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Dossier Landschaft – Utopische Landschaften – Unwirkliche Territorien als Fundament von Utopien

Utopische Landschaften

| Michael Dominik Hagel |

In der utopischen Literatur wird der Landschaft meist weniger Augenmerk zuteil als der politischen Botschaft. Doch gerade die unwirklichen Territorien sind das Fundament, auf dem die berühmten Utopisten wie Thomas Morus oder Louis-Sébastien Mercier ihre Projekte aufbauten.

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Phantasiegebilde, Illusionen, Irrealitäten, Kopfgeburten, Trugbilder, Wahn, Unwirklichkeit – zahlreiche Schattierungen der Abweichung von der Wirklichkeit findet, wer im Wörterbuch nach Synonymen von „Utopie“ sucht. Utopisch ist, was nicht wirklich ist und auch nicht wirklich werden wird. Dabei hatte die Geschichte der Utopie viel versprechend begonnen: In einem von dem englischen Staatsmann Thomas Morus in lateinischer Sprache verfassten Traktat, der mit Unterstützung seines Freundes Erasmus von Rotterdam im Jahr 1516 gedruckt wurde, taucht das Wort „Utopia“ zum ersten Mal auf. Die beste Verfassung eines Gemeinwesens sollte mit der Beschreibung der Insel namens Utopia vor Augen geführt werden. Utopia inszeniert mit der Schilderung des optimalen Staats eine Welt, in der die politischen Fragen, die von europäischen Gelehrten zu Beginn der Neuzeit diskutiert werden, durch ein perfekt eingerichtetes politisches System aufgehoben sind. Verteilung des Wohlstandes, Versorgung der Kranken, Verbrechen und Bestrafung: Auf alles hatte die radikale Alternative Utopia eine Antwort parat. Die Grundlage dieser Lösung ist die Möglichkeitsoffenheit des fiktionalen Raumes, in dem die utopische Insel auftaucht; was freilich zugleich – wie die Karriere des Utopiebegriffs zeigt – die Basis für eine ebenso gründliche Diskreditierung der fingierten Alterität bietet.

Schon der aus dem Griechischen abgeleitete Name, den Morus seiner ehrgeizigen Erfindung gab, signalisierte seinen humanistischen Lesern dabei den Zwiespalt zwischen Optimum und Irrealität, der die Verbindlichkeit des Utopischen unterwandert. „Utopia“ war eine paradoxe Wortschöpfung, die – grammatikalisch ungewöhnliche – Verneinung des griechischen Wortes topos, das einen Ort oder eine Stelle bezeichnet; die U-topie ist dem Wortsinn nach ein Nicht-Ort. Diese Negation durchkreuzt von Anfang an die detaillierte Schilderung der Insel des besten Staates, erinnert permanent an den mangelnden Realitätsgehalt der Darstellung des politischen Optimums. Trotzdem erschöpft sich der Begriff der Utopie keineswegs in dem wenig schmeichelhaften Bedeutungsfeld, das ihm der gegenwärtige Sprachgebrauch zuweist. Vielmehr bedarf es einer weitgehenden Voreingenommenheit, um die utopische Alternative rundweg als Pantasiegebilde oder Wahnidee zu verstehen, denn innerhalb des Spiels mit dem fiktionalen Status des Utopischen entfaltet sich eine präzise Darstellung einer aufs Bessere und Beste zielenden Praxis. Die akribische Faktur der utopischen Insel muss als Entgegnung auf die unterstellte Unwirklichkeit der Fiktion gelesen werden. Hierbei spielt die Präsentation des Raumes eine grundlegende Rolle.

Landschaffung der Utopie

Mit dem Bild einer halbmondförmigen Insel, auf der sich gut vier Dutzend Städte regelmäßig verteilen, beginnt die Schilderung der Insel Utopia. Die Fiktion der Utopie entwirft nicht nur die Lösung politischer Probleme, sondern beschreibt zunächst eine Fläche, auf der sich das Optimum entfaltet. Die Utopie – Morus’ Text ebenso wie das utopische Genre, in dessen Brennpunkt er steht – nimmt ihren Anfang in der Schaffung des Landes. Utopie ist damit Landschaft im Wortsinn: Der Akt der Evokation der Landmasse, der das durch die Küstenlinien unzweideutig umgrenzte Territorium der Utopie absteckt, ist Ausgangspunkt und Voraussetzung der Utopie. Die initiale Konkretisierung des utopischen Landes bereitet die Beschreibung der Struktur, die das Funktionieren des besten Gemeinwesens garantiert, vor. Die Funktionszusammenhänge, die den Lesern den besten aller möglichen Staaten vor Augen führen sollen, bilden sich in der Landmasse ab. Das abstrakte Gefüge Utopias, die politisch-ökonomische Totalität, die entworfen wird, hat in der geografischen Strukturierung der Insel eine Entsprechung, mit der ihre Darlegung eröffnet wird. Im Raum der Fiktion werden damit Abstraktes und Konkretes in eine Analogiebeziehung gesetzt, die einen spezifischen, ästhetisch-praktischen Landschaftsbegriff konturieren.

