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Mr. Turner

Mr. Turner

Schweinsbäckchen im Sonnenlicht

| Jörg Schiffauer |

Mit „Mr. Turner“ zeichnet Mike Leigh das ebenso eigenwillige wie beeindruckende Porträt eines großen Künstlers.

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Auf den ersten Blick gibt es recht wenig, was an diesem Herrn außergewöhnlich wäre. Ein etwas beleibter Mittfünfziger, der sich trotz seiner Körperfülle recht geschmeidig zu bewegen versteht. Dessen Kleidung niemals ganz korrekt zu sitzen scheint, was im bekannt sittenstrengen England des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt als „casual look“ goutiert wird. Dessen Antworten sich oftmals auf ein variantenreich moduliertes, brummiges Grunzen beschränken. Und damit wären wir erst beim äußeren Erscheinungsbild eines Menschen, dessen Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich – mit britischem Understatement formuliert – noch wesentlich unkonventioneller und eigenwilliger erscheint. Doch so wenig außergewöhnlich oder gar erhaben der Mann auftritt, mit seiner Arbeit ist das schon eine ganz andere Sache. Denn Joseph Mallord William Turner (1775–1851) ist nicht weniger als einer der bedeutendsten Maler – bevorzugtes Sujet Landschaften –, die im Verlauf der Kunstgeschichte ihre künstlerischen Visionen mittels Farbe und Pinsel umgesetzt haben. Im Gegensatz zu etlichen seiner Kollegen, deren Genie erst posthum gewürdigt wurde, war William Turner jedoch schon zu Lebzeiten einer der meistbewunderten und geschätzten Maler Englands, der immer noch hoch im Kurs steht – gegenwärtig erzielen seine Bilder auf Auktionen schon einmal Preise um die 30 Millionen Euro.

Schwierige Beziehungen

Mike Leigh, feste Größe des Weltkinos und über viele Jahre in seinen Arbeiten neben Ken Loach das soziale Gewissen im britischen Filmschaffen, hat sich nun der – durchaus ambivalenten – Persönlichkeit von Mr. Turner angenommen. Mit einem dramaturgischen Zugang, der, ruft man sich die Filmgeschichte bezüglich Künstlerbiografien in Erinnerung, durchaus ungewöhnlich erscheint. Denn zunächst spielt das künstlerische Schaffen des Mister Turner keine prominente Rolle. Oder präziser formuliert, es steht anfangs nicht mehr im Fokus von Leighs Porträt, das in etwa das letzte Vierteljahrhundert im Leben des großen Malers umfasst, als der Mensch und Privatmann William Turner, der sich in seinen alltäglichen Gewohnheiten zunächst wenig von einem durchschnittlichen Mitglied des gehobenen Bürgertums im England dieser Epoche unterscheidet. Da gehört es durchaus zu den Höhepunkten im Haus der Turners, wenn William die Arbeit unterbricht, um sich mittags genussvoll an gekochten Schweinsbäckchen zu delektieren.

Turners Hang zu einem gewissen Maß an Exzentrik, die im fortschreitenden Alter verstärkt zum Vorschein kommt, manifestiert sich vor allem in seinen Familienverhältnissen. Sein Vater agiert über Jahrzehnte als eine Art persönlicher Assistent in allen Lebenslagen – vom Anrühren der Farben für den Meister bis zum Kauf und Zubereiten des Schweinskopfes, dessen besagte Bäckchen Turner so schmecken. Die ein wenig bizarre Wohngemeinschaft von Vater und Sohn wird durch Hannah komplettiert, die nicht nur in ihrer Funktion als Haushälterin als guter, stets im Hintergrund agierender Geist werkt, sondern auch emotional tief mit William Turner verbunden ist. Eine Beziehung, die jedoch stark asymmetrisch verläuft, beschränkt sie sich von Turners Seite darauf, dass ihm Hannah in unregelmäßigen Abständen für Bedürfnisse sexueller Natur zur Verfügung steht. Und dann ist da noch Sarah Danby, Hannahs angeheiratete Tante, lange Jahre die Geliebte – treffender beschrieben durch den englischen Ausdruck „Mistress“ – William Turners, mit der er zwei bereits erwachsene Töchter hat. Mittlerweile von Sarah getrennt, sind ihre sporadischen Besuche nur noch unwillkommene Unterbrechung seines Tages. Als sie wieder einmal in Begleitung der gemeinsamen Töchter – die sich kaum das Wort an den Vater zu richten trauen – Turner in seinem Haus aufsucht und ihn auffordert, doch ein wenig mehr Zeit seinen Kindern zu widmen, reagiert er gereizt und kanzelt sie mit einem knappen Satz ab: „I am exceedingly preoccupied.“

