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China – Die ehrgeizigen Ziele der chinesischen Filmindustrie und die Realität

Großmarktsphantasien

| Isabel Wolte |

Trotz einiger Kassenerfolge war das Jahr 2012 – vor allem international – eher ein durchwachsenes, gemessen an den ehrgeizigen Zielen der chinesischen Filmindustrie. Ein Rück- und ein Ausblick.

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Nach dem chinesischen Kalender war 2012 das Jahr des Drachen, das, so meint man, von großen, oft unerwarteten katastrophalen wie sensationellen Ereignissen gekennzeichnet ist. Trotz massiver personeller Änderungen in der politischen Führung blieben wirkliche Umwälzungen aber bis dato aus. Auch im chinesischen Filmschaffen setzten sich – trotz teils erstaunlicher Ergebnisse – vor allem die Trends der letzten Jahre fort.

Seit 2006, festgelegt im elften und im derzeit gültigen zwölften Fünfjahresplan der Regierung, ist die Entwicklung des gesamten kulturellen Sektors, insbesondere der Medien und des Films, ein Schwerpunkt der chinesischen Politik. Der 18. Parteitag der Kommunistischen Partei im November 2012 bekräftigte abermals die Bedeutung der Kulturindustrie im Rahmen der landesweiten wirtschaftlichen Entwicklung und forderte deren fortschreitende Privatisierung und Kommerzialisierung. Die Kulturindustrie sei ein wesentliches Element der Soft Power Chinas und soll zu einem wichtigen Exportprodukt werden. In diesem Sinne wird sowohl national wie international mit allen Kräften an der Ausweitung des Sektors gearbeitet.

Das Kino boomt

Im November meldeten die China Film Group, die größte staatliche Produktionsfirma, und die Shanghai Film Group, ein mächtiger Arm der Shanghai Media and Entertainment Group, den Börsengang in Shanghai an, den sie bereits seit Jahren planen. Damit liegen sie im Trend der chinesischen Unterhaltungsindu-strie: Man hofft, künftig mit den über viel mehr Kapital verfügenden privaten Unternehmen konkurrieren zu können.

Der Zuwachs an Kinos und Leinwänden im ganzen Land, forciert sowohl von staatlicher Seite wie auch von privaten Kinoketten und Medienkonglomeraten, hat den Kinomarkt der Volksrepublik im Jahr 2012 zum zweitgrößten der Welt aufsteigen lassen, übertroffen nur von dem der USA. Der Umsatz aus den Kinotickets lag bei 2,1 Milliarden Euro. Wanda Cinema Line, der mächtigste Kinobetreiber der Volksrepublik, hat im Mai 2012 den Kinoarm des amerikanischen AMC übernommen und damit einen direkten Zugriff auf den US-amerikanischen Markt.

Die offizielle Filmproduktion in China, seit Jahren stetig steigend, hat sich vor zwei Jahren verdoppelt und liegt nun bei jährlich rund 800 registrierten, genehmigten Filmen. Mit dem überraschenden Erfolg der Low-Budget-Produktion Lost in Thailand gelang es erstmals einem einheimischen Film, einen neuen Kassenrekord aufzustellen. Lost in Thailand, ein harmloser Action-Klamauk nach Hangover-Muster und das Regiedebüt des Komikers Xu Zheng, der gemeinsam mit Publikumsliebling Wang Baoqiang in den Hauptrollen für leichte Unterhaltung und Sprachwitz sorgt, erzielte einen Kartenumsatz von knapp 1,2 Milliarden Renminbi (ca. 150 Millionen Euro) und übertraf damit sogar den erfolgreichsten Hollywood-Film des Jahres, Titanic 3D. (Inzwischen wurde dieser Rekord bereits wieder gebrochen: von Stephen Chows Adaption der unverwüstlichen, bereits zigfach verfilmten Volkslegende Journey to the West über die Abenteuer des Affenkönigs, die zum Neujahrstag im Februar 2013 gestartet wurde.)

