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Land der Wunder

Die Bienenkönigin

| Julia Pühringer |
„Land der Wunder“ ist eine zeitlose, humorvolle Familienskizze vom alternativen Leben in Italien. Alice Rohrwacher über ihren mit dem Großen Jurypreis von Cannes prämierten Film.

Irgendwo in Umbrien, irgendwann Mitte der achtziger Jahre, in einem baufälligen Bauernhof in der Einschicht. Hier lebt Wolfgang (Sam Louwyck) mit seiner Frau Angelica (Alba Rohrwacher) und den gemeinsamen Kindern, angeführt von der 12-jährigen Gelsomina (Alexandra Maria Lungu). Weit her ist es nicht mit der Kommune, nur Cocò (Sabine Timoteo) wohnt auch hier. Man lebt spartanisch von den landwirtschaftlichen Einkünften, vor allem vom Honig. Über die Bienen herrscht göttinnengleich wie geheimnisvoll Lieblingstochter Gelsomina. Anschaffer ist ganz altmodisch der Vater, er wird öfter mal laut und hat gern Recht. Die kleinen Kinder helfen bei der Arbeit mit, die schmalen Schultern der Mutter tragen die meiste Last. Ein schwer erziehbarer freundlicher Bub wird aufgenommen, die Familie kriegt dafür Geld, mit anpacken kann er auch. Die Mädchen singen zur Italopop-Hymne und streiten um den Platz auf der Klobrille.

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In die rurale Prekariats-Idylle von Le meraviglie (Land der Wunder) bricht nun das Fernsehen ein, und wer mit dem italienischen Rundfunk vertraut ist, wundert sich nicht, in welcher Weise: Am nahen See, wo die Mädchen gern im Wasser krakeelen, befindet sich nämlich ein verwunschenes etruskisches Baudenkmal – der ideale Drehort für einen absurden Tourismuswerbespot inklusive absurdem Gewinnspiel, in welchem Milly Catena (Monica Bellucci) in absurd märchenhafter Aufmachung mit Silberzopf-Perücke und Phantasie-Historienkleid die Zeremonienmeisterin gibt. Milly hält Land und Leute, Tradition, Prosciutto und Käse hoch; den Kindern erscheint sie wie eine Rettung versprechende Lichtgestalt: Eine EU-Richtlinie bedroht das Einkommen des Hofs, so hat der sehnsüchtige Wunsch der Mädels, mit dem selbst produzierten Honig in der TV-Promo-sendung aufzutreten trotz widersprechender Prinzipien des
Vaters durchaus Hoffnung auf Erfüllung …

Da liegt ein wenig Fellini in der staubigen Sommerluft, wenn die böse TV-Persiflage gar so glaubwürdig wirkt. Da scheinen Die Vaterlosen von Marie Kreutzer artverwandt im menschlichen Scheitern an großen Idealen. Alice Rohrwachers ganz alltägliche Geschichte vom einfachen Landleben hallt lange nach, samt Bienengesurr und dem Sägen der Zikaden. Das liegt am perfekt gecasteten Ensemble (übrigens mit Paradies: Liebe-Sextouristin Margarethe Tiesel in einer Nebenrolle) und am genauen Blick der Regisseurin. Ein Film mit einer Textur fast zum Riechen und Angreifen, in dem ein altes, zerrupftes Zirkuskamel die Erfüllung und Zerstörung aller Träume gleichermaßen darstellen kann: Land der Wunder eben.

Welche Idee stand am Anfang dieses Films?
Das war bei einem Filmfestival, allerdings lang vor meinem ersten Film (Corpo Celeste, 2011, Anm.). Da fragte mich jemand: „Woher bist du?“, und ich antwortete: „Aus Umbrien, Latium“. Da war der gleich ganz begeistert und sagte, ja, da war er schon, so eine traumhafte Gegend, er hätte sich dort gefühlt, als würde er im Mittelalter leben. Das hat mich melancholisch gemacht, und ich habe mich gefragt: Was soll daran so großartig sein? Ich habe mir dann jedes Mal, wenn ich daheim war, die Gegend genauer angesehen. Die Leute haben ein Problem mit Schönheit, man will sie immer ins Museum stecken. Das ist auch eine Art, Schönheit zu meucheln: Sie kann nicht alt werden, nicht komplex sein, nicht verschwinden, sie bleibt immer gleich. Das passiert in meinem Land mit der Landschaft, aber auch anderswo. Zuerst zerstört man alles, dann hebt man ein, zwei Orte auf fürs Museum und präsentiert das dann als Tradition.

