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The Place Beyond the Pines – Auf Blitz folgt Donner

Auf Blitz folgt Donner

| Roman Scheiber |

Das ambitionierte Vater-Sohn-Triptychon „The Place Beyond the Pines“ von Derek Cianfrance.

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Schon die Eröffnung macht deutlich, welch hohe kreative Ambition dieser Film hat. In einer langen Kamerafahrt folgen wir dem Helden ins Zentrum einer Jahrmarktsattraktion, zu deren Hauptdarstellern er gehört. Luke heißt er, beyond cool sieht er aus, und so gibt er sich auch. Augenfälligstes Kennzeichen neben seinen blondierten Haaren ist ein Tränen-Tattoo über dem linken Wangenknochen. Er zieht seine Lederjacke an, setzt einen Helm auf, schwingt sich auf ein Enduro-Bike und begibt sich zu zwei weiteren Motorradfahrern in einen engen, kugelförmigen Stahlkäfig, um als „Daredevil“ rasend schnelle wie überlebenswichtig genau getaktete Kreise zu ziehen. Daraus entsteht ein perverses Spektakel vor den Augen der Jahrmarktsbesucher und in nah heranrückender Aufnahme vor unseren: eine Art Umkehrung des faradayschen Käfigs, die Blitze nicht ablenkt und vor ihnen schützt, sondern erst entstehen lässt, und die den Donner in Form eines Unfalls vorausahnen lässt. „If you ride like lightning, you’ll crash like thunder“, sagt denn auch später ein Freund zu Luke.
Der für den Film quintessenzielle Satz des Freundes, noch mehr aber diese erste und einzige Szene aus dem prekären Berufsleben des Stunt-Bikers verweisen recht plakativ darauf, dass Luke (Ryan Gosling) sich wie in einem Highspeed-Hamsterrad bewegt, in atemraubendem Tempo auf der Stelle tritt, zu überhitzen und zu explodieren droht. Was natürlich auch passiert: Nachdem er erfahren hat, dass einer Affäre beim vorigen Gastspiel hier in Schenectady, New York, ein Sohn entsprungen ist, beschließt Luke aus dem Bauch heraus, zu bleiben und sich um den Kleinen zu kümmern – gegen den Willen der Mutter (Eva Mendes), die schon einen anderen Versorger gefunden hat. Luke meint, diesen nur mit viel Geld toppen zu können, und verfährt sich in der Folge heillos in einer Serie immer riskanterer – und löblicherweise höchst wirklichkeitsnah inszenierter – Banküberfälle. Gas geben, ohne vorwärts zu kommen: Auch die überaus heterogen motivierten Tattoos, die seinen muskulösen Oberkörper so zahlreich bedecken, dass man sie kaum alle erkennen kann, künden überdeutlich vom Zuviel, aus dem Zuwenig wird. Nachdem sein Komplize (Ben Mendelsohn) ihm den oben zitierten Satz und sich selbst von ihm losgesagt hat, steuert der adrenalinsüchtige, selbsternannte Verantwortungsträger auf Teufel komm raus die nächsten Banken an – und der Teufel kommt raus. Ende erster Akt.