Laut Aussage der China Film Export & Import, die das Monopol für den Filmimport hält, kamen 2012 insgesamt 109 ausländische Filme in die chinesischen Kinos – jeweils zumindest für einen Tag. Die Einspielergebnisse waren aber, abgesehen von denen der Hollywood-Produktionen, sehr mager. Im Zuge der USA-Reise des neuen Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten Xi Jinping im Febuar 2012 wurde die Quote für nach China importierte US-Filme – auf den nachhaltigen Druck Hollywoods hin – von 20 auf 34 erhöht, die zusätzlichen 14 importierten Filme müssen aber IMAX- oder Animationsfilme sein. Außerdem wurde der Prozentsatz, den US-Vertriebe aus dem Kartenverkauf in China behalten dürfen, von 13% auf 25% erhöht. Trotz der bis dato strengen Einschränkungen für Hollywood-Blockbuster, zu denen auch die unangekündigte Absetzung aus den Kinos zugunsten einheimischer Filme gehört, konnten diese bereits in vergangenen Jahren bis zu 50% des gesamten Kinoerlöses für sich lukrieren; im Jahr 2012 entfiel erstmals ein Marktanteil von 51,5% auf ausländische Filme.

Anerkennung im Ausland

Ein großes Anliegen ist der Volksrepublik China seit jeher die internationale Anerkennung des chinesischen Filmschaffens und vor allem der Erfolg auf ausländischen Märkten. Das aktuelle Schlagwort heisst zou chu qu – der chinesische Film möge ausschwärmen – und dies wird mit großem Einsatz betrieben. Was die Zahlen angeht, ist China bereits zur filmischen Weltmacht aufgestiegen, doch die Qualität und die Rezeption vonseiten eines nicht-chinesischen Publikums erscheint noch ausbaufähig.

Einige international bekannte Regisseure hatten für 2012 ihre neuen Werke angekündigt und konnten diese auf internationalen Filmfestivals präsentieren. Für große Preise oder auch nur weitreichende Beachtung reichte es allerdings nicht. Die Berlinale zeigte Zhang Yimous melodramatisches Kriegsepos The Flowers of War (2011) außer Konkurrenz. Trotz gezielter Strategie in Richtung Oscars ging der Film bei allen begehrten Filmpreisen leer aus. Chen Kaige versuchte sich an einem für ihn innovativen Projekt: Caught in the Web basiert auf einem Internetroman und zeigt in raschen Bildern mit etwas verzwickter Logik das Leben junger Stadtmenschen, deren Leben vom Internet dominiert wird. Ein allgemein beachtetes Thema; die Macht der Medien und ihre Gnadenlosigkeit, wenn sie einmal jemanden im Visier haben, wird hier konkret. Caught in the Web, das bis dato modernste Werk des Starregisseurs, konnte einen gewissen Kassenerfolg verbuchen.

Feng Xiaogang, der dritte chinesische Regisseur mit Kassenschlager-Potenzial, brachte sein Epos Back to 1942 (mit Adrien Brody und Tim Robbins als Aufputz) als Weltpremiere beim Festival in Rom heraus: ein aufwändiger Rückblick auf eine der schwersten Hungersnöte und Flüchtlingswellen des 20. Jahrhunderts. Trotz Düsternis und Tragik gelang Feng wie mit fast allen seinen Werken und trotz gelegentlicher, harscher Kritik ein gutes Ergebnis an den heimischen Kinokassen, und bei den Nationalen Filmpreisen gab es eine Auszeichnung für die beste Kamera. Unerwartet negativ wurde im eigenen Land Lu Chuans seit vier Jahren akribisch vorbereitetes Werk The Last Supper aufgenommen. Lu, der bereits mit City of Life and Death (2009) heftiger Kritik ausgesetzt war, musste auch in diesem Fall nicht nur Probleme mit der Zensur in Kauf nehmen – der Filmstart wurde mehrmals um Wochen und Monate verschoben –, sondern auch den Unwillen der Zuschauer. Abermals warf man ihm vor, mit der Geschichte leichtfertig umzugehen bzw. sie zu verzerren. The Last Supper dreht sich um die Ereignisse, die zur Machtübernahme Liu Bangs, des ersten Kaisers der Han-Dynastie (296 v. Chr. bis 220 n. Chr.), führten, insbesondere das berühmte Hongmen-Bankett, bei dem Liu Bang zunächst von seinem Widersacher getötet werden sollte, aber letzten Endes freigelassen wurde. Diese Geschehnisse gehören in China zum Allgemeinwissen und wurden vielfach in Filmen und TV-Serien beschrieben, sodass eine neue Interpretation, wie sie Lu Chuan lieferte, mit viel Skepsis zu rechnen hatte – eine Weltpremiere beim Toronto Film Festival konnte daran nichts ändern.

