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Tracks / Spuren

In die Wüste

| Jörg Schiffauer |
Die Durchquerung des australischen Outback wird für eine junge Frau zu einer Erfahrung der besonderen Art. „Tracks“ begibt sich auf die Spuren einer ungewöhnlichen Reise.

Mitte der siebziger Jahre schien es nicht unbedingt erstrebenswert für einen jungen Menschen, ausgerechnet in Alice Springs seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Die im Northern Territory Australiens gelegene Stadt, die letzte größere Ansiedlung vor dem Outback, hat nämlich außer Wüste nur noch Wüste zu bieten. So erntet auch Robyn Davidson fragende Blicke, als sie – eine junge Frau von 25 Jahren, die sich an australischen Hochschulen an so gegensätzlichen Fächern wie Zoologie, Philosophie, Japanisch und Klavier ausprobiert hatte – ausgerechnet dort nach einem Job sucht. „Aber Alice war mir von Anfang an nicht geheuer. Die Stadt schien keine Seele, keine Wurzeln zu haben. Aber vielleicht war es gerade das, was in bestimmten Situationen das Außergewöhnliche fördert“, charakterisiert sie ihre ersten Eindrücke.

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Doch Robyn hat da schon einen Plan im Sinn, der nicht nur den ortskundigen Einheimischen als komplette Verrücktheit erscheint: Sie beabsichtigt, die Wüste – mehr als 2.700 Kilometer von Alice Springs bis zum Indischen Ozean – im Alleingang zu durchqueren. Als einzige Hilfe will sie sich dabei auf ein paar Kamele, die ihre Ausrüstung tragen, verlassen. Auf die Frage, warum sie sich auf ein derartig strapaziöses und gefährliches Abenteuer einzulassen gedenkt, antwortet Robyn mit einem lakonischen „Why not?“ Doch zunächst fehlt ihr so ziemlich alles, was man für so einen Trip braucht, vor allem aber Erfahrung und Geld. Um den Umgang mit Kamelen zu lernen, nimmt sie einen unbezahlten Job auf der Farm von Kurt Posel an, einem eigenbrötlerischen Zausel, der die wilden Tiere fängt und abrichtet. Im Lauf der Zeit spricht sich Robyns Plan herum, und so unterbreitet ihr der Fotograf Rick Smolan einen Vorschlag: „National Geographic“ würde ihre Expedition sponsern, im Gegenzug dafür dürfe Smolan Robyn einige Male aufsuchen, um ihre Reise bildlich zu dokumentieren. Nach anfänglichem Zögern stimmt Robyn der Vereinbarung zu, und 1977 – zwei Jahre, nachdem sie in Alice Springs angekommen war – bricht sie in Begleitung von vier Kamelen und ihrer kleinen Hündin Diggity schließlich auf.

Spuren im Sand

Robyn Davidsons für unmöglich gehaltener Traum wurde durch die Reportage in „National Geographic“ und ihr Buch „Tracks“, in dem sie Vorbereitungen und die neun Monate der Wüstendurchquerung festhielt, weltweit bekannt. Regisseur John Curran, der sich bislang mit gehaltvollen Literaturadaptionen wie We Don’t Live Here Anymore und The Painted Veil einen Namen machte, hat sich nun dieser Erfahrung, dieser ungewöhnlichen Reise,  mit einem ebenso ungewöhnlichen Film angenähert.

