, wäre dann die zweite Frage. Es gibt Filme, gegen die sollte man sich wehren.

Benjamin Moldenhauer arbeitet als Kulturwissenschaftler und Filmjournalist. Er ist „ray“-Autor und schreibt u.a. für „Jungle World“, „Junge Welt“, „taz“.