ray Filmmagazin » Themen » Philip Seymour Hoffman – A Most Wanted Man
Philip Seymour Hoffman

A Most Wanted Man

Der Unschätzbare

| Roman Scheiber |
Er war einer der herausragenden Charakterdarsteller des Gegenwartskinos. Nun ist Philip Seymour Hoffman in seiner letzten bedeutenden Rolle als deutscher Agent im Thrillerdrama „ “ zu sehen. Versuch einer Würdigung.

„In the real estate business everything adds up just fine, neat. But my life doesn’t add up. Nothing connects to anything else. I am not the sum of my parts. All of my parts don’t add up to one, …, to one me, I guess“, sagt Andy, Rechnungsprüfer von Beruf, mehr zu sich selbst als zu seinem Dealer, und greift sich dabei resignierend an die Stirn. Aus dem Hintergrund die schroffe Antwort: „Get a shrink, or a wife.“ – „I got a wife.“ – „Get a shrink.“

Werbung

Wir befinden uns in des Dealers Wohnung, einem New Yorker Designer-Apartment hoch über der Stadt. Ein wenig früher hat der Dealer, der sich gern in Seidenpyjamas hüllt, seinem Stammkunden Heroin gekocht und gedrückt. Andy ist auf dem Bett gelegen, sein Unterhemd über dem Bauch gespannt, sonst alles easy, wenigstens ein Nickerchen lang.

In Andys Leben läuft etwas grundsätzlich schief. Seine Wurzel hat das Übel nicht bloß in Gier, auch wenn Geld eine treibende Rolle spielt: Andys Unterschlagung in seiner Firma droht aufzufliegen, der zur rettenden Geldbeschaffung mit dem jüngeren Bruder inszenierte Überfall auf das Vorstadt-Juweliergeschäft der eigenen Eltern erweist sich als grottige Idee, und seine Frau ist dabei, seine Exfrau zu werden. Seinem Suchtverhalten ist das alles nicht zuträglich. Später wird Andy noch einmal in das Apartment des Dealers kommen, und die animierte Actionszene, die man auf dem Flatscreen bemerken konnte, wird ihren Widerhall finden.

Before the Devil Knows You’re Dead (deutscher Dutzendtitel: Tödliche Entscheidung, 2007) ist der lebenskluge letzte Film des mittlerweile verstorbenen Sydney Lumet (siehe auch „ray“ 05/08). Meisterhaft verschachtelt, u.a. mit Ethan Hawke, Marisa Tomei, Michael Shannon und Albert Finney toll besetzt, funktioniert der Film als Old-School-Crime-Story in HD, überzeugt als zeitlose Selbsttäuschungsstudie und berührt zudem als Melodram über das Scheitern einer Familie. Das Beste daran aber ist die Vorstellung von Philip Seymour Hoffman. Den allmählich ins Unermessliche wachsenden psychischen Druck, dem seine Figur ausgesetzt ist, spielte Hoffman derart überzeugend, dass man Andy die Heroin-Nadel beim Mann im Seidenpyjama fast irgendwie nachsehen konnte.

Feinfühlig, komplex, brüchig

Before the Devil Knows You’re Dead ist die wahrscheinlich meist­unterschätzte Station einer zu vielen anderen Gelegenheiten mit Recht gewürdigten Laufbahn. Philip Seymour Hoffman verstand es, eine umwerfende Präsenz auf der Leinwand zu entfalten. Sein reiches Repertoire, das lässt sich locker vermuten, wäre Stück für Stück noch reicher geworden, wäre er nicht vor der Zeit aus dem Leben geschieden. Aus etlichen teilnahmsvollen Nachrufen war herauszulesen, wie sehr man seine Arbeit schätzte. Hoffmans Vielseitigkeit verdankte sich – wie bei vielen hervorragenden Akteuren – dem Willen, in der jeweils nächsten Rolle auch die nächste Herausforderung zu suchen. Um die Komplexität, Labilität, Feinfühligkeit, Verletzbarkeit oder Gebrochenheit eines Charakters herauszuarbeiten, um Enttäuschung, Hilflosigkeit und Wut glaubhaft zu machen, war er bereit, aus seinem Innersten zu schöpfen. Beim Publikum den stärksten Eindruck hinterließ er, wenn er eigene Schwächen und Unsicherheiten in die Gestaltung hochbegabter Charaktere einfließen ließ – in die nahtlose Personifizierung des filigranen Autors in Bennett Millers Biopic Capote (2005), für die er Oscar, Golden Globe und BAFTA Award entgegennehmen durfte, und in die fein austarierte Darstellung des charismatischen, jedoch gemütskranken Gurus Lancaster Dodd in Paul Thomas Andersons The Master (2012), für die er in Venedig ausgezeichnet wurde und einen zweiten Oscar verdient hätte.

