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Die jagd – Waidmanns Unheil

Waidmanns Unheil

| Alexandra Seitz |

Thomas Vinterberg stellt in „Jagten“ einen Mann unter Missbrauchsverdacht, zeigt den sich verselbständigenden Verlauf einer kollektiven Hysterie und unterwirft den Zuschauer einer Zerreißprobe.

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Der 40-jährige Lucas ist noch nicht lange von seiner Frau geschieden, die Gefühle sind nach wie vor schmerzlich aufgewühlt, und der Streit um das Umgangsrecht mit dem gemeinsamen, halbwüchsigen Sohn Marcus sorgt für Konflikte. Lucas arbeitet in einem Kindergarten am Rand einer dänischen Kleinstadt: Propere Einfamilienhäuser grenzen an einen prächtigen Wald, in dem ein stattliches Jagdschloss steht, das einem seiner guten Freunde gehört. Hier kippt sich eine eingeschworene Kumpel-Runde nach vollbrachtem Männlichkeitsbeweis (vulgo: Jagd) gerne ein paar hinter die Binde und schwadroniert lautstark Zotiges. Danach liefert Lucas den volltrunkenen, besten Freund Theo bei dessen Frau Agnes ab. Deren gemeinsame Tochter Klara wiederum geht zu Lucas in den Kindergarten. Manchmal nimmt er sie auf dem Weg in die Arbeit gleich mit. Klara ist eine verträumte Fünfjährige, die beim Gehen nicht gern auf Linien treten mag, und die für den erwachsenen Mann schwärmt, wie kleine Mädchen das mitunter eben tun.
Eines Tages passieren eine Reihe von Kleinigkeiten, die für sich genommen nicht mehr als irgendwie blöd, doof oder dumm sind. Die sich aber verhängnisvoll ineinander schieben, Missverständnisse erzeugen, die weitere Missverständnisse nach sich ziehen, sich schließlich summieren und am Ende bei Grethe, der Leiterin des Kindergartens, den Eindruck entstehen lassen, Lucas habe Klara seinen erigierten Penis gezeigt. Ein über die Maßen schockierender Gedanke, auf den Grethe zunächst noch mit Bedacht zu reagieren versucht; doch bald schon wird sie der in ihr aufsteigenden Panik nicht mehr Herr – wer könnte es ihr verdenken? – und das Unheil nimmt seinen Lauf. Ehe Lucas auch nur begreift, was da geschieht, was sich über ihm zusammenbraut und sein Leben unwiderruflich ändern wird, ist die Menschenjagd auf ihn auch schon in vollem Gange. Unaufhaltsam und zunehmend eskalierend lassen die Ereignisse in dem kleinstädtischen Gemeinwesen in der Folge keinen Stein mehr auf dem anderen.

Man muss das so ausführlich erzählen. Denn die Sorgfalt, die Thomas Vinterberg in Jagten darauf verwendet, die Entstehung des Verhängnisses als Verkettung unglücklicher Umstände zu schildern, ist das A und O seines Films. Er wendet darin die Parabel vom Gerücht, das wie ein Haufen Federn ist, die, einmal in alle Winde zerstreut, sich nie wieder vollständig einsammeln lassen, auf eine der schwierigsten Situationen an, in die ein sozialer Zusammenhang geraten kann: Ein Kind erzählt etwas, das einen grausigen Verdacht nahelegt. Kinder erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Zugleich ist der Verdacht einer, der umstandslos sofortiges Handeln fordert. Was aber, wenn sich der Verdacht als unbegründet erweist? Einmal gehegt und in Umlauf gebracht, zeitigt er Folgen, die sich nicht mehr einholen lassen. Vorsicht ist also die Mutter der Porzellankiste. Aber Vorsicht ist keine Option, wenn ein Kind in Gefahr schwebt. Ein Dilemma. Ein Eiertanz auf dünnem Eis, das sich zwischen dem Unaussprechlichen und dem Unvorstellbaren erstreckt.
Kindesmissbrauch, das muss an dieser Stelle mal gesagt werden, ist ein Scheißthema für einen Spielfilm. Wie soll man was darstellen? Zu welchem Zweck überhaupt? Um Mitgefühl für das Opfer zu wecken? Eh klar! Verständnis für den Täter? So weit kommt’s noch! Wie soll man bei einem solchen Thema die Contenance bewahren? Niedere Instinkte im Zaum halten? Nicht fehlgehen? Markus Schleinzers skandalös ausbeuterischer Unwohlfühlfilm Michael, der sich am Tabu der Annäherung an die Psyche eines Kindsmissbrauchers abarbeitet und fulminant scheitert, hat gezeigt, was passiert, wenn die moralische Haltung zum Gegenstand fehlt. Man kann und darf sich in einem solchen Kontext nicht vor dem Urteil drücken.

