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Captive – Der Gefühlsextremist

Der Gefühlsextremist

| Pamela Jahn |

Brillante Mendoza im Gespräch über seinen neuen Film Captive, den Unabhängigkeitskampf auf den Philippinen, das Geschäft mit der Ware Mensch und über Kino als totale Erfahrung.

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Wer schon einmal einen Film von Brillante Mendoza gesehen hat, weiß, worauf er sich einlässt – alle anderen seien hiermit vorgewarnt. Nachdem seine frühen Werke Slingshot (2007) und Serbis (2008) die internationale Filmfestivalwelt aufhorchen ließen und vor allem verblüfften, war seine künstlerische Kraft in Kinatay (2009) nicht mehr zu übersehen. Erzählt wird darin mittels schmerzlich dokumentarischer Präzisionsarbeit die Geschichte eines jungen Mannes, der in den brutalen Mord an einer Prostituierten verwickelt wird. Waren die Filme des 52-jährigen Regisseurs bisher eher schwer verdauliche, höchst intensive Momentaufnahmen, erweitert Mendoza mit Captive seinen Blick um eine politische Dimension der Machtverhältnisse in seinem Heimatland. Anhand des philippinischen Geiseldramas im Jahr 2000, bei dem eine Gruppe ausländischer Touristen irrtümlicherweise durch die Rebellengruppe Abu Sayyaf, die für die Unabhängigkeit des muslimischen Mindanao kämpft, gekidnappt wurde, nimmt er den Zuschauer diesmal mit auf einen scheinbar end- und aussichtslosen Marsch durch den Dschungel und in die ambivalenten Innenwelten eines in sich geschlossenen Universums, das nach der Wahrheit fragt und zugleich den Realismus der Unmittelbarkeit zum Prinzip erklärt.

Das Geiseldrama, das Sie im Film beschreiben, beruht auf wahren Begebenheiten. Wer und was genau steckte damals hinter den Entführungen? Und was hat Sie dazu bewogen, einen Film darüber zu machen?
Geiselnahmen sind auf Mindanao keine Seltenheit. Auf den Südphilippinen kämpfen seit Jahren separatistische Rebellengruppen für einen eigenständigen islamischen Staat, eine davon ist die Terrororganisation Abu Sayyaf. Dieser Kampf um die Unabhängigkeit der muslimischen Region entbrannte bereits, bevor die Spanier Mitte des 16. Jahrhunderts die Philippinen kolonialisierten und die Bevölkerung zum Katholizismus zu bekehren versuchten. Und er verschärfte sich erneut, als die Philippinen 1946 ein unabhängiger Staat wurden. Mit anderen Worten: Der Konflikt zwischen den muslimischen Moros und der Regierung hat eine lange Vorgeschichte und das Geiselgeschäft ist seit je- her Teil dieser Auseinandersetzung und ein ziemlich lukratives Mittel, die Regierungen unter Druck zu setzen. Fast jeden Tag gibt es eine neue Meldung über eine Entführung von Touristen oder Geschäftsleuten in den Medien, und das hat mich einfach mehr und mehr beschäftigt. Ich halte nichts davon, Gebietsansprüche mit Gewalt und auf Kosten von Menschenleben durchzusetzen. Und so habe ich langsam angefangen, die Idee zu entwickeln, aber ich hatte lange keine konkrete Geschichte im Kopf, bis ich schließlich auf den Fall aufmerksam wurde, der im Film beschrieben wird.

Was unterscheidet diese Entführung von anderen?
Es war der umstrittenste Fall überhaupt. Das Geiseldrama zog sich über Monate hin, nicht nur die philippinische Regierung war darin verwickelt, sondern auch das Militär sowie mehrere westliche Regierungen. Dennoch wurden sowohl währenddessen als auch danach kaum Informationen an die Öffentlichkeit weitergegeben, und das hat mich interessiert. Ich habe dann versucht, genauer zu recherchieren und der Sache auf den Grund zu gehen, aber es war auch im Nachhinein nicht einfach, als Außenstehender an Informationen zu gelangen, was die Arbeit am Drehbuch erheblich erschwerte.