Tracks ist zunächst einmal ein Film, der sich gängigen dramaturgischen Konventionen über weite Strecken verweigert. Obwohl Robyn Davidsons Marsch durch die Wüste kein Abenteuer-Urlaub und ein solches Unterfangen natürlich auch mit einem Risiko verbunden ist, zieht Tracks nicht die in einem solchen Fall traditionellen Spannungsbögen, sondern präsentiert die Reise zuallererst als eine Erfahrung, auf die man sich einlassen, der man sich einfach aussetzen muss – mit einem durchaus ungewissen Ausgang. Robyn beschreibt dieses Gefühl, als sie aufbricht, wie folgt: „Alles, was mich umgab, war herrlich: Licht, Macht, Raum und Sonne. Ich marschierte mitten hinein. Ich überließ mich den Gewalten. Sie würden mich zermalmen oder zu neuem Leben erwecken. Eine schwere Last fiel mir von der Seele. Ich liebe dich … Sonne, Raum und Wüste, Wüste, Wüste.“ Wobei hier auch die Erleichterung mitschwingt, nach all den Schwierigkeiten in der Vorbereitung, die sich zwei Jahre hingezogen hatte, das Wagnis nun wenigstens einmal beginnen zu können. Denn Robyn war sich keineswegs sicher, wie das alles enden sollte. Sie hielt es, wie sie in ihrem Buch schreibt, durchaus für möglich, dass sie noch am ersten Tag alles hinschmeißen würde.

Ebenso ungewöhnlich – auch hier bleibt Tracks gängigen Charakterisierungsmodellen fern – ist Robyn Davidsons Motiva-
tion, sich auf ein solches Wagnis einzulassen, denn die bleibt weitgehend vage. Da ist zunächst einmal nur das unbestimmte Gefühl, dass das Leben in der modernen Welt irgendwie nicht richtig verläuft. John Currans Inszenierung deutet da vieles nur an, etwa, wenn eine Gruppe gleichaltriger Freunde Robyn in der Vorbereitungsphase ihrer Reise aufsucht. Das eigentlich gemütliche Zusammensitzen am nächtlichen Lagerfeuer entwickelt sich für Robyn zu einer Nervenprobe, das Stimmengewirr des nicht enden wollenden Smalltalks wird zu einem Störfaktor, dem sie nur noch entkommen will. Das gar nicht so klar zu definierende Gefühl, dass die Hektik der Industriegesellschaft – und das in den siebziger Jahren, als Smartphones, Internet und Digital-TV noch nicht vorhanden waren – ihr zu viel wird, wird für Robyn zu einem bestimmenden Faktor, der sie dazu bewegt, die Zivilisation hinter sich zu lassen. Die Zuwendung zur Natur entspringt weniger einem gefestigten theoretischen Überbau im Sinne Rousseaus, sondern zunächst der eher ganz praktischen Erkenntnis, dass man in der Wildnis zumindest seine Ruhe hat und vor allem nur wenigen Menschen begegnet.

Ihre Reise zielt auch nicht darauf ab, irgendwelche Rekorde zu brechen, Extremleistungen zu erbringen oder die Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu lenken, sie ist vielmehr der Versuch, das Leben, die Welt – und schlussendlich sich selbst  – abseits der zivilisatorischen Bahnen kennenzulernen. Dass der Weg durch die Wüste kein Selbstfindungstrip – inklusive Suche nach dem ultimativen Kick, wie das einem fragwürdigen, gegenwärtigen Trend entspricht – moderner Prägung wird, zählt zu den großen Pluspunkten dieser außergewöhnlichen Reise.