Was haben William Turners bodenständige Vorlieben für Schweinsbäckchen und seine etwas verworrenen persönlichen Verhältnisse mit dem großen Maler zu tun? Nun, zunächst einmal – gar nichts. Denn Mike Leigh macht in seiner subtilen und detailverliebten Charakterisierung Turners nach und nach ziemlich deutlich, dass sich der Künstler William Turner in all seiner Großartigkeit nicht über den Privatmann William Turner erschließt. Letzteren mag man, abhängig vom Blickwinkel, als exzentrisch oder auch ein wenig rücksichtslos beurteilen, doch das führt vordergründig einmal nicht weiter.

Erst ganz allmählich nähert sich Mr. Turner auch dem Maler und seiner Arbeit. Und dabei wird eine ganz andere Seite von Meister William manifest. Die entspricht zuvorderst nicht jenem Bild des naturgegebenen Genies, dem die Inspirationen einfach zufliegen, wie jenes, das Milos Forman und Peter Shaffer von Mozart in Amadeus zeichnen. William Turner agiert vielmehr nach einem Johann Sebastian Bach zugeschriebenen Satz – den übrigens auch Stanley Kubrick vielsagenderweise gerne zitierte – wonach „Genie zehn Prozent Begabung und 90 Prozent harte Arbeit“ sei. Und so wandert William Turner erst einmal stunden- und tagelang durch die Landschaften Englands, um Motive im genau richtigen Licht zu entdecken, zu erkunden und zunächst alles penibel auf seinem Skizzenblock festzuhalten. Wie weit das geht, macht eine Szene gegen Ende des Films deutlich, als der bereits sterbenskranke Turner im Nachthemd aus dem Bett springt und mit Stift und Papier zum nasskalten Strand eilt, um einen Moment, der ihm besonders wertvoll erscheint – die Leiche einer ertrunkenen Frau wird geborgen – in einem bestimmten Lichteinfall festzuhalten. Erst diese Hingabe, diese Leidenschaft, diese Passion, die sich bei Turner nicht auf exaltierte Weise, sondern vielmehr in ruhiger Disziplin manifestiert, ist die Grundlage für ein künstlerisches Werk, das nicht nur für sich schon beeindruckend ist, sondern auch bahnbrechende Elemente aufweist. Denn durch seine originäre Verwendung des Lichts löste sich Turner mit seinen Bildern von der Gegenständlichkeit in der Malerei und stellte damit vielmehr den Eindruck dar, den Dinge unter gewissen Lichtverhältnissen erzeugen, womit sich William Turner den Status als Vorläufer der französischen Impressionisten erarbeiten konnte. Mit dieser Beschreibung einer akribischen Arbeitsweise macht Mike Leigh auch deutlich, dass William Turners Verhalten im Privaten weit weniger exzentrisch ist, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Seine Arbeit, seine Kunst wurde Zug um Zug der dominierende Faktor in seinem Leben, neben dem alles andere zurückweichen muss. In diesem Sinn erscheint es dann auch weniger als Rücksichtslosigkeit charakterlicher Natur, sondern vielmehr seiner Arbeit geschuldet, die ohne diese Konsequenz gar nicht möglich wäre, dass Mr. Turner tatsächlich immer „außerordentlich beschäftigt“ ist. Zwar bleibt daneben immer noch ein gewisses Maß an Privatsphäre, wie etwa Turners späte Liebe zu Sophia Booth, der in Leighs Porträt gebührend Raum eingeräumt wird, doch auch die rüttelt nicht an der Priorität, die Turner seinem Schaffen einräumt.