Hatten Sie von vornherein an Isabelle Huppert für die Rolle der französischen Missionarin gedacht, die im Film innerhalb der Gruppe der Entführten eine zentrale Rolle einnimmt?
Nein, im Grunde brauchte ich einfach einen Ausländer oder eine Ausländerin, aber ich habe dabei nicht unmittelbar an Isabelle gedacht. Wir haben uns 2009 in Cannes kennen gelernt, als ich dort für Kinatay den Preis für die beste Regie erhielt. Isabelle war in dem Jahr die Jurypräsidentin. Einige Monate später trafen wir uns zufällig in São Paulo wieder, wo sie für Robert Wilson auf der Bühne stand, während ich Kinatay bei einem Festival präsentierte. Ich erzählte ihr dann von dem Projekt, und sie war sofort interessiert. Es gab unter den Entführten tatsächlich eine Französin, und ich habe mich dann entschieden, diese Figur im Film etwas mehr in den Vordergrund zu rücken. Aber die Rolle an sich ist nicht auf Isabelle zugeschnitten, es hätte genauso gut eine Amerikanerin oder Engländerin sein können.

Sie legen den Schwerpunkt der Beobachtungen verstärkt auf das Verhältnis zwischen den Entführern und ihren Gefangenen und weniger auf die Beziehung der Geiseln untereinander. Gab es da keine Konflikte innerhalb der Gruppe der Entführten hinsichtlich der verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten, aus denen sie stammten, oder auch was die verzögerten Lösegeldzahlungen der verschiedenen Regierungen angeht?
Indem ich mich auf Isabelles Rolle und ihre Beziehung zu den moslemischen Rebellen als auch zu den anderen Geiseln konzentriere, habe ich versucht, mich tiefer in die Situation einzufühlen als lediglich die vielen verschiedenen Figuren des Films miteinander zu verbinden. Und es war mir sehr wichtig, diese zwiespältige, hochexplosive emotionale Atmosphäre im Verhältnis der Abu Sayyaf untereinander zu zeigen, wie etwa in der Szene zwischen Isabelle und dem Jungen im Dschungel angedeutet ist. Man spürt, dass sich da zwischen ihnen eine eher freundschaftliche Beziehung anbahnt, aber am Ende ist und bleibt der Junge ein gefährlicher Kämpfer.

Wie viel Hintergrundinformationen hinsichtlich der politischen Situation auf den Philippinen und konkret in Bezug auf die Moro-Befreiungsbewegung haben Sie den Schauspielern vorab gegeben?
Ich gebe nie viel Hintergrundinformation zu den Themen, die meine Filme behandeln, oder was meine eigenen Intentionen als Regisseur betrifft. Ich gebe meinen Schauspielern lediglich Hinweise, die zur Charakterbildung ihrer Figuren von Bedeutung sind, weil jede zusätzliche Information die Unmittelbarkeit der dargestellten Situation beeinflusst. Außerdem tut es in dem Moment für die Schauspieler auch nichts zur Sache, was ich als Regisseur denke, beziehungsweise was die politische Dimension des Geiseldramas angeht. Sie sollen sich vielmehr darauf konzentrieren, sich in ihre Figuren hineinzudenken, also was sie in dem Moment der Entführung empfinden und wie sich ihre Charaktere im Laufe des langwierigen Prozesses der Geiselnahme verändern. Keine der Geiseln, die damals, 2001, tatsächlich entführt wurden, hat zuvor über die politischen Implikationen nachgedacht. Und was die Darstellung dessen im Film angeht, ist es an mir, sich darüber Gedanken zu machen. Aus diesem Grund gebe ich meinen Schauspielern auch das Skript nicht direkt in die Hand, sondern erkläre ihnen zunächst die einzelnen Charaktere und Figurenkonstellationen. In der Vorbereitungsphase zu Captive haben wir zudem einige der Entführten dieser und anderer Geiselnahmen eingeladen, mit den Schauspielern über ihre Erfahrungen zu sprechen, aber mehr nicht.

Als Zuschauer bekommt man dadurch einen sehr authentischen Eindruck von den Ereignissen, vor allem, was die Szenen im Urwald anbelangt. Haben Sie sich in diesen Momenten mitunter von den Zufälligkeiten der Natur leiten lassen, oder war alles so oder ähnlich bereits vorab im Drehbuch festgehalten?
Fast alles stand auch so im Drehbuch. Ich arbeite immer nach einem sehr detaillierten Konzept, auch wenn dann am Set letztlich alles passieren kann. Ich will damit sagen, ich bin grundsätzlich offen für Improvisation. Aber was beispielsweise die verschiedenen Lebewesen angeht, die in den Szenen im Dschungel zum Einsatz kommen, diese dienen im Grunde als Anzeichen für einen Übergang, einen Wandlungsprozess innerhalb der Handlung, das heißt, sie sind ein integraler Bestandteil der Erzählstruktur. Zudem sieht man derartige Kreaturen tagtäglich im Urwald, es war also nur logisch, dass wir sie auch im Film auftreten lassen. Um Ihnen noch ein anderes Beispiel zu nennen: Isabelle hat tatsächlich eine schreckliche Erfahrung mit den Riesenameisen gemacht, die es im Dschungel gibt. Sie wurde während der Dreharbeiten ganz übel gebissen und ist fast verrückt geworden. Aber auch das gehört dazu.

