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Filmmuseum

Der Zauber der Straße

| Jörg Becker |
Zur Retrospektive „Asphalt. Stadtmenschen im Weimarer Kino“ – von 13. Februar bis 9. März im Österreichischen Filmmuseum

Die Filmauswahl, die das Filmmuseum zum Kino der Weimarer Republik getroffen hat, umfasst etwa dreißig Werke aus der Dekade zwischen 1923 und 1933, vom Ende der Inflation bis zum Übergang der präsidialdemokratischen Republik in die NS-Diktatur. Das Spektrum erstreckt sich zwischen dem Genre-begründenden Film Die Straße (Karl Grune) und dem aus historischer Rückschau sarkastisch anmutenden Titel Morgen beginnt das Leben (Werner Hochbaum), eines Films noch in der Formensprache des Weimarer Stadtfilms, wenngleich bereits in den ersten Monaten der Nazi-Regierung entstanden; mit ihm ging ein frühes Kapitel realistischer Filmkunst des modernen Stadtlebens zu Ende. Gewichtige Markierungen des deutschen Kinos jener Jahre jenseits des ausdrücklichen Topos Straße bilden die Ufa-Prestigeproduktionen Der Walzertraum (Ludwig Berger, 1925), Metropolis (Fritz Lang, 1927) und Der blaue Engel (Josef von Sternberg, 1930). Mit dem Walzertraum kam, nach der Vorlage einer Oscar-Straus-Bühnenoperette, das ‚Alt-Wien-Genre‘ in die Welt; mit Der blaue Engel, im Kolorit der Spätwilhelminischen Ära, in der Heinrich Manns Vorlage entstanden war, gewann Marlene Dietrich nicht nur Ikonenstatus – als gefundene Verkörperung einer erotisch libertären Moderne auf dem ungeregelten Libido-Markt der Kräfte Wunsch, Verlangen, Gier und Verführung schien ihr Bild darauf angelegt, die Moral altdeutscher Provinz aus den Angeln zu heben; Und Metropolis, dieses Monstrum und lange Zeit ein ‚Gespenst der Filmgeschichte‘, das, ins nächste Jahrtausend projiziert, von utopischem Zukunftspunkt aus, eine rückblickende Phantasie übergreifender Menschheitsmythen enthält, „bester Ausdruck des Imaginären in Deutschland während der ‚relativen Stabilität‘“ (Bernard Eisenschitz, 2010). Seine Architektur: eine Diversität der Entfremdung – Stadtkrone, Häusermassive, Verkehrstransversalen, unterirdische Fabrikhallen, babylonische Türme, Paradiesgärten der Reichen und Kathedralen; der Mythos der ewigen Mutter, deren laborgefertigte Drohne zur massenverführenden Hexe wird, Licht- und Höhlenwesen, die Versöhnung von Vater und Sohn, die Liebe, die Hand und Hirn eine. „[I]n den »Hohlräumen« dieses Films“, so Klaus Kreimeier in seiner „Ufa-Story“ (1992), bildeten sich „Erfahrungen der Gegenwart ab – regressives Traummaterial der Republik, vorläufig gescheiterte Projekte der äußersten Reaktion“.

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Ludwig Berger über Ein Walzertraum (1925 auf dem Babelsberger Studiogelände gedreht): „Keiner von uns war aus Wien, und doch schufen wir jene Mischung, die Wien populär machte. Wenn es gar zu süßlich zu werden drohte, ließ ich es regnen. Damals entstand die erste Liebesszene im Regen, die dann so oft in anderen Filmen kopiert wurde. Auch weil es sich so schön dicht nebeneinander unter einem gemeinsamen Regenschirm ging, ließ ich es regnen.“ – „Man soll sich darüber freuen, daß es wieder einen leichten, schwärmerischen deutschen Film gibt, der zu allen Schichten spricht“, schrieb Herbert Ihering im Berliner Börsen-Courier (19.12.1925)

Die Weimarer Traditionslinie eines sinnenfroh-respektlosen, libertären Kinos nach Lubitsch‘ Vorbild ebenso wie der Großstadtfilm, der vom Reiz visuellen Versprechens ausging, Kontaktzonen mit Kriminalität und verbotener Sexualität herstellte, damit die Triebunterdrückung des Kleinbürgers tangierte und den Blick in Abgründe öffnete, wurde in der von Joseph Goebbels vorgegebenen NS-Propaganda als Inbegriff von „Systemzeit“ und „jüdischer Asphaltkunst“ diffamiert. Doch der Zauber der Straße, dieses schmutzigen Schauplatzes von kommunalem, öffentlichem Leben – das war auch der Zauber des Kinos.