Inferno und Ekstase

So gelungen Mike Leigh den Gegensatz zwischen dem Privatmann und dem Künstler William Turner betont, um genau damit ein komplexes Bild seiner Persönlichkeit samt allen Ambivalenzen zu zeichnen, so außergewöhnlich ist dieser Ansatz, wenn man exemplarische filmische Biografien großer Künstler – im speziellen Fall berühmter Maler – betrachtet. Da es mit den Mitteln des Spielfilms naturgemäß nicht ganz einfach ist, Kunsttheorie zu betreiben oder die Rezeptionserfahrung, die man beim Betrachten der Arbeiten großer Maler macht, wiederzugeben, wählen derartige Biopics oftmals den dramaturgisch erprobten Weg, über markante Ereignisse im Leben ihrer jeweiligen Protagonisten sich diesen anzunähern – mit unterschiedlichen Resultaten.

An einen großen Namen in der Kunstgeschichte wagte sich etwa Carol Reed mit Michelangelo in The Agony and the Ecstasy (1965). Im Mittelpunkt stehen dabei die Auseinandersetzungen, die Michelangelo im Verlauf der Gestaltung der Sixtinischen Kapelle mit seinem Auftraggeber, Papst Julius II., auszufechten hatte. Opulent ausgestattet und im Stil des Monumentalfilms inszeniert, bringt Reed seine prominente Besetzung – Charlton Heston als Michelangelo und Rex Harrison als Julius – als Antagonisten klassischen Zuschnitts in Stellung, kommt dabei jedoch über ein Historiendrama von konventionellem Format nicht hinaus.

Substanzieller und weitaus überzeugender gingen zwei große Hollywood-Regisseure an die Sache heran. Vincente Minnelli porträtierte in Lust for Life (1956) mit Vincent van Gogh ebenfalls einen ganz Großen seiner Zunft. Zwar näherte sich Minelli auch über dramatische Situationen – die oftmals in der psychischen Erkrankung van Goghs ihren Ursprung haben –, doch gelang ihm damit eine Verknüpfung von Leben und Werk, die Sinn ergibt. Natürlich begründen die manisch-depressiven Schübe, unter denen van Gogh litt, nicht sein Talent, doch sie machen in Lust for Life sichtbar, wie die Besessenheit, mit der Van Gogh seine künstlerischen Ziele verfolgt, pathologische Züge annimmt, bis hin zur Selbstzerstörung. Die Intensität, die von Lust for Life ausgeht, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil Kirk Douglas geschuldet, der den in sich so zerrissenen Künstler mit beklemmender Eindringlichkeit verkörpert. Zudem haben die Kameramänner Freddie Young und Russell Harlan Licht und Farben so gesetzt, dass Lust for Life sich visuell Van Goghs Stil ziemlich kongenial annähert.

Auch John Huston fokussiert in Moulin Rouge (1952) zunächst auf die persönlichen Dramen des Henri de Toulouse-Lautrec. Hier ist es eine physische Beeinträchtigung, Kleinwüchsigkeit, die dazu führt, dass sich Leben und Werk wechselseitig stark beeinflussen. Denn dieses körperliche Handikap ist nicht nur Ursache jenes unendlichen Leidensdrucks, an dem Toulouse-Lautrec zerbrechen wird, es ist letztendlich auch Quelle dafür, dass er jenes Leben, das er selbst nicht führen kann, in seinen Bildern so unnachahmlich sichtbar macht – in all seiner Vitalität, Kraft und auch ein wenig Verruchtheit. Moulin Rouge ist ein ebenso düsterer wie berührender Film, der die Substanz des Werks von Henri de Toulouse-Lautrec – von José Ferrer beeindruckend gespielt – widerzuspiegeln versteht.

