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Fernsehserien – Wenn die Knusperhütte brennt – Schneewittchen & Co, wiederbelebt in „Once Upon a Time“

Wenn die Knusperhütte brennt

| Roman Scheiber |

Seit einiger Zeit herrscht in Hollywood Hausse für Märchen-Wiederbelebung, insbesondere Schneewittchen-Stoffe. Interessanter als die meisten dieser Filme ist – wieder einmal – eine Serien-Produktion: „Once Upon a Time“.

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Eine Zeit lang waren es Fantasy-Filme, dann erreichte der Ausstoß an Superhelden auf der Leinwand eine ungeahnte Dimension. Krise befeuert Eskapismus, schon klar. Aber wer hätte gedacht, dass Hollywood sich mit einer solchen Inbrunst in den Grimm’schen Volkssagenkosmos stürzen würde, dass der ganze Düsterwald in Flammen aufzugehen droht? Los ging es schon 2005, als Terry Gilliam in seiner Metafiktion The Brothers Grimm die verdienten Märchensammler Jacob und Wilhelm frei als Hexenjäger und Hochstapler ausfabulierte. Frechen Nachahmungstätern stand nun die Tür zum Knusperhäuschen weit offen – ganz im Geiste der oft über Jahrhunderte in vielen Versionen weiter-

gesponnenen Geschichten, die erst von den Grimms festgeschrieben und kanonisiert wurden. In der Serie Grimm (seit 2011) ist der Titelheld denn auch ein Nachfahre der Brüder, der als Polizist supernaturale Wesen aufspürt. Inzwischen waren Rotkäppchen und der (in diesem Fall Wer-)Wolf dran, in Red Riding Hood (Catherine Hardwicke, 2011), oder jüngst Hänsel Jeremy Renner und Gretel Gemma Arterton im Konzept-Straßenfeger Hansel & Gretel Witchhunters (Tommy Wirkola, 2013). Cinderella, hierzulande unter dem Namen Aschenputtel bekannt, soll 2014 in der Regie von Kenneth Branagh folgen. Und natürlich sind die Zeiten goldrichtig, die entsprechenden Disney-Trickfilmklassiker aufwändig zu restaurieren und als blu-ray auf den Markt zu werfen; unter diesen findet sich auch jene Märchenfigur, die derzeit die meisten „Live Action“-Bearbeitungen für sich verbuchen kann, berühmt für ihre blutroten Lippen, ebenholzschwarzen Haare und schneeweiße Haut: von der mit weltweit 400 Millionen Dollar Einspiel erfolgreichsten Verfilmung Snow White and the Huntsman (Rupert Sanders, mit Vampiropfer Kristen Stewart und Charlize Theron als ultraböser Stiefmutter, am Sequel wird schon gewerkelt), Tarsem Singhs phantasievoll-opulenter Neudeutung Mirror Mirror (mit der süßen Phil-Collins-Tochter Lily und Julia Roberts als Stiefmutterzicke, „ray“ 04/12), bis zu einer spanischen Schwarzweiß-Stummfilmfassung (Blancanieves, Pablo Berger) oder der Verarbeitung im Billighorror-Fleischwolf (Snow White: A Deadly Summer, alle 2012).

Schneewittchen steht also hoch im Kurs und daher auch im Zentrum einer neuen ABC-Disney-Fernsehserie. In Once Upon a Time wird sie allerdings nicht nur von der Stiefmutter verachtet und von den sieben Zwergen umsorgt, sondern mit einem ganzen Arsenal an anderen Märchen- und realitätsnah gebas-telten Figuren in Berührung gebracht. Der Witz an der Sache ist, dass einem jede Figur in zweierlei Gestalt entgegentritt. Denn die Einwohner des verschlafenen Örtchens in Maine mit dem sprechenden Namen Storybrooke, an dem die Gegenwarts­ebene der Geschichte spielt, sind allesamt dazu gezwungen, ein unbewusstes Leben als Märchencharaktere zu führen – was sie irgendwie ihrer königlich gnadenlosen Bürgermeisterin (Lana Parrilla) verdanken dürften. Als es die Kautionsagentin Emma (Jennifer Morrison) wegen ihres nach der Geburt zur Adoption freigegebenen, zehnjährigen Sohnes Henry (Jared Gilmore) nach Storybrooke verschlägt, scheint sich ein Zeitfenster zur Erlösung der Gemeinde von ihrem Fluch aufzutun. In weiteren tragenden Doppelfunktionen, gut gecastet: Ginnifer Goodwin, Josh Dallas und der großartige Robert Carlyle (ach, wie gut, dass niemand weiß, in welcher Rolle).