Den Priester unter Missbrauchsverdacht (in Doubt, 2008) hatte Philip Seymour Hoffman ebenso überzeugend drauf wie den zynischen CIA-Agenten (in Charlie Wilson’s War, Mike Nichols, 2007). Während er für diese beiden Rollen Nominierungen und Kritikerpreise zuhauf erhielt, fand eine seiner anspruchsvollsten und persönlichsten Kinoarbeiten, obwohl fast zeitgleich entstanden, vergleichsweise geringe Anerkennung: Synecdoche, New York (Charlie Kaufman, 2008) – „ein Schlüsselwerk, in dem Hoffman als depressiver Theaterregisseur sein Leben und seine Arbeit in immer epischeren Bühnenkonstruktionen zu einer Escher-artigen Traumwelt verschränkt“, so Andreas Busche in seinem Nachruf.

Denn Philip Seymour Hoffman war auch auf der Bühne zuhause, ob im Klassiker von Miller, Tschechow, Shakespeare oder Off-Broadway, lange auch als Mentor und Regisseur der 1992 von ihm mitgegründeten New Yorker LAByrinth Theater Company. Als Jago im Schlabberlook war er einmal in Wien zu erleben, in Peter Sellars’ eher verhalten aufgenommener „Othello“-Inszenierung bei den Wiener Festwochen 2009. Seinen Besuch nahm das Filmmuseum zum Anlass, Synecdoche, New York in Österreich erstaufzuführen und den Oscar-Preisträger kurzerhand auch ins eigene Haus zu holen – dennoch blieb der Film, der den Theaterteil von Hoffmans Wirken und sein Verhältnis zu Frauen mitreflektiert, selbst weitgehend unbekannt. In einem Ausschnitt der Aufzeichnung des damaligen Publikumsgesprächs (abrufbar in der neuen Online-Videogalerie „in person:“ auf der Website des Filmmuseums) sagt Hoffman über das Verhältnis von Schauspieler und Regisseur, das er von beiden Seiten kannte: „You gonna humiliate yourself in front of that person, you gonna embarrass yourself, fall short, often. And that person has to stand there and love you in doing that … There is very few people who know how to do that … but the relationship with the director can be quite profound if it’s on that level.“

Süchtig, blockiert, introvertiert

Hoffman war das dritte von vier Scheidungskindern, verbrachte seine Jugend bei der Mutter in einem Vorort von Rochester, New York State. Zu Beginn seiner Karriere in den neunziger Jahren, nach einer Ausbildung an der renommierten New Yorker Tisch School of the Arts, war er zunächst länger auf Nebenrollen abonniert. Die Branche auf ihn aufmerksamer machte sein Mitleid erregender Auftritt in Paul Thomas Andersons Boogie Nights (1997): als schüchterner Tonassistent, der sich in den von Mark Wahlberg gespielten Pornostar verliebt. Wer Hoffman in diesem Film zum ersten Mal gesehen oder wahrgenommen hat, war vielleicht beeindruckt von seiner Leistung, hat sich trotz der Größe des großartigen Ensembles vielleicht sogar seinen Namen gemerkt. Doch welcher Zuschauer hat damals geahnt, dass aus dem molligen Mann einst ein großer Charakterdarsteller werden würde? Von eigenwilligen Regisseuren wurde er gern für Außenseiter-Rollen nachgefragt, Todd Solondz etwa besetzte Hoffman als verklemmten, der Masturbation verfallenen Loser in seiner Unglückselegie Happiness (1998). An der Seite von Robert De Niro gab er eine Drag Queen in der Komödie Flawless (Joel Schumacher, 1999), und im selben Jahr durfte er in Paul Thomas Andersons nächstem Epos Magnolia einen hochempfindsamen Krankenpfleger spielen. Die kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem drei Jahre jüngeren Regisseur erreichte später mit The Master ihren Zenit.

Suchtgeneigte, introvertierte, blockierte und angstbesetzte Charaktere, für die er immer wieder auch eigene Abgründe freilegte, sollten bestimmend bleiben für Hoffmans Rollenwahl, nur dass der Mensch reifer wurde und die Rollen größer: vom spielsüchtigen Bankbeamten in Owning Mahowny (2003) zum sagenhaften Erfolg mit Capote, vom Philosophiedozenten in der tragischen Familienkomödie The Savages (2007) mit Laura Linney als dessen Schwester bis zu seiner einzigen Kinoregiearbeit Jack Goes Boating (2011). „A man who bravely explored the catacombs of the hurt, the exiled and the misunderstood with his signature touch of honesty, humor and compassion“ heißt es im Textvorspann des 22 Minuten langen Video-Tributes „P.S. Hoffman“. Kundig und smart „in loving memory“ von dem jungen Filmemacher Caleb Slain aus fast allen der rund 50 Filmauftritte Hoffmans kollagiert, demonstriert der Clip vor allem die enorme Bandbreite des viel zu früh Verstorbenen noch einmal im Schnellverfahren: http://vimeo.com/87873042.

