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BLUE JASMINE

Blue Jasmine

Schein-Welten

| Oliver Stangl |

Woody Allen rechnet mit den Reichen ab, lässt aber auch das arbeitende Volk nicht ganz ungeschoren. Brillant in der Titelpartie: Cate Blanchett.

Nicht selten passiert es, dass Kritiker bei einem neuen Woody-Allen-Film sinngemäß schreiben: „Das ist das Beste, was er seit Jahren gemacht hat.“ Auch im Fall von Blue Jasmine konnte man dieses Phänomen beobachten (Viennale-Direktor Hans Hurch etwa bediente sich dieser Ausdrucksweise auf der diesjährigen Pressekonferenz des Filmfestivals, und Quentin Tarantino nahm das Werk in seine Liste der zehn besten Filme des Jahres auf). Diese Wertung hängt wohl stark davon ab, ob man eher den ernsten oder den komischen Allen bevorzugt – vielleicht sollte es also diesmal eher heißen: „Das ist das Schonungsloseste, was Woody Allen seit Jahren gemacht hat.“ Denn Blue Jasmine ist bissig und mit gesellschaftskritischen Tönen versehen wie kaum ein anderes Werk im umfangreichen Katalog des 77-jährigen Filmemachers. Dabei beginnt alles mit einem berühmten romantischen Song, den Jasmine (Cate Blanchett) in der ersten Klasse eines Flugzeugs ihrer Sitznachbarin vorsingt: „Blue Moon / You saw me standing alone / Without a dream in my heart / Without a love of my own“. Dieser Song sei gelaufen, als sie ihren Mann kennengelernt habe, so Jasmine. Die alte Dame neben ihr lächelt zunächst noch verständnisvoll, doch zusehends wird klar, dass es sich hier um kein gemütliches Gespräch handelt. Vielmehr monologisiert Jasmine, scheint die Umwelt gar nicht richtig wahrzunehmen. Binnen kurzem wird evident, dass die in edles Tuch gehüllte Frau sich in eine Traumwelt geflüchtet und die Grenze zum Wahnsinn vielleicht schon überschritten hat (Allen nimmt hier auf gelungene Weise Anleihen bei Tennessee Williams’ 1947 uraufgeführtem Drama „A Streetcar Named Desire“, das 1951 von Elia Kazan mit Marlon Brando, Vivien Leigh, Kim Hunter und Karl Malden verfilmt worden war; Jasmine erinnert in mehr als nur einer Hinsicht an die Figur der Blanche, die sich ebenfalls wahnhaft-verklärenden Erinnerungen an frühere Glanzzeiten hingibt).

Auch die Gründe für den Absturz kann man Jasmines weiteren Monologen entnehmen: Vor kurzem noch gehörte sie zur High Society von New York, führte mit ihrem Mann, dem Immobilienmagnaten Hal (Alec Baldwin) und ihrem Sohn ein Luxusleben und setzte alles daran, ihre Herkunft aus der unteren Mittelschicht zu verdrängen. Während Hal scheinbar unbemerkt seinen Machenschaften nachgeht, spielt Jasmine Polo, lässt sich Schmuck schenken und geht auf Einkaufstouren. Doch als Hals krumme Geschäfte auffliegen, begeht dieser im Gefängnis Selbstmord. Das Luxusanwesen, die Barschaft und der Schmuck werden vom Staat eingezogen. Aber obwohl sie pleite ist, will Jasmine nicht auf die Annehmlichkeiten des Lebens verzichten – was sich unter anderem darin zeigt, dass sie eben erster Klasse fliegt.