Zu einem eher banalen Stationendrama gerät hingegen das Porträt Frida Kahlos. Julie Traymor inszeniert Frida (2002) als sentimentales Melodrama, in der das durchwachsene, tragische Privatleben der Protagonistin dominiert, das künstlerische Schaffen jedoch auf dekoratives Beiwerk reduziert bleibt. Raoul Ruiz’ Klimt (2006) verbreitet wiederum primär geradezu quälende Langeweile, präsentiert dabei eine Darstellung Gustav Klimts, die sich in zu oft strapazierten Klischees – der egozentrische Malerfürst lässt sich in seinem Atelier von jeder Menge spärlich bekleideter junger Damen umgeben, die ihn anschmachten – verfängt.

Ein uneitler Künstler

Von solchen Banalitäten ist Mr. Turner natürlich meilenweit entfernt. Verantwortlich dafür ist neben Mike Leighs kluger Inszenierung ganz wesentlich Timothy Spall in der Rolle der Titelfigur. Spall, einer der feinsten Charakterdarsteller überhaupt, der sein facettenreiches Spiel im Blockbuster-Kino genauso wirkungsvoll wie in Arthaus-Produktionen zur Geltung zu bringen versteht, verkörpert Turner mit einer physischen Präsenz, die sich tief im Gedächtnis eingräbt, ohne dabei die zahlreichen Schattierungen dieses Charakters zu vernachlässigen.

Mike Leigh, der sich in seinen Arbeiten wiederholt kritisch mit den sozialen Realitäten Großbritanniens auseinandergesetzt hat, setzt zwar in Mr. Turner das England des 19. Jahrhunderts ungemein detailgenau und atmosphärisch stimmig in Szene, spart jedoch nicht mit geschickt verklausulierten Seitenhieben auf gegenwärtige Verhältnisse. Zwar zählt Turner zu den führenden Künstlern seiner Zeit, der bereits in jungen Jahren Mitglied und Professor der Royal Academy war, doch sein relativ abgesicherter materieller Status erscheint keineswegs – anhand eines weniger erfolgreichen Malerkollegen wird ihm dies immer wieder vor Augen geführt – völlig stabil. Selbst er kommt nicht umhin, bei potenziellen Käufern seiner Werke und einflussreichen Akademiekollegen gute Miene zu machen, um sie bei Laune zu halten, eine gesellschaftliche Konvention, die ihm zeitweilig ein gutes Nervenkostüm abverlangt. Da muss er schon einmal in seinem privaten Schauraum eine blasierte Interpretation seiner eigenen Bilder aushalten, die ein Jüngling aus der Upper Class mit pathetischem Gestus vorträgt – übrigens auch eine herrliche, böse Anspielung auf die selbsternannte Kunst-Schickeria modernen Zuschnitts. Hier schließt sich wiederum der Kreis zu jenem William Turner, der es bevorzugt, an seinen Bildern zu arbeiten, anstatt Zeit mit Familienangehörigen zu verbringen. Genau deshalb lässt er sich auch auf das Spiel mit jenen gesellschaftlichen Konventionen ein, weil das eben  eine der Voraussetzungen ist, um seiner künstlerischen Arbeit weitgehend autonom nachgehen zu können.

Dafür stellt Turner persönliche Eitelkeiten schon einmal zurück – eine Einstellung, die angesichts einer Gegenwart, in der inhaltsleere Selbstdarstellung für viele zum Lebensprinzip geworden ist, als ziemlich bemerkenswerte Quintessenz von Mike Leighs Biopic angesehen werden kann. Dass Mr. Turner in der Sache selbst äußerst konsequent bleiben konnte und sich wenig um seine persönliche Reputation gepfiffen hat, auch das macht Leighs Film deutlich. Große Leistungen werden nun einmal nicht von Menschen vollbracht, deren einziges Ziel ist, jedermanns Liebling zu sein.