Erlebnis Todeszone

Auch wenn sich Robyn Davidsons Expedition durch die aus-
tralische Wüste auf mehreren Ebenen vom Extremerfahrungsirrsinn der heutigen Zeit unterscheidet, lässt sich durchaus konstatieren, dass ihr Unterfangen, die Versuche zivilisationsgeschädigter – oder zumindest zivilisationsmüder – Menschen, in der Natur einen Ausgleich zu finden, vorwegnimmt. Welche Auswüchse diese Suche anzunehmen vermag und welche falschen oder verklärten Naturbegriffe dabei eine verhängnisvolle Rolle spielen, hat etwa der Autor Jon Krakauer mehrfach thematisiert. In seinem Buch „Into Thin Air“ (verfilmt unter dem Titel Into Thin Air: Death On Everest; 2015 kommt der von Baltasar Kormákur inszenierte Everest mit Jake Gyllenhaal und Josh Brolin in den Hauptrollen in die Kinos) rekapituliert Krakauer die Ereignisse, die im Mai 1996 am Mount Everest zu einer Katastrophe führten. Krakauer hatte sich zu Recherchezwecken einer jener kommerziell geführten Expeditionen angeschlossen, die gegen entsprechendes Entgelt nahezu jedermann mit ein wenig Bergerfahrung die Besteigung des höchsten Bergs der Welt ermöglichen. Dass insbesondere das Klettern ab 8000 Metern – einer Höhe, in der sich der menschliche Körper nicht mehr regenerieren kann und deshalb unter Alpinisten als die berüchtigte Todeszone gilt, in der man sich nur innerhalb eines schmalen Zeitfensters aufhalten darf – besondere Risiken birgt und nur von im Höhenbergsteigen Geübten riskiert werden sollte, spielte bei der Suche nach der ultimativen Erfahrung am Berg keine große Rolle. Als die erfahrenen Bergführer wider besseres Wissen zahlreiche Sicherheitsregeln brachen, um ihre zahlenden Kunden – darunter einen Pathologen aus Texas, eine Modejournalistin aus New York, sowie eine japanische Geschäftsfrau – auf den Gipfel zu bringen, kam es zum Desaster: Von einem Sturm überrascht, gelang der rettende Abstieg nicht mehr allen rechtzeitig. Acht Bergsteiger bezahlten das Abenteuer mit ihrem Leben. Die merkwürdig anmutende Idee, die Natur „bezwingen“ zu können, indem man als erster, einziger oder schnellster irgendwo ist, hat naturgemäß im Alpinismus eine lang zurückreichende Tradition. Ob die Besteigung eines Bergs Befriedigung nationalistischer Anwandlungen (Nordwand, Philipp Stölzl, 2008), der Suche nach persönlichem Ruhm (Nanga Parbat, Joseph Vilsmaier, 2010) oder dem Ausbruch aus dem geordneten Leben dienen soll, macht keinen großen Unterschied, die Motivation bleibt in jedem Fall fragwürdig.

Dass das Spiel mit dem Tod bei diversen Erfahrungen in der Natur längst zum schicken Lebensgefühl stilisiert wird, zeigen die von Red Bull gesponserten, aufwändig in Szene gesetzten Events vom Abfahren von einem Berg mit Skiern (Mount St Elias, 2009) oder dem Hinaufklettern auf eine extrem geformte Erhebung (Cerro Torre, 2014). Selbst der Tod stört das Marketingkonzept des Energy-Drink-Herstellers nicht wirklich, wie sich an der Mythologisierung des verunglückten Extremsportlers Shane McConkey – die ARD-Dokumentation Die dunkle Seite von Red Bull geht weiteren derartigen Todesfällen nach – zeigt. Doch nicht nur die Hybris, die Natur herausfordern und besiegen zu wollen, kann fatale Folgen nach sich ziehen, auch eine in bester Absicht erfolgte Idealisierung und falsche Einschätzung der Natur führt ins Verderben.

Jon Krakauer ging mit „Into the Wild“ – Sean Penn gelang 2007 unter dem gleichen Titel eine brillante filmische Adaption des Stoffs – einem solchen Fall nach. Darin begibt sich der Autor auf die Spuren von Christopher McCandless, einem jungen Mann, der Anfang der neunziger Jahre ebenfalls nicht mehr jenes moderne, von der Industriegesellschaft determinierte Leben in konventionellen Bahnen führen wollte. Als Alternative strebte er eine Existenz im Einklang mit der Natur an. Erreichen wollte er dies mit einem Leben als Selbstversorger in der Abgeschiedenheit Alaskas. Doch McCandless hatte in seinem Enthusiasmus für die unberührte Natur deren Gefahren einfach falsch eingeschätzt. Ungenügend auf das Leben in der Wildnis vorbereitet und durch das Hochwasser nach der Schneeschmelze abgeschnitten, war er nicht mehr in der Lage, sich zu versorgen und verhungerte schließlich in seinem provisorischem Lager.