A most wanted actor

In einer seiner letzten Rollen ist der Job die Sucht. Sieben Jahre nach Charlie Wilson’s War brilliert Hoffman in A Most Wanted Man noch einmal als Agentenfigur. Für das auf einem Roman des Geheimdienstprofis John le Carré basierende Thrillerdrama kollaborierte er mit dem Bildgestalter Anton Corbijn (Control, 2007, The American, 2010), der einst als Musikvideomacher (u.a. für Depeche Mode, U2) bekannt geworden war. In der ausgefeilten dritten Regiearbeit des Niederländers kommen einander deutsche Politiker, die CIA und eine Hamburger Spezialeinheit bei einer komplizierten Fahndung im Zuge des „international war on terror“ nach 9/11 in die Quere. Neben einem All-Star-Cast von Rachel McAdams und Robin Wright bis Nina Hoss, von Willem Dafoe bis Daniel Brühl und Herbert Grönemeyer (der auch wieder für den Score sorgte), verkörpert Hoffman den engagierten Leiter der höchst inoffiziellen, dem Landesamt für Verfassungsschutz unterstehenden Spionagegruppe: Günther Bachmann ist begabt im Anheuern und Betreuen von Informanten, ein obsessives Arbeitstier und privat ein Eremit. Die sprichwörtliche Einsamkeit des Spions erreicht bei ihm eine physische Dimension.

Der an Hamburger Originalschauplätzen gedrehte Film ist – wie oft bei Hoffman – allein ob seiner Leistung sehenswert. Auch wenn man im Nachhinein verlockt sein könnte, zu viel hineinzuinterpretieren, und obwohl die Intensität der Darstellung sein Werk im Allgemeinen kennzeichnet, er sich auch für frühere Rollen richtiggehend aufgeopfert hat: So eine aufgedunsene, fahle Haut, so kleine, traurige, fiebrig zitternde Augen, diese eingekrampfte Körperhaltung hat man selten bei ihm gesehen. Dazu passt, dass er nur in wenigen Szenen ohne Whisky und Zigarette im Bild ist. Berührend sind vor allem die Szenen, wenn er einmal allein im Drogendunst seines Apartments Klavier zu spielen beginnt, und das niederschmetternde Ende. Das wie üblich von Corbijn geplante Fotobuch zum Film wurde in eine Hommage an Hoffman umfunktioniert: „dedicated to the greatest: PSH“.

Unforgettable

„I am highly judgemental and critical inside my brain, of myself and everything“, bekannte Hoffman im oben zitierten Gespräch vor Wiener Publikum. Zuletzt hätte er die Hauptrolle eines pillenabhängigen Werbemanns in einer TV-Serie übernehmen sollen. Doch nach seinem Ableben wurde der bereits gedrehte Pilot der als schwarzhumorige Gesellschaftssatire geplanten Produktion Happyish hinfällig. In drei neuen Filmen wird er noch zu sehen sein: In den jüngsten beiden Teilen der Hungerspiel-Franchise (Mockingjay) in der Nebenrolle des Plutarch Heavensbee und im Regiedebüt des durch Mad Men zu später Bekanntheit gekommenen John Slattery, God’s Pocket, der Adaption eines Romans von Pete Dexter. An der Seite von Christina Hendricks wird noch einmal Hoffmans distinkter Erscheinung auf der Leinwand nachzutrauern sein, in einer Rolle, die ein wenig an jene des selbstmitleidigen, letztlich durchdrehenden Prokrastinierers Andy in Before the Devil Knows You’re Dead erinnert.

Am 2. Februar 2014 wurde Philip Seymour Hoffman in seiner New Yorker Wohnung tot aufgefunden. Die Gerichtsmedizin stellte fest, dass er an einem Cocktail aus Heroin, Kokain, Amphetamin und Schlafmitteln gestorben war. Wenige Monate vor seinem Tod war, offenbar nach Jahren, seine Sucht wieder schlagend geworden. Etwa zeitgleich hatte sich seine langjährige Lebensgefährtin Mimi O’Donnell von ihm getrennt. Ihr hinterließ Hoffman drei gemeinsame kleine Kinder. Anlässlich der Geburt seines Sohnes Cooper vor zehn Jahren hatte Hoffman einen ungewöhnlichen Passus in sein Testament eingefügt: Sollte Cooper beide Eltern früh verlieren, möge er in New York, Chicago oder San Francisco aufwachsen. Kulturweltstädte, fern von Hollywood.
Er selbst war neun gewesen, als der Vater die Familie verließ.