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Das Dogma der bewegten Kamera – Jean-Pierre Devillers’ Hopper-Dokumentarfilm

Das Dogma der bewegten Kamera

| Thomas Rothschild |

Was sollte ein Dokumentarfilm über einen bildenden Künstler zeigen, wenn nicht dessen Kunstwerke? Jean-Pierre Devillers’ „Edward Hopper“ enthält uns diese weitgehend vor. Warum eigentlich?

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Mit zuverlässiger Regelmäßigkeit beschwert sich irgendjemand über die Eigenwilligkeit, mit der Theaterregisseure Bühnenvorlagen inszenieren. Kurioserweise beklagt aber kaum jemand die Machart von Filmen, die bildende Kunst zum Thema haben. Hier ist nicht die Rede von Spielfilmen, die, ihrerseits Kunstwerke, von Künstlern und deren Werk handeln, wie etwa Andrei Tarkowskis Andrei Rubljow oder Derek Jarmans Caravaggio. Gemeint sind vielmehr Dokumentationen, die vorgeben, sich mit vorhandenen Bildern auseinanderzusetzen. Das Problem, das sich dabei stellt, ähnelt dem Problem der Museumsarchitektur: Wie das Museum, so hätte der Dokumentarfilm in erster Linie dem Gegenstand, also dem Bild zu dienen. Das gerät aber oft in Vergessenheit. Die Eitelkeit der Architekten beziehungsweise der Regisseure lenkt die Aufmerksamkeit auf sie selbst, auf ihr Museum beziehungsweise ihren Film, und dadurch vom ausgestellten oder filmisch präsentierten Kunstwerk ab, statt zu ihm hin zu führen.

Als exemplarisch für dieses Phänomen kann der Film über Edward Hopper gelten, den Jean-Pierre Devillers 2012 zusammen mit Didier Ottinger für Arte France gemacht hat und der jetzt auf DVD vorliegt. Was hier über die Dokumentation La Toile blanche d’Edward Hopper gesagt wird, gilt jedoch in modifizierter Form für einen großen Teil der Produkte des Genres.

Während einige der bedeutendsten Regisseure der Filmgeschichte wie Carl Theodor Dreyer, Robert Bresson, Yasujirô Ozu, Jean Eustache, Jean-Marie Straub, der junge Fassbinder, Andrei Tarkowski, Alexander Sokurow, Béla Tarr, Michael Pilz oder, extrem, James Benning den Zuschauer zwingen, eine Einstellung geduldig zu studieren, verhindern ausgerechnet Filme über bildende Kunst die genaue Betrachtung. Schnitt, Fahrten, Schwenks und Zooms steuern den Blick, statt ihm Ruhe und Freiheit zu gewähren. Sie fragmentieren häufig ihren Gegenstand, teilen ihn in Ausschnitte von unterschiedlichem Format. Das ist, als präsentierte man eine Symphonie, indem man ihre Teile voneinander trennt wie ein Anatom die Glieder einer Leiche – eine Praxis übrigens, die Rundfunksender wie „Klassik Radio“ mittlerweile tatsächlich pflegen, wenn sie einzelne Sätze ausstrahlen und das Ganze einer Symphonie, eines Konzerts, einer Sonate barbarisch zerstören.

Edward Hoppers Bild „Le Bistro or the Wine Shop“ von 1909 und „Hotel by a Railroad“ von 1952 darf der Filmzuschauer gerade je vier Sekunden lang betrachten. „Drug Store“ von 1927 ist drei Sekunden lang zu sehen, „Summertime“ von 1943 oder „Excursion into Philosophy“ von 1959 immerhin fünf Sekunden. Über andere Bilder gleitet die Kamera hinweg, das Bild als Ganzes wird dem Zuschauer vorenthalten. „Der Blick schweift langsam über das Gemälde“, sagt der Künstler und Kritiker Brian O’Doherty in dem Film über die besondere Art, Hoppers Bilder zu betrachten. Genau das aber wird dem Filmkonsumenten verweigert: Wie soll er den Blick über etwas schweifen lassen, das sich entweder bewegt oder nach kürzester Zeit verschwindet?