Hat sich die Entscheidung, chronologisch zu drehen, als Vorteil erwiesen?
Ja, unbedingt. Was mir auch sehr wichtig war: Ich habe die Darsteller, die die Geiseln spielen, im Vorfeld von denjenigen getrennt, die die Entführer spielen. Sie sind dann wirklich am ersten Drehtag zum ersten Mal aufeinandergetroffen, als wir den Moment der Geiselnahme gedreht haben. Deshalb gibt es in dieser Szene auch kaum Dialoge. Aber es wird eine unmittelbare Spannung und Verwirrung erzeugt, die ich nicht erreicht hätte, wenn wir die Szene vorab geprobt hätten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Isabelle danach zu mir kam und mich fragte: „Sind das eigentlich auch Schauspieler oder echte Abu Sayyaf?“ Denn auch mit ihr hatte ich vorab nichts besprochen. Und deshalb bin ich auch grundsätzlich gegen Proben vor Drehbeginn, weil ich eben genau diese unverarbeiteten Emotionen einfangen will.  

Was bedeutet Kino in dieser Hinsicht für Sie und für Ihre Arbeit? Welches Verständnis von Kino haben Sie?
Ich möchte die Zuschauer so gut und so weit es geht in die Geschichte integrieren. Für mich ist Kino eine totale Erfahrung. Es kommt darauf an, die Zuschauer zu überraschen, allein darum geht es – ob die Überraschung letztlich gut oder schlecht ist, ob sie angenehm ist oder nicht, ist eine andere Frage. Die Hauptsache ist, dass man als Zuschauer ein Gefühl dafür bekommt, was sich auf der Leinwand abspielt, und dass man teilnimmt an dem, was da passiert. Ich will, dass die Zuschauer quasi am eigenen Leib verspüren, was es bedeutet, in einem winzigen Raum zusammengepfercht mit anderen Menschen zu hocken, dass sie den Schweiß riechen können, sich schmutzig fühlen, ihnen schwindlig wird vor Angst. Aber ich bin mir durchaus bewusst, dass nicht alle Zuschauer meinen Anspruch an das Kino teilen und diesbezüglich weniger abenteuerlustig sind. Ich weiß, dass ich mit meinen Filmen nicht alle Zuschauer erreichen und zufriedenstellen kann.

Immerhin zählen Sie gemeinsam mit Lav Diaz zu den wichtigsten Vertretern des neuen philippinischen Kinos. Hat der Erfolg, den Sie nicht zuletzt mit Kinatay hatten, Ihre Arbeitsweise oder die Themen Ihrer Filme beeinflusst?
Als Filmemacher geht es mir darum, mich und meine Fähigkeiten stets und ständig herauszufordern, ohne dabei meine eigene Identität zu verlieren. Ich genieße es, nun die Möglichkeit zu haben, zwischen größeren und kleinen Produktionen zu wechseln. Ich bin ein sehr aktiver Mensch, was meine Arbeit angeht. Und es gibt so vieles, was in meinem Kopf vorgeht, so viele Ideen, die ich gerne verwirklichen würde. Allerdings bin ich mir auch darüber im Klaren, dass die Geschichten, die mich interessieren, mitunter viel Zeit und Feingefühl erfordern. Aber ich mag das. Das hält meinen kreativen Geist wach und die ständigen Herausforderungen, die sich dabei stellen, geben mir immer wieder neue Energie für meine Arbeit. Sie werden sich wundern, was mein nächster Film sein wird. Der ist wieder ganz anders als Captive.  

Können Sie da schon Genaueres verraten?
Nein. Aber es wird wieder auf jeden Fall wieder ein kleinerer Film, traumatischer und noch emotionaler – zurück zu extremen Gefühlslagen.  

Gab es eigentlich Versuche seitens der philippinischen Regierung oder anderer Autoritäten, den Film zu stoppen oder zumindest die Dreharbeiten zu Captive zu kontrollieren?
Ja, das Militär hat versucht, den Film zu verhindern, und man hat uns gezwungen, ein Formular zu unterschreiben, das besagt, dass wir das Militär auf keinen Fall in einem schlechten Licht darstellen. Ich habe das nicht unterschrieben, aber meine Produzenten. Aber natürlich habe ich meine eigenen Mittel und Wege, wie ich die Dinge darstelle … nicht um irgendjemanden in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, sondern einzig und allein, um die Wahrheit zu zeigen.