Bedeutung der Landschaft

Die Utopie demonstriert damit, dass die Darstellung von Raum einen Bedeutungsüberschuss produziert. Geradliniger und expliziter als in anderen Genres wird Landschaft als Vermittlungsinstanz inszeniert. Die Beschreibung der utopischen Topografie erzeugt eine plastische Gegenständlichkeit des vorgestellten Systems, zielt auf einen Evidenzeffekt. Die Rhetorik des „Mit-eigenen-Augen-gesehen-Habens“, die in der Gattung seit Morus forciert wird, zielt hinsichtlich des utopischen Entwurfes auf eine Plausibilisierung, die mit Blick auf den Landschaftsbegriff deshalb erhellend ist, da sie ihn geradezu umstülpt. Die Utopie kalkuliert nicht nur mit einem Bedeutungsüberschuss, der durch die Repräsentation des geografischen Raumes produziert wird, sondern macht die Raumdarstellung zur Projektionsfläche ihres auf die Praxis zielenden Projekts. Die Landschaft der Utopie ist nicht nur eine Bühne, sondern vor allem das Nutzgebiet politischer Vorstellungen.

Das Konzept der Landschaft – die Vorstellung eines wirklichen, natürlichen Raumes und dessen realistischer, interesseloser Darstellung – wird geradezu umgekehrt, wenn die Rede von einer utopischen Landschaft ist. Handelt es sich bei der Landschaft doch scheinbar um etwas, das das Anschauliche der Natur benennt, die Darstellung eines „Stücks Natur“ (Georg Simmel) etwa, während die Utopie oder das Utopische nicht nur der Natur oder dem Natürlichen, sondern gar der Wirklichkeit Entrücktes bezeichnet. Eine Landschaft utopisch zu nennen, stellt nicht nur im landläufigen Sinn der fehlenden Wirklichkeit des Utopischen eine widersprüchliche Verbindung her. Die fiktiven Landschaften der Utopie führen eine Koppelung des vorgeblich Natürlichen, mithin ideologisch Unverdächtigen der Naturdarstellung und der Absichtsgebundenheit des Darstellungsprozesses selbst vor Augen. Die Repräsentationsstrategien der Utopie entwerfen und verwerten Topografie für den Zweck des utopischen Anliegens.

Raum für Zukunft

Diese Konstellation, in der Landschaft und System einander verdoppeln, wird historisch dann problematisch, wenn die Utopie aufhört, sich als auf das räumliche Anderswo verweisendes Unterfangen zu gerieren. An der Schwelle zur Moderne markiert das Auftauchen von Fiktionen, die von utopischen Gegebenheiten in der Zukunft berichten, eine Transformation der Vorstellung von Utopie. Hatte sich die Raumutopie stets als Präsentation eines verborgenen, damit aber auch in spezifischer Weise gegenwärtigen Staatswesens präsentiert, so erhält die Utopie mit der Vorstellung einer zukünftig möglichen Alternative zu den herrschenden Verhältnissen eine neue Verbindlichkeit. Waren die fiktiven Berichte von wohl eingerichteten Ländern, von denen – im Gefolge von Morus’ Text – Seefahrer berichteten, stets in sicherer Distanz zur politischen Beschaffenheit der Gegenwart der Leserschaft geblieben, so bringt die Zeitutopie, indem sie die Alternative als Kommendes präsentiert, eine neuartige Dringlichkeit des Utopischen hervor, das nunmehr als erreichbare und zu erreichende Stufe in einem Entwicklungsprozess suggeriert wurde. Die Zukunft wird gegenwärtig.

Dass die gegenwärtige Zeit schwanger von der Zukunft sei, lautet dann auch das Motto in Louis-Sébastien Merciers Roman Das Jahr 2440, der 1770 erscheint und im wahrsten Sinne des Wortes Epoche macht. Ein Träumer erwacht darin aus knapp siebenhundertjährigem Schlaf und durchmisst daraufhin die Stadt Paris, in der sich in der Zwischenzeit die Phantasien der Aufklärung erfüllt haben. Ganz wie bei Morus werden die Gegenwart des Autors kennzeichnende Missstände als zum allseitigen Wohlgefallen gelöst inszeniert, mit dem wesentlichen Unterschied freilich, dass die Darstellung der Utopie als Bevorstehendes eine prozessuale Bewältigbarkeit der Probleme insinuiert. Das Jahr 2440 ist ein überdeutliches Symptom der geschichtsphilosophischen Aufladung des Utopischen. Merciers Traum von einer besseren Zukunft zeigt dabei freilich nur die Frontansicht einer Medaille, auf deren Kehrseite Schöne neue Welt oder 1984 stehen werden. Mit Blick auf den Landschaftsbegriff ist allerdings weniger die Unterscheidung von optimistischen und pessimistischen Geschichtsaussichten von Bedeutung, als vielmehr die Kluft zwischen Raum- und Zeitutopie, die sich an der Wende zum 19. Jahrhundert auftut.