Zerstückelte Welt

In seiner Uraufführungsrezension hob Siegfried Kracauer Die Straße. Die Geschichte einer Nacht (1923) hervor als „eines der wenigen Werke moderner Filmregie, in denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt Möglichkeiten sind. (…) Je mehr das Dargestellte sich wiedergeben läßt in der Folge bloßer Bilder, dem Zusammen gleichzeitiger Impressionen, umso mehr entspricht es seiner Assoziationstechnik. Was also wäre ihm enger verwandt als ein Leben, das sich rein in äußerlichen Begebenheiten erschöpft. (…) Die Großstadtstraße ist charakteristischer Schauplatz solchen scheinhaften Lebens. Menschen durchkreuzen sie, wie der Zufall es will, streifen einander und entfernen sich ohne Gruß. (…) Der in die zerstückelte Welt versetzte Einzelne, der etwa ein Bewußtsein von sich selber hat, ist in ihr einsam schlechthin.“ (Frankfurter Zeitung, 4.2.1924) Die Straße zeigt Menschen in ihren Milieus, definiert sie räumlich. Lichtreize, Stimulantien von außen ziehen den Biedermann aus seiner Innerlichkeit in die ungeschützten Räume der Großstadt. Der Freiheitstraum eines braven Bankkassierers hat in Siegfried Kracauers sozialpsychologische Diagnose des Weimarer Kinos „Von Caligari zu Hitler“ (EA 1947) eingewirkt: „Das Aufkommen dieser realistischen Tendenz in Die Straße zeigt deutlich, daß der allgemeine Rückzug ins Schneckenhaus, der symptomatisch für die Nachkriegsjahre war, abgeblasen werden sollte. Es war, als hätte dieser Rückzug mit der Annahme der Devise ‚Von der Auflehnung zur Unterwerfung‘ sein Ziel erreicht und als wollte jetzt, wo der Prozeß innerer Anpassung zu einem Abschluss gekommen war, das Kollektivbewußtsein den Kontakt mit der äußeren Realität wieder aufnehmen.“ Bezeichnend für den Straßenfilm erscheint der infantil-regressive Charakter einer schutzsuchenden, wiedergutmachen-wollenden Gebärde eines reumütigen Rückkehrers im Schoß der Gattin oder in den Armen der Geliebten, einer Gebärde, wie sie etwa in Asphalt (1929) oder Morgen beginnt das Leben (1933) den Zyklus der Handlung beschließt.

„Grunes Film ist eine Anatomie des Kleinbürgers“, postulierte Klaus Kreimeier 1972. „Wie die Menschen in Platos Höhle sitzt der Kleinbürger in seiner guten Stube. Die Schattenspiele an den Wänden sind für ihn wahrer und wirklicher als der verkommende Plüsch seiner Wohnung. Sie sind magische Formeln für das magische Leben der Straße, damit aber für Leben überhaupt. (…) Das erklärt die Faszination, die die Straße auf den Kleinbürger ausübt: den Weg zur Hölle hat er mit Freiheitsträumen gepflastert.(…) Schuldgefühle verzerren die Träume des  Kleinbürgers zu Alpträumen, aus denen er aufschreckt, um sich erneut zu unterwerfen. Erst das Kino nimmt ihm alles ab: die Flucht und den Traum, die Schuldgefühle und die Zerrbilder. Es liquidiert sie, indem es sie selbst in Szene setzt.“

„Kolportage als großes Melodram“, etikettiert die „Chronik des deutschen Films“ (Hans Helmut Prinzler, 1995) den Film Asphalt (1929). Sein Regisseur Joe May unterzog das neusachliche Motiv Großstadtboulevard einer ausladenden Inszenierung, dimensional verwandt seinen in den Anfangsjahren der Republik gedrehten barocken Historienwerken, die nicht mehr gefragt waren, ebenso wenig wie die ihre stofflichen Motive aus der Romantik beziehenden, expressiv-stilisierten Werke, die dem Caligari– Film folgten. Die Straßenszenen, für die Berliner Geschäfte eingeladen waren, eigene Schaufenster als Werbeflächen einzurichten, wurden zur Gänze im Neubabelsberger Studio gedreht, in welchem auch ein von Ufa-Technikern erfundener fahrbarer Kamerakran zum Einsatz kam, der sein fliegendes Aufnahmeauge aus der Atelierstraßentotale in das Innere von Ladengeschäften – und zurück – gleiten lassen konnte.

Reizüberflutung der Stadtmaschine

Mit einem Hauptwerk F. W. Murnaus, Der letzte Mann (1924), kam eine fließende