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Das Kind in der Schachtel

| Ines Ingerle |

Mutiger und berührender Film über Identität, Mutterschaft, Familie und Zugehörigkeit

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Die kleine Gloria Dürnberger kommt mit acht Monaten zu Pflegeeltern, weil ihre leibliche Mutter Margit sie aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht behalten kann. Das letzte Foto, das Margit von ihrer Tochter aufnimmt, zeigt Gloria in einer Tragetasche, die aussieht wie ein übergroßer Schuhkarton mit Henkeln. Dieses Bild sieht Gloria mit Ende zwanzig zum ersten Mal. Mittlerweile ist sie in ein gesundes Familiengefüge mit liebevollen Pflegeeltern und Pflegegeschwistern eingebettet. Sie ist verlobt und kann sich vorstellen, selbst einmal Mutter zu werden. Doch immer noch hat sie Schwierigkeiten, ihre Wurzeln zu spüren, weil die Frage, wer denn nun eigentlich ihre Mutter ist, für sie ihr Leben lang präsent war. Ist es die Frau, die sie geboren hat oder jene, die sie großgezogen hat? Nur bei letzterer verspürt Gloria das, was man Mutterliebe nennt, erstere blieb für sie – trotz durchgehendem Kontakt – stets eine „komische Tante“.

Mutig begibt sich Gloria auf eine emotionale Reise durch ihre Vergangenheit. Sie trifft zum ersten Mal ihren leiblichen Onkel, führt lange Gespräche mit ihrer Pflegefamilie, besucht ihre leibliche Mutter regelmäßig zum Interview in deren kleiner Wiener Wohnung oder versucht, sie zu gemeinsamen Unternehmungen zu animieren. Margits Verwirrtheit, ihre Unfähigkeit zu Empathie und ihr anscheinend als leidvoll empfundenes Dasein sind zutiefst tragisch. Dennoch ist Das Kind in der Schachtel auf verquere Weise auch unterhaltsam. Wenn Margit auf die Frage „Liebst du mich?“ entrüstet mit „Ich bin doch nicht schwul!“ antwortet, dann ist das nur eines von vielen Beispielen für den schmalen Grat zwischen Tragik und Komik, auf dem die Figuren sich in diesem Film bewegen. Das Lachen bleibt einem dabei mehr als einmal im Halse stecken.

Gloria geht mit einer bewundernswerten Stärke und Tapferkeit durch den Schmerz, den sie offensichtlich empfindet, bleibt trotz aller niederschmetternder Momente aktiv im Fragen, Fühlen und Forschen -– für die Zuschauer, aber vor allem für sich selbst. Das Filmen scheint für sie auch therapeutisch zu wirken, sie einen Heilungs- und Reifeprozess durchlaufen zu lassen. Die großteils schlichte Kameraführung und der weitgehende Verzicht auf zusätzliche Beleuchtung verhelfen zu noch mehr Unmittelbarkeit, die Lieder von Martin Klein sind stimmige Emotionsverstärker. Das Kind in der Schachtel ist eine Perle von einem Film. Vom guten Geist seiner Schöpferin getragen, zeigt er mustergültig, wie man einen schweren persönlichen Konflikt bewältigen kann.