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Shirley – Visions of Reality

| Alexandra Seitz |

Film oder Bild? Oder: Wie man sich im Moment der Gefangennahme entzieht.

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Es ist so still in den Gemälden von Edward Hopper (1882–1967) – und so wenig los. Meist stehen oder sitzen da nur ein, zwei Menschen, tief in sich versunken, schweigend. Und doch sind die Gemälde randvoll mit Gefühlen und Gedanken, unartikuliert und unausgesprochen. Keiner konnte die Melancholie und die Einsamkeit des Menschen der Moderne so malen wie dieser zentrale Vertreter des Amerikanischen Realismus. Eben deshalb übt die rätselhafte Bedeutsamkeit und zugleich sture Verschlossenheit seiner Bilder einen so unendlichen Reiz aus. Was wird da wohl jeweils gedacht und gefühlt? Was wird uns verschwiegen?
Vorschläge für Antworten macht Gustav Deutsch, der 1952 in Wien geborene Künstler, Fotograf, Architekt, Video- und Experimentalfilmemacher, bestens bekannt durch seine über die Jahre kontinuierlich fortgeführte Found-footage-Kompilationsserie Film ist. Deutschs Einzelbild-Laufbild-Crossover Shirley – Visions of Reality erzählt anhand von dreizehn, in den Jahren 1931 bis 1965 entstandenen Gemälden Hoppers, eine fiktive Biografie: Aus der anonymen, stellvertretend wirkenden Frauenfigur, die der Maler immer wieder in intimen Momenten des Für-sich-Seins gestaltet hat, wird die amerikanische Schauspielerin Shirley.
Doch nicht nur Name und Beruf werden zugewiesen, auch Meinung und Gemütsverfassung werden behauptet sowie räumlich-zeitliche Koordinaten festgelegt. Historische Tonaufnahmen zu Beginn setzen jedes der sorgsam gestalteten Tableaux vivants entlang der exemplarischen Wegmarken: Depression, Weltkrieg, McCarthy-Ära und Bürgerrechtsbewegung in einen sozialen, politischen und/oder kulturellen Kontext. Der innere Monolog der Protagonistin charakterisiert diese als wache und engagierte Zeitgenossin, als Mitglied eines Theaterkollektivs, als emanzipierte, selbstständige Frau. Eine Figur auf einem Bild, bis dato unabhängig und unbestimmt, wird dingfest gemacht, und nicht nur sie verliert dadurch die Freiheit, auch ihr Betrachter sieht sich mit einem Mal eingeschränkt in seinen Möglichkeiten der Interpretation.
Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Wehmut folgt man also Deutschs Verfahren. Und während man auf jene Sekunde wartet, in der das Filmbild mit dem Vor-Bild zur Deckung kommt und jener magische, stille Hopper-Moment eintritt, der sich alle Möglichkeiten offen hält, laufen die Bild-Inhalte parallel: die narrative Konkretion des Films und der abstrakte Zauber des Gemäldes – nicht einmal in der Unendlichkeit werden sie einander treffen.