So weit die Füße tragen

Obwohl ihre radikalen Erfahrungen mit der Natur nicht unterschiedlicher hätten ausgehen können, lassen sich doch einige verblüffende Parallelen zwischen Robyn Davidson und Christopher McCandless entdecken: Beide suchten in recht jungen Jahren von Anfang zwanzig nach einer Alternative zur modernen, technisierten Welt, beide waren bereit, eine durchaus viel-versprechende Karriere bürgerlichen Zuschnitts – Davidson hätte etwa zwei Universitätsstipendien wahrnehmen können – über  Bord zu werfen, um Alternativen zu verfolgen. Und beide wollten vor allem allein, ganz auf sich gestellt, in die Natur eintauchen. Doch im Gegensatz zu McCandless hatte Robyn Davidson eine pragmatischere Einstellung. Sie bereitete sich monatelang auf den Umgang mit ihren Kamelen vor. Ihr respektvoller Umgang und ihre Liebe zu ihren Tieren sollte ein wesentlicher Faktor in ihrer Beziehung zur Natur werden – und ihr Zugang war auch weniger radikal als jener von McCandless. So ließ sie sich etwa überzeugen, doch ein Funkgerät mit auf die Reise zu nehmen. Tracks erweist sich dann auch weniger als dramaturgisch spannend aufbereitetes Abenteuer, denn als langsames, gemeinsam mit seiner Protagonistin vollzogenes Eintauchen in eine neue, für den urban geprägten Menschen ungewohnte Welt, deren Faszination man sich schon bald nicht mehr entziehen kann, wo ein ganz anderer, weitgehend entschleunigter Rhythmus das Dasein bestimmt. Das soll nicht heißen, dass dabei ein verklärter, romantisierender Blick auf die Natur geworfen wird. Ohne effekthaschend zu sein, macht  Tracks in wenigen Sequenzen auch deutlich, dass kleine Nachlässigkeiten, die inmitten der Zivilisationen schlimmstenfalls Unannehmlichkeiten nach sich ziehen, hier lebensgefährliche Konsequenzen haben können – nicht im Sinn eines archaischen Kampfes Mensch gegen Natur, sondern einfach als Gegebenheit, ebenso unspektakulär wie alltäglich.

Und es kommt auch zu einer kleinen Tragödie, die Robyn emotional – ein Trauma aus der Kindheit bricht hier wieder voll auf – zutiefst erschüttern wird. Verursacht hat dieses Unglück jedoch nicht die Natur, sondern der Mensch und sein respektloser, rücksichtsloser Umgang mit derselbigen. Die schrittweise Absonderung von menschlicher Gesellschaft – deutlich gemacht an ihrer ambivalente Beziehung zu Rick Smolan – und das Zurückziehen auf sich selbst zählen auch zu den bestimmenden Motiven des Films. Die gelegentlich im Verlauf der Reise auftauchenden
Journalisten und Schaulustigen erscheinen zusehends wie Eindringlinge, als (ver-)störende Fremdkörper, die einen ansonsten harmonischen Kosmos, in den Robyn sich eingefügt hat, belästigen. Folgerichtig harmoniert Robyn im Lauf ihrer Reise viel besser mit den Aborigines, die ja ebenfalls Teil der unberührten Natur sind, als mit jenen Menschen, die ihr aus der „zivilisierten“ Welt eigentlich vertrauter sein sollten.

Mia Wasikowska gelingt es, mit einer unprätentiösen, sehr einfühlsamen Darstellung, den über weite Strecken als Single-Character-Movie gestalteten Tracks souverän zu tragen und Robyn Davidsons physische und emotionale Tour de Force nachvollziehbar zu machen. Am Ende ihrer neunmonatigen Reise wird Robyn die Popularität, die die Berichterstattung über ihre Expedition mit sich gebracht hat, genauso wenig bedeuten wie die Extremleistung selbst. Sie hat auch keine große innere Transformation durchlaufen. Doch sie wird ein Stück zufriedener mit sich selbst und mit der Welt sein, als sie es vor Antritt ihrer Reise war. Der Marsch durch die Wüste hat sich mehr als gelohnt.