Jean-Pierre Devillers positioniert leere Leinwände in unterschiedliche Umgebungen: in eine Dünenlandschaft, auf eine Staffelei oder an die Wand eines unmöblierten Zimmers, auf oder vor eine Parkbank, in eine Lagerhalle. Unfreiwillig komisch wird dieser „Einfall“, der dem unüberprüften Dogma der Inszenierung folgt, wenn im Kommentar von einer „aufkommenden Bedrohung“ die Rede ist und eine an einen Zaun gelehnte leere Leinwand umfällt. Diese Aufstellung der weißen Leinwände ist zwar ein funktionsloser Manierismus, lässt sich aber noch halbwegs im Zusammenhang mit dem Originaltitel des Films begründen: La Toile blanche d’Edward Hopper (Die leere Leinwand des Edward Hopper). Was um alles in der Welt hat dann aber die Bearbeiter der deutschen Fassung bewegt, stattdessen den Titel Das Auge des Edward Hopper zu wählen? Das ist keine freie, sondern eine unsinnige Übersetzung. [Inzwischen heißt der Film auf Deutsch nur Edward Hopper, Anm.] Überhaupt – die Übersetzungen. Sie sind ein Kapitel für sich. Was nötigt die Verfasser der deutschen Untertitel, „Porträts“ zu schreiben, wenn Hopper von „figures“ spricht? „City interiors“ sind nicht „städtische Räume“, sondern Innenräume in einer Stadt.

Manchmal wird sozusagen im Schnellverfahren auf der in den Raum gestellten leeren Leinwand ein Bild auf- und gelegentlich auch wieder ausgeblendet. Diese Leinwand, diese Bildfläche auf der Bildfläche dient auch als Projektionsfläche für Dokumentarfilmaufnahmen, etwa von Edward Hopper oder seiner Frau Josephine, die Statements abgeben, von Hoppers Vorfahren oder auch von Hitler und Mussolini. Und auch dafür wird die Mini-Leinwand in einen fahrenden Aufzug oder auf einen Sandstrand gestellt. Was soll das leisten? Es dient lediglich einem vermuteten Abwechslungsbedürfnis von Zuschauern, denen es nicht reicht, sich auf gesprochene Sprache zu konzentrieren und in ein Gesicht zu vertiefen.

Zwischengeschnitten werden Szenen aus Filmen, deren Macher offensichtlich von Edward Hopper inspiriert sind – etwa aus Paris Texas, Der amerikanische Freund und Don’t Come Knocking von Wim Wenders, aus Mullholland Drive von David Lynch oder aus Pennies from Heaven von Herbert Ross. Das wäre in der Tat ein fruchtbarer Ansatz, ein Zugang zur Aktualität von Hopper. Aber Devillers macht den Zusammenhang nicht deutlich. Er analysiert nicht die Funktion der Filmszenen in der Konfrontation mit formal oder thematisch vergleichbaren Bildern Hoppers. Ohne Zweifel ist die Affinität zwischen Hitchcocks Psycho und Rear Window oder Robert Siodmaks The Killers und Hoppers Bildern einerseits und zwischen diesen und Wim Wenders’ Filmen andererseits sehr verschieden – aber darauf geht Devillers nicht ein.

Der Kommentar ist, wie so oft, wenn von Kunst die Rede ist, prätentiös, intellektueller Leerlauf: „Es wirft sowohl das Licht der Wahrheit auf die Welt, als auch die Schatten seines trügerischen Illusionstheaters.“ Die klügsten Aussagen zu Hopper macht Wim Wenders, der freilich aus der Perspektive eines Filmemachers spricht. Aber auch er verwickelt sich in Widersprüche. Nachdem er Hoppers Bilder ausführlich auf ihre Botschaft hin analysiert hat, nachdem er aus ihnen – etwa aus „Gas“ von 1940 – ganze Geschichten herausgelesen und weitergesponnen hat, kommt er zu dem überraschenden Schluss: „Das einzige Thema ist das Licht.“

Die Misere, die hier am Beispiel des Films über Edward Hopper beklagt wird, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist eine Folge dogmatischen Denkens, hier: des Dogmas, dass es im Film Bewegung geben müsse. Wo es an Bewegung mangelt, ist der vorwurfsvolle Vergleich mit der Dia-Schau nicht fern, wie beim dialoglastigen Drama der Hinweis auf das Hörspiel. Harun Farocki hat vor längerer Zeit einmal vorgeschlagen, im Dokumentarfilm Schwarzkader einzusetzen, wenn es zu einer Mitteilung keine Bilder gebe. Auch er verstieß damit gegen das Dogma, dass Film stets aus Bildern zu bestehen habe. Künste verändern sich. Was heute verpönt ist – etwa Talking Heads im Dokumentarfilm oder das Pathos auf der Bühne –, kann morgen als Gestaltungsmittel neu entdeckt werden. Darüber hinaus gibt es aber das Kriterium der Adäquatheit. Wie immer man zum Dogma des bewegten Bildes als Voraussetzung des Films stehen mag: Der filmischen Betrachtung von unbewegten Kunstwerken ist es nicht angemessen.

Dann doch lieber Andrei Rubljow und Caravaggio.