Die Mädchen im Film sind phantastische Darstellerinnen, wo haben Sie die aufgetrieben?
An den Orten, wo sich Mädels halt so aufhalten: in Schulen, im Freibad, am See, am Sonntagnachmittag auf der Straße. Wir haben eigentlich sofort gewusst, wen wir nehmen. Wenn man eine Klassentür öffnet, spürt man sofort, wer wirkliche Präsenz hat, da ist es gar nicht wichtig, ob jemand gut schauspielen kann. Aber wir waren natürlich nett und haben trotzdem mit allen gesprochen, letztlich waren das 1.500 Mädchen. Die Darstellerin der Gelsomina war die allerletzte davon.

Den Vater der Familie spielt der Belgier Sam Louwyck. Wie war das in einer Koproduktion ohne belgische Beteiligung möglich?
Ja, da haben wir einen ziemlichen Kampf ausgefochten. Man muss normalerweise bei einer Koproduktion mit Schauspielern aus den Koproduktionsländern arbeiten. Es ist eine schwierige Rolle. Mir war es enorm wichtig, diese Figur nicht der Psychoanalyse zu unterwerfen. Wir brauchten also jemanden, der sich die Rolle vom Körper aus erarbeitet und nicht vom Kopf aus. Die meisten Schauspieler sind sehr kopflastig, das ist auch gut so, aber nicht für diese Figur. Man weiß im Film nicht genau, wo Wolfgang herkommt, also haben wir in der Schweiz gesucht und auch in Deutschland. Dann habe ich Sam gesehen, in einem Video, in dem er tanzt. Mir war sofort klar, dass ich ihn treffen will, er hat einfach dieses Körperwissen. Wie wenn man etwas auswendig spielt: Sobald man darüber nachdenkt, ist man verloren, aber wenn man den Kopf ausschaltet, funktioniert es.

Wie haben Sie die unterschiedlichen Sprachen der Protagonisten am Set gehandhabt?
Wir haben mit deutschen und italienischen Schauspiel-Coaches gearbeitet. Ich wollte Sprache nicht nur als geografischen Faktor einsetzen, sondern als Teil der Geschichte der Figuren. Wie sie sprechen, sagt uns auch, wer sie sind. Sie haben eine Vergangenheit, kommen aus einem anderen Land. Vielleicht haben sie sich in Frankreich kennengelernt, ich weiß es selbst nicht. Bei Wolfgang wissen wir nicht genau, woher er kommt. Das ist auch wichtig, er ist der Fremde in der Geschichte. Wir brauchen Sprache normalerweise, um eine Geschichte zu identifizieren und eine Figur zu lesen. Er würde so gern viel mehr sprechen, aber es ist ihm nicht möglich. Egal welche Sprache er spricht, es ist nicht die seine, das ist schmerzvoll für ihn. Er ist wie ein kleines Kind, das sich mitteilen möchte, aber noch keine Worte artikulieren kann. Man kann eine andere Sprache sprechen, aber wenn man zornig ist, verwendet man die Muttersprache.

Ist der Film für Sie eine persönliche Geschichte?
Er bezieht sich auf meine Erfahrungen mit der konkreten Gegend, aber es handelt sich deshalb nicht um etwas Autobiografisches. Ich bin in meiner Familie auch mit vielen Fremden aufgewachsen, das war alles sehr gemischt, das kenne ich gut. Aber das funktioniert wie ein Schutzmantel: Was ich sehr gut kenne, befreit mich – ich kann mit dieser Erfahrung überall hingehen, neue Figuren treffen. Die Geschichte ist völlig frei erfunden.