Wang Quanan, 2006 Gold-Bären-Gewinner (Tuya’s Wedding) und regelmäßiger Berlinale-Gast, konnte 2012 mit der Adaption eines der beliebtesten Romane aus den neunziger Jahren an seine vorangegangenen Erfolge nur bedingt anknüpfen. Kameramann Lutz Reitemeier erhielt zwar den Silbernen Bären in Berlin, die heimischen Reaktionen auf White Deer Plain waren jedoch sehr gedämpft. In erster Linie fand der Film wegen einer Auseinandersetzung bezüglich der Drehbuchrechte mediale Beachtung.

In China werden jedes Jahr auch eine Reihe von Filmen gedreht, die nicht durch offizielle Stellen genehmigt werden – die sogenannten „unabhängigen Filme“. Eine genaue Zahl derartiger Produktionen ist nicht festzulegen, da immer mehr Filmemacher mithilfe digitaler Medien experimentieren. Jährlich sind es 50 Spiel- und 30 Dokumentarfilme, die es zu den unabhängigen Filmfestivals schaffen, die von engagierten Privatpersonen, allen voran dem bekannten Kunstkritiker und Filmförderer Li Xianting, ausgerichtet werden. Das sind auch die einzigen Vorführmöglichkeiten für diese Filme. Auf politischen Druck wurden 2012 die unabhängigen Filmfestivals, die immer schon eingeschränkt waren und ohne PR auskommen mussten, verboten und konnten nur teilweise im Privatkreis abgehalten werden. Die Regisseurin Yang Yang beschreibt in ihrer Doku Our Story – 10-Year Guerrilla Warfare of Beijing Queer Film Festival, der im Panorama der Berlinale 2012 lief, stellvertretend die Geschichte und Situation eines dieser Festivals.

Regisseur Lou Ye, der 1999 mit Suzhou River große internationale Beachtung gefunden hatte, geriet in den letzten Jahren immer wieder ins Blickfeld: 2006 zeigte er Summer Palace, der vor dem Hintergrund des Tiananmen-Massakers 1989 spielt und explizite Sexszenen enthält, ohne Genehmigung in Cannes und erhielt dafür fünf Jahre Berufsverbot. Sein nächster Film Spring Fever (2010) wurde heimlich zum Festival nach Cannes geschmuggelt. 2012 lief Lou Yes erster offizieller Film in Cannes in der Kategorie Un Certain Regard. Mystery ist ein geschickt verwobener Krimi über einen Mann zwischen zwei Frauen, dessen filmisch-technische Gestaltung authentisch und gleichzeitig stark konstruiert wirkt. Damit ist nun auch Lou Ye, das Enfant terrible der sogenannten Sechsten Generation der chinesischen Filmemacher, wie die meisten seiner Kollegen, zu denen auch Wang Xiaoshuai, Zhang Yuan und Jia Zhangke zählen, auf die offizielle Seite gewechselt.

Ying Liang, dem Gründer des unabhängigen Filmfestivals in Chongqing, gelang mit When Night Falls, der 2012 auch bei der Viennale zu sehen war, ein eindringliches, bedrückendes Werk. Der Film beruht auf der wahren Geschichte eines jungen Mannes, der für den Mord an sechs Shanghaier Polizisten zum Tode verurteilt wurde. Die Polizei übte erheblichen Druck auf den Regisseur aus und versuchte, die Produktion zu verhindern. Ying Liang, einer der interessantesten unabhängigen Filmemacher Chinas, bleibt jedoch relativ unpolitisch und konzentriert sich in dem Film ausschließlich auf die Mutter des Mörders und ihr Bemühen, das Handeln ihres Sohnes zu begreifen, sowie auf ihre anschließende Viktimisierung durch das undurchsichtige repressive Justizsystem. When Night Falls erhielt beim Filmfestival in Locarno den Preis für die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin.