So gesehen ist Jagten schon mal fein aus dem Schneider, weil es in dieser Geschichte keinen Täter gibt, bloß Opfer. Opfer von voreiligen Schlüssen und Fehlinterpretationen. Von Paranoia, Panik und blühender Fantasie. Von gekränkter Eitelkeit. Von Naivität. Von eigener und fremder Schwäche. Schließlich, und nicht zuletzt, Opfer von mangelndem Vertrauen und der Unfähigkeit, zuzuhören. Am heiklen Fall seines Protagonisten, der in einem Provinzkaff in einem Kindergarten arbeitet – und beäugt man diese Zunft nicht eh mit Misstrauen, stehen diese Männer nicht ohnehin unter Generalverdacht? – zeigt Vinterberg den sich mit rasender Geschwindigkeit verselbständigenden Verlauf einer kollektiven Hysterie. Demonstriert die Entstehung eines Ausschlussmechanismus, einer Stigmatisierung, die auch dann noch greift, als Lucas von der Polizei wieder freigelassen wird, weil sich die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen als haltlos erwiesen haben.
Dass er sich dieser gravierenden Störung und letztlich Zerstörung einer sozialen Struktur am Beispiel eines Missbrauchsverdachts widmet, ehrt Vinterberg, macht seinen Film aber auch besonders leicht angreifbar. Ruhe bewahren ist angesichts der Ungeheuerlichkeit des die Geschehnisse motivierenden Vorwurfs schwierig, Schnappatmung naheliegend. Ruhe zu bewahren ist aber genau das, was Vinterberg von seinen Zuschauern fordert. Er führt sie mitten in ein Minenfeld extremer Gefühle und widerstreitender Positionen, die allesamt nachvollziehbar und nachfühlbar sind: das Entsetzen, das Unverständnis, die Gewalt, die Verachtung, das Aufbäumen, die Angst. Auf beiden Seiten – jener Lucas’ und jener seiner Freunde und Bekannten, die zu Feinden und zu Aggressoren werden – sind vergleichbare Gefühle und Motive im Spiel. Für beide Seiten hat man Verständnis, von beiden Seiten aus gesehen wohnt der Entwicklung etwas Logisches und Folgerichtiges inne. Jagten unterwirft den Zuschauer einer Zerreißprobe und zwingt ihm die profund unangenehme Erfahrung auf, zu wissen, dass das, was geschieht, falsch ist, während zugleich klar ist, dass es nicht anders als eben so geschehen kann, und man selbst in einer vergleichbaren Situation auch nicht wesentlich besser dastünde. Das ist ein schrecklicher Gedanke und um schreckliche Gedanken zu haben, geht man ja eigentlich nicht ins Kino.
Also sitzen wir da und wünschen den Protagonisten – denen gegenüber wir freilich den Wissensvorsprung haben, dass nichts Schlimmes passiert ist – Besonnenheit. Und wissen um die Vergeblichkeit des Wunsches. Unwiederbringlich verloren ist am Ende die Unschuld, irreparabel gestört das Vertrauen. Angesichts des unseligen Wirkens von Fama hat sich der klare Konnex von Schuld und Sühne aufgelöst. Was bleibt, sind Zwielicht und Gemurmel hinter vorgehaltener Hand.

Für das Drehbuch zu Jagten wurde Vinterberg gemeinsam mit Ko-Autor Tobias Lindholm der Europäische Filmpreis zuerkannt. Bei den vorjährigen Filmfestspielen in Cannes erhielt der Film den Preis der Ökumenischen Jury. Mads Mikkelsen wiederum wurde dort für seine schauspielerische Tour de Force als Lucas mit dem Preis für den Besten Schauspieler ausgezeichnet. Es ist eine Respekt gebietende Leistung, schonungslos und genau, die dem Film sein emotionales Zentrum gibt: einen Mann, der auf die Zuneigung eines kleinen Mädchens reagiert, das ihm nahe steht. Beide büßen bitter dafür.