Money for nothing

Dies war es dann jedoch für eine Weile mit dem Luxus, denn nun sieht sich Jasmine gezwungen, bei ihrer Schwester Ginger einzuziehen, die mit zwei Kindern in eher ärmlichen Verhältnissen in San Francisco lebt und nach ihrer Scheidung mit dem Handwerker Chili (Bobby Cannavale) liiert ist. Während man Zeuge wird, wie Jasmine sich mit für ihre Verhältnisse niederen Arbeiten herumschlagen muss (Ordinationshilfe bei einem Arzt, der ihr nachstellt), erzählt der Film in unvermittelten Rückblenden die Vorgeschichte, schildert Jasmines Abneigung gegen ihre Schwester, der sie Mangel an Ambitionen vorwirft, zeigt, wie Hal das Geld von Ginger und ihrem Mann Augie (Andrew Dice Clay) in ein Projekt steckt, das zum Flop wird (die Ehe von Augie und Ginger bricht ob dieser Enttäuschung denn auch bald zusammen) und Jasmines Sohn wutentbrannt davonläuft, weil er über die kriminellen Machenschaften Hals entsetzt ist. Vor dem Hintergrund der US-Immobilien- und Finanzkrise (Hal erinnert nicht von ungefähr an Bernie Madoff) ist Blue Jasmine das vielleicht Politischste und Gesellschaftskritischste, was Allen je gemacht hat. Der Figur der Jasmine, die sich ob ihres rasanten Absturzes in eine Scheinwelt flüchtet, wird vor diesem Hintergrund eine noch größere Komplexität zuteil. Immer wieder geht es für sie – die des öfteren in wahnhafte Monologe über ihre „Glanzzeiten“ verfällt – nur um eines: die Rückkehr in die finanzielle Oberliga. Als sie schließlich auf einer Party Dwight (Peter Sarsgaard), einen wohlhabenden Mann mit Politik-Ambitionen kennenlernt, sieht es ganz danach aus, als könnte ihr Wunsch in Erfüllung gehen …

So deutlich der Film auch mit Anspielungen auf Klassenunterschiede und kriminelle Machenschaften versehen ist, so verfehlt wäre es, Blue Jasmine ausschließlich als Allens Kommentar zur Finanzkrise zu sehen; das größere Thema sind die Traum- und Scheinwelten (Letzteres durchaus im doppelten Wortsinn) in die sich die Figuren flüchten, ihre Lebenslügen und der mehr als großzügige Umgang mit der Wahrheit. Auch die auf den ersten Blick bodenständige Ginger ist nicht ganz davor gefeit: Obwohl sie Chilli eigentlich liebt, geht sie eine Affäre mit dem Tontechniker Al (Louis C.K.) ein, dessen liebenswerte Kuschelbär-Fassade letztlich auch mehr Schein als Sein ist.

Allen hat wie immer ein großartiges Ensemble versammelt – Alec Baldwin spielt den Großkotz Hal sehr authentisch, Bobby Cannavale gibt eine komische Variante Stanley Kowalskis, und der bisher eher als Comedian tätige Andrew Dice Clay überzeugt mit ernsten Tönen – aus dem Schauspielgigantin Cate Blanchett herausragt. Sei es die Verachtung der unteren Schichten, sei es der immer wieder hervorbrechende Wahnsinn oder generell die Tragikomik der Figur: Blanchett überzeugt bis in Nuancen hinein. Ebenfalls ganz großes Schauspiel bietet Sally Hawkins als Ginger, die zwischen familiärer Loyalität zu ihrer Schwester und eigenen Träumen hin- und hergerissen ist.

Man könnte einwenden, dass der Grundton des Films vielleicht eine Spur uneben ist – manchmal wirkt der Wechsel von der Komik zur Tragik etwas abrupt bzw. ist die Figur der Jasmine eine Spur zu tragisch für ihr von typisch amüsanten Allen-Dialogen geprägtes Umfeld – doch machen die gut gezeichneten Charaktere und ein bitterböser Twist zum Finale dies mehr als wett. „It takes money to make money“, heißt es einmal im Film. Ein Ratschlag, für den man sich nach Ansicht von Blue Jasmine wohl nicht mehr ohne Weiteres erwärmen wird können.