Kaum Kinoverwertung

Beim Filmfestival in Venedig liefen zwei herausragende chinesische Filme in der Reihe Orizzonti: Fly with the Crane von Li Ruijun (Jahrgang 1983) ist eine Auseinandersetzung mit dem Sterben, gleichzeitig eine Beschreibung untergehender Traditionen und der Beziehung zwischen Großvater und Enkelkindern – ein bemerkenswertes, meditativ-spirituelles Werk. Den Orizzonti-Preis für den besten Film erhielt Three Sisters von Wang Bing (ebenfalls bei der Viennale zu sehen), dem derzeit wohl bedeutendsten Dokumentarfilmer der Volksrepublik. Wang Bing widmet sich hier erstmals nicht einem historischen Thema, sondern dringt direkt in die harte Realität: Three Sisters schildert ohne Mitleid oder Herabwürdigung das Leben dreier Schwestern in einem entlegenen Dorf: Die große Schwester wird zu einer Art Heldin, die neben Feldarbeit, Kochen und Lernen auch noch mütterliche Pflichten gegenüber den Jüngeren übernehmen muss. In kraftvollen Bildern wird der Zuseher mit dem Schmutz, der Armut und den täglichen Arbeitsabläufen der drei Mädchen konfrontiert, gleichsam stellvertretend für Millionen von Chinesen, die ein ähnliches Leben führen.

In Anbetracht der großen Menge der in China produzierten Filme ist trotz der angeführten Erfolge die Zahl der auf internationalen Filmfestivals gezeigten Filme verschwindend. Noch enttäuschender fällt die Zahl jener Filme aus, die im Ausland in den Kinos laufen. In China selbst ist das relativ gute Abschneiden der chinesischen Filme an den Kassen stark auf die Programmierung der Kinos zurückzuführen. Hollywood-Filme werden gegeneinander auf den Spielplan gesetzt, zu bestimmten Zeiten laufen ausschließlich heimische Produktionen, in Multiplex-Kinos spielt oft auf allen Leinwänden ein und derselbe Film, sodass dem Zuschauer keine Auswahl bleibt. Um auf dem chinesischen Markt mitspielen zu können, ist die jüngste Taktik, die von allen Seiten mit Eifer verfolgt wird, mehr internationale Zusammenarbeit und Koproduktionen zu fördern. Für die chinesischen Produzenten ist das eine Chance, strategisch und technisch zu lernen, und eine Gelegenheit, einen ausländischen Vertrieb zu bekommen. Für den nicht-chinesischen Partner wiederum bedeutet eine Koproduktion die Gleichbehandlung mit einem einheimischen Film, also zunächst einmal den Zutritt zum chinesischen Markt.

Koproduktionen aller Art sind in Vorbereitung, allein mit den USA sind es mehr als zehn Projekte, so etwa Keanu Reeves’ Regiedebüt Man of Tai Chi. Im Oktober 2013 soll mit dem Dreh von The Last Empress mit Gong Li in der Hauptrolle begonnen werden. Dieser Film, kofinanziert von der chinesischen Firma Seven Stars und von Allied Productions East, dem Joint-Venture-Label des verstorbenen Produzenten Jake Eberts, wird zur Gänze auf Englisch gedreht. Jean-Jacques Annaud hat mit den Vorbereitungen zur Adaption des Romans „Wolf Totem“ begonnen. Das Buch beschreibt die Erlebnisse eines jungen Mannes, der während der Kulturrevolution freiwillig in der Inneren Mongolei im Grenzgebiet zur Sowjetunion lebt, und wurde nach seiner Veröffentlichung innerhalb weniger Tagen zum Bestseller.

Was ist also in Zukunft vom chinesischen Filmschaffen zu erwarten? Mehr Klamauk wie Lost in Thailand? Tiefgehende Werke wie Three Sisters und Flying with the Crane? Oder wird es endlich wieder einmal einem chinesischen Regisseur gelingen, ein internationale Maßstäbe setzendes Meisterwerk zu schaffen, wie das einst Zhang Yimou und Chen Kaige gelang? Fragen, die auch die allmächtige Partei nicht beantworten kann.