No Easy Rider

In seiner ersten Zusammenarbeit mit Ryan Gosling, inzwischen einer der gefragtesten Schauspieler der Gegenwart, hatte der 1974 in Colorado geborene Regisseur und Autor Derek Cianfrance vom Ende einer Beziehung erzählt. Blue Valentine (2010), großartig gespielt von Gosling und Michelle Williams, berührte und überzeugte nicht zuletzt durch eine ingeniöse Vor- und Rückblende-Struktur. Obwohl chronologisch erzählt, legte Cianfrance sich mit The Place Beyond the Pines die Latte nun gleich mehrere Stufen höher. Denn im zweiten Akt dreht sich die Handlung scharf in eine andere Richtung. Es treten eine neue Hauptfigur, Avery (Bradley Cooper als junger Streifenpolizist), wie Luke Vater eines einjährigen Sohnes, und eine ganze Reihe neuer Nebenfiguren auf den Plan. Fast gänzlich auf Avery, der einen folgenreichen Anfängerfehler begeht und diesen folgenreich verdrängt, verschiebt sich nun die Perspektive des Films. Um ihn herum wird ein neues Milieu aufgespannt, das Verbrechen auf der anderen Seite des Gesetzes untersucht.
Zu diesem Zeitpunkt entpuppt The Place Beyond the Pines sich als Hybrid, der zunächst durchaus produktiv zu verstören weiß. Nach der Mischung aus Working-Poor-Drama und Heist-Movie des ersten Teils steht plötzlich ein Korruptions-Copthriller auf dem Programm (mit dem Zähne fletschend herzlichen Ray Liotta in seiner Paraderolle als moralisch verkommenes Subjekt!). Im dritten Akt wiederum wechselt der Film erneut die Perspektive, spult die Spanne einer Jugend vorwärts und läuft auf ein gnadenlos verknotetes Vermächtnisstück aus Sicht der gleichaltrigen Söhne des Gesetzesbrechers Luke und des Gesetzeshüters Avery hinaus. Ganz am Ende des Triptychons wird der Zuschauer zurück zum Anfang geführt – Stahlkugelgefängnis und Fluchtfahrten kommen einem in den Sinn –, doch zum Glück wird der Kreis nicht ganz geschlossen: 15 Jahre nach der Eröffnungsszene fährt Lukes Sohn Jason (Dane DeHaan) mit dem Bus aufs Land, um ein gebrauchtes Motorrad zu kaufen. Wenn er nach einem knappen Wortwechsel mit dem Verkäufer aufsitzt, in die Landstraße einbiegt und davonbraust, muss das nicht heißen, dass er zwangsläufig den Zyklus seines unglücksseligen Vaters wiederholt. Doch wer vermutet, dass da eher ein Adrenalin-Junkie als ein Easy Rider Richtung belastete Zukunft als Erwachsener rast, liegt nicht nachweislich falsch.

Einholende Wirkung

Sein erster Kinofilm (Brother Tied, 1998) erzählte von Brüdern, Blue Valentine von Mann und Frau. In The Place Beyond the Pines (der von Ko-Autor Ben Coccio stammende Titel übersetzt den Ortsnamen Schenectady aus dem Irokesischen) beschäftigt Derek Cianfrance sich nun mit dem fatalen Nachhaltigkeitspotenzial elterlicher Fehlentscheidungen. Die Schlüssel­szenen des Generationendramas demonstrieren die einholende Wirkung dramatischer Kreuzungspunkte im Leben der Figuren: Ob man will oder nicht, irgendwann kommt man an jene Stelle zurück, an der man früher einmal falsch abgezweigt ist.
Überraschende Wendungen, ordentliche Dialoge, überwiegend gutes Schauspiel, zurückgenommene Kameraarbeit und einen naturalistischen Grundton, der die genre- und figurentechnisch disparaten Akte zusammenhält, attestierte die Mehrheit der US-amerikanischen Kritik. Ausgerechnet in seinem ambitioniertesten Teil jedoch verfällt der Film in einen etwas zu erklärenden Gestus und schafft es nicht, das bis dahin permanent in dezenter Spannung gehaltene Mitdenk-Niveau des Zuschauers aufrecht zu halten. Zu offensichtlich, um restlos überzeugen zu können, zeichnet sich außerdem die Konstruktion der verheerenden Verkettung im Schlussdrittel ab. Während der Zufall die ungleichen Söhne – ohne Wissen um einen einstigen Kontakt der Väter – zusammenführt und voraussehbar auf Kollisionskurs gehen lässt, verpflichtet sich der Plot längst einer anderen bevorstehenden Konfrontation, die schon ab Auftritt Jason allzu evident erscheint. So lässt der „Pay Off“-Akt durch leere Anlaufmeter die hoch gelegte Latte herunterpurzeln – daran kann auch das treffende Casting Dane DeHaans als Jason nichts ändern. (In Emory Cohen als wohlstandsverwahrlostem Sohn Averys sah ein US-Kritiker übrigens eine unfreiwillige Parodie des jungen Marlon Brando.) Immerhin: Knapp 100 der 140 Filmminuten von The Place Beyond the Pines sind richtig sehenswert.