Abschied von der Utopie

Die Landschaft wird nunmehr, wenn die Utopie nicht im Anderswo, sondern in der Zukunft gedacht und vorgestellt wird, in den Hintergrund der utopischen Projekte gedrängt. Die durch Fortschritt erreichbare Utopie verlässt die Inselwelt und kommt aufs Festland. Die utopische Verheißung verlagert sich in bekannte Gefilde und ist daher gezwungen, die Vorstellungen der Formbarkeit der Landmasse aufzugeben. An die Stelle der topografischen Doppelung von Funktionszusammenhängen der utopischen Anordnung tritt eine stillschweigende Voraussetzung der Beschaffenheit der einstmals utopischen Örtlichkeit. Wo die Landschaft damit als Bekanntes nicht gänzlich unter die Artikulationsschwelle sinkt, tritt an die Stelle ihrer strukturellen Schilderung beseelte Beschreibung.

Was im Gegenzug dieser Bedeutungstransformation der utopischen Landschaften auftaucht, ist eine neue, emphatische Vorstellung vom Subjekt, die auch im utopischen Genre ihre Spuren hinterlässt. War etwa bei Morus der Einzelne ein kaum sichtbares, im Gesamtgefüge der utopischen Konstruktion aufgehobenes Wesen, so verweist schon das Vehikel des Traumes, das Merciers Erzähler in die utopische Welt versetzt, auf eine Tiefendimension des Individuums, die es unter anderem unempfänglich für die Einordnung in allzu statische politische Konstruktionen macht. Damit wird aber auch der Weg frei für eine politisch unbefleckte, sentimentale Auffassung der Landschaft, in der nicht länger eine politisch-ökonomische Totalität, sondern die Weiten der Subjektivität sich spiegeln.

Mit der Trennung der Landschaftsrepräsentation von der Utopie ist dann auch eine Neukonfiguration des Utopiebegriffs verbunden, die ihrer Diskreditierung Vorschub leistet. Utopisch ist fortan, was tatsächlich fehl am Platze ist. Nicht zuletzt jene, die an der Veränderung der politischen Zustände arbeiten, werden versuchen, den Verdacht des Utopismus von sich zu weisen, und bekräftigen damit die Konvergenz von Utopie und Schimäre, welche letzten Endes die Utopie zum Passepartout fehlgeleiteter Vorstellungen macht. Spätestens wenn Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung des Sozialismus „von der Utopie zur Wissenschaft“ (Friedrich Engels) beschrieben wird, zeigt sich, dass die Vorstellungen alternativer Gesellschaftsentwürfe den Schauplatz, die utopische Insel, weit hinter sich gelassen haben. Auch dort, wo zur Ehrenrettung des Utopischen angesetzt wird, geschieht dies nicht im Zeichen einer Rehabilitierung ihrer topografischen Evidenzstrategie, sondern unter den Vorzeichen einer erstaunlich subjektivistischen Auffassung von Utopie in der Absicht der Legitimation kritischen Möglichkeitsdenkens.

Mit der Identifikation von Utopien und Unwirklichkeit werden die Bedeutungsüberschüsse ästhetischer Topografie frei von politischen Impulsen. Landschaft ist mithin von den Visionen des besten Staates entkoppelt, ihre Darstellung kann so zum Trugbild der anschaulichen Wirklichkeit von Natur und damit in einem modernen Sinn utopisch werden.

Michael Dominik Hagel arbeitet als Literaturwissenschaftler an der Université de Neuchâtel.

„Auf dem flachen Lande haben die Utopier Höfe, die zweckmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt und mit landwirtschaftlichen Geräten versehen sind; in ihnen wohnen Bürger, die abwechselnd dorthin ziehen. Jeder ländliche Haushalt zählt an Männern und Frauen mindestens 40 Köpfe, wozu noch zwei zur Scholle gehörige Knechte kommen. Einem Haushalte stehen ein Hausvater und eine Hausmutter vor, gesetzte und an Erfahrung reiche Personen, und an der Spitze von je 30 Familien steht ein Phylarch …“

Thomas Morus: Ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und der neuen Insel Utopia (1516)

„Ich kam an und suchte mit den Augen den prächtigsten Palast, wo das Schicksal so vieler Nationen entschieden wurde. Welche Überraschung! Ich erblickte nichts als Trümmer, eingefallene Mauern, verstümmelte Statuen; aus einigen Säulengängen, die zur Hälfte eingestürzt waren, konnte man sich eine unklare Vorstellung von seiner vergangenen Pracht machen. Ich ging auf diesen Ruinen herum …“

Louis-Sébastien Mercier: Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume,  Kap. 44: Versailles (1770)