Was Once Upon a Time von den meisten der aktuellen Hollywood-Märchenverfilmungen, abgesehen vielleicht vom erwähnten Mirror Mirror (und natürlich abgesehen von rund 15 Stunden Gesamtlauflänge pro Season), wesentlich unterscheidet: Sie hat Herz. Man spürt, dass ihre Macher nicht vorrangig auf Effekthascherei oder Profit aus sind. Sie erfinden Vor- und Nachgeschichten für ihre Märchencharaktere und versuchen, originelle Brücken zwischen Phantasiewelt und realitätsnaher Gegenwart zu schlagen. Mannigfache daraus entstehende vWechselwirkungen zwischen den Figuren und Plotlinien machen den Reiz der Serie aus.

Für Puristen ist das Treiben der Märchen-Mixwerkstatt um Adam Horowitz und Edward Kitsis natürlich nichts, aber im Vergleich zu seelenarmen Spezialeffektspektakeln wie Hansel & Gretel Witchhunters, einer Art Brachial-Kehraus mit Turbo-Hexenbesen, wirkt Once Upon a Time wie ein aus Hopfen und Lindenblüten extrahiertes Stimulationselixier für Feingeister. Trotz ihres zuweilen am Rand der Seifenoper schrammenden romantischen Gestus vermählt die Serie in dicken Strichen ausgemalte Kindheitserinnerungen an Gutenachtgeschichten mit einem erwachsenen Realitätssinn auf wunderbare – und familientaugliche – Weise. Einziger Störfaktor sind die für Network-Serien typischen, auf Werbepausen hingeschriebenen Mini-Cliffhanger.

Neben der mitunter überraschenden und gegebenenfalls zum Ratespiel vor dem Fernsehgerät einladenden Charakterdoppelzeichnung übt Once Upon a Time sich in der Kunst der pfiffigen Übergänge. Man bekommt mehr zu sehen als nur Märchenbuchbilder, die plötzlich zum Leben erwachen. Die gegenwärtigen werden mit den Fantasy-Erzählfäden immer wieder so anschmiegsam verknotet, dass sie regelmäßig narrativen Mehrwert ergeben. Und nicht zuletzt geht es herrlich verspielt zu, im Märchen-Potpourri von Once Upon a Time: Da darf ein Flaschengeist fast schon angewidert routiniert seine Leier von den drei Wünschen herunterkurbeln – auch einem König gegenüber. Da darf einer der sieben Zwerge sich veritabel in eine Zauberstaub-Transport-Fee verschauen. Und wenn die Figuren in der realen Welt aufeinander treffen, dürfen sie das auch im Märchen: Schneewittchen trifft Rotkäppchen, und einmal halten die beiden gar gemeinsam mit Rotkäppchens resoluter Oma, mit Geppetto, Pinocchio, der sprechenden Grille Jiminy Cricket, der entzückenden blauen Fee und natürlich mit Prince Charming Kriegsrat, um die böse Königin zu bezwingen.

Dass ein Spin-off zur Serie unter dem Titel Once Upon a Time in Wonderland so gut wie fix sein dürfte, ist demgemäß eine gute Nachricht. Insbesondere für Erwachsene, die sich allzu weit von der Phantasiewelt ihrer Kindheit entfernt haben. Wenn das Kind in einem nicht gestorben ist: Hier kann man ihm auf zwar höchst amerikanische, nichtsdestoweniger herzerfrischende Weise neues Leben einhauchen.