Ganz ehrlich, wie konnten Sie Monica Bellucci an Bord holen?
Kaum zu glauben, aber ich habe einfach gefragt. Manchmal reicht das. (Lacht.) Ich wollte nicht, dass sie das Drehbuch vorher liest, ich habe ihr nur meinen ersten Film gezeigt und mich mit ihr unterhalten. Ich mache da auch gar keinen Unterschied zwischen Tieren und Kindern, Laien und Stars: Sie müssen ein schönes Wesen haben, das ist mir wichtig. Man verbringt schließlich sehr viel Zeit miteinander beim Dreh. Wenn da jemand dabei ist, den man nicht ausstehen kann, ist das fürchterlich, und es würde auch den Film verändern, weil man letztlich nicht daran interessiert wäre, die Person näher kennenzulernen. Monica und ich haben uns getroffen und festgestellt, dass wir uns gern näher kennenlernen würden. So einfach war das.

Cannes ist ein Festival alter Männer, Sie repräsentieren da eine neue Generation junger Filmemacherinnen. Wie fühlt sich das an?
Das ist ein wenig so, wie wenn man als Kind auf einer Party für Erwachsene ist (lacht), das ist sehr eigenartig und manchmal ein wenig Furcht einflößend. Als Kind hat man dafür immer und überall Spaß.

Gibt es Filmemacher, die Sie beeinflusst haben?
Ich tue mir da mit einer Antwort schwer, ich liebe eher Filme als die Regie. Sie müssen mich die Welt mit anderen Augen erleben lassen, das ist mir wichtiger als das Storytelling. Wenn man einen Film anschaut und dabei etwas aus einer völlig anderen Perspektive sieht, das ist eine großartige Erfahrung und Möglichkeit, auch wenn man die neue Perspektive möglicherweise nicht mag. Roberto Rossellini ist da ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben.

Wann spielt Ihr Film genau? Es sieht aus wie irgendwann in den achtziger Jahren.
Ich weiß es selbst nicht so genau, es ist mir auch nicht wichtig. Selbst wenn im Film alle in Mittelalter-Klamotten herumlaufen würden, ginge es letztlich um die Gegenwart, darum, zu verstehen, wie wir heute leben, das ist doch immer das große Thema.

Sieht man das in Italien so, dass der Tourismus auch das Land zerstört?
Man spricht nicht viel darüber. Ich bin keine Politikerin, aber es stimmt schon, das ist durchaus ein politischer Film. Ich bin der festen Überzeugung, wir müssen andere Wege finden, zu Geld zu kommen. Oder wir müssen einen Weg finden, weniger Geld auszugeben. Der Faktor Geld darf jedenfalls nicht das einzige Kriterium sein, ob etwas gut ist. In gewisser Weise ist der Tourismus das Ende der Welt. Die Welt wird mit schönen Selfies untergehen. (Lacht.)

Leben Sie selbst auf dem Land?
Das wechselt. Ich liebe die Kultur und die Menschen, das ist mein Problem. Sonst würde ich gern in einer Höhle leben. Vom Arbeiten her ist es bei mir auch ähnlich wie auf dem Land: Leben und Arbeit sind untrennbar miteinander verbunden.

Wo sind Ihre Figuren jetzt?
Keine Ahnung, aber sie sind auf jeden Fall zusammen. Waren sie zuerst da oder das Haus? Wer weiß das schon! Zu Beginn des Films ist alles finster, vielleicht erweckt ja auch nur das Licht diese Leute zum Leben? Mir war es wichtig, dieses kleine Drama zu erzählen, und das ist es letztlich trotz zahlreicher humoristischer Einschläge. Wenn man sich gerade selbst inmitten eines Dramas befindet, fühlt sich alles immer gleich wie das Ende der Welt an. Ich wollte, dass Gelsomina einen Schritt zurück macht und ihre Familie mit Zärtlichkeit betrachtet. Wir alle sollten eigentlich immer einen Schritt zurück tun, dann sieht man, dass es nicht das Drama ist, was bleiben wird.

Wofür steht das Kamel?
Das Kamel ist ein Zeichen dafür, wie sehr ein Vater seine Tochter lieben kann und wie stark diese Liebe sein kann.