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Tage am Strand

Filmkritik

Tage am Strand / Adore

| Alexandra Seitz |

Ödipus kann einpacken.

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Lil und Roz sind beste Freundinnen von Kindheit an, sie teilen alles: Freude, Sorgen, Kummer, Glück, Söhne. Wie junge Götter sähen sie aus, sagt die eine Mutter stolz zur anderen, während sie nebeneinander am Strand liegen und das Spiel ihrer beiden etwa gleichaltrigen Sprösslinge in den Wellen beobachten. Ian und Tom sind zu jungen Männern herangewachsen, muskulös und energiegeladen. Prachtvolle Exemplare der Spezies Surferboy, Günstlinge des Schicksals, möchte man meinen. Denn wer würde sie nicht beneiden? Um ihre schönen Mütter, die in eleganten Häusern leben, nahezu sorglos, in einem idyllischen Küstenörtchen irgendwo in Australien, wo die Sonne Wassertropfen auf nackter Haut zum Glitzern bringt.

Doch so simpel und glatt und oberflächlich und vorhersehbar bleibt es nicht. Die faule Ruhe verdöster Tage am Strand wird empfindlich gestört, als aus der Parallelstruktur zweier befreundeter Mütter mit zwei befreundeten Söhnen die Überkreuzstruktur zweier Liebespaare wird: Als Lils Sohn Ian sich in Toms Mutter Roz verliebt und diese der Verlockung des Junghengstes nicht widersteht. Woraufhin Roz’ Sohn Tom Ians Mutter Lil in Angriff nimmt und nicht weniger erfolgreich ist. Hm. Klingt das ein bisschen pervers? Warum aber sollte es das sein? Die langjährige freundschaftliche Verbundenheit der Figuren macht aus dem, was da geschieht, keinen Inzest. Eher einen Hochofen, in dem außergewöhnliche, extreme Gefühlsamalgame geschmolzen werden. Die freilich alsbald Rückwirkungen auf gewachsene Beziehungen zeitigen. Einfach, man kann es sich denken, sind dergleichen Liebeshändel nicht.

Mit Adore verfilmt Anne Fontaine die 2003 erschienene Erzählung „The Grandmothers“ der kürzlich verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing. Kein geringes Wagnis, führt man sich vor Augen, wie schwer es unkonventionelle heterosexuelle Relationen im Mainstreamkino haben, von der Darstellung freier, sinnlicher Frauen mal ganz zu schweigen. In dem Zusammenhang kann die Besetzung von Lil und Roz mit Naomi Watts und Robin Wright gar nicht genug gepriesen werden. Denn in keiner Sekunde verraten diese beiden hervorragenden Schauspielerinnen das komplexe emotionale Geflecht, das die Figuren verknüpft, an den melodramatischen Effekt. Vielmehr gelingt ihnen im Verein mit Fontaines geduldiger und aufmerksamer Inszenierung etwas Rares und Großartiges: Wahrhaftigkeit in der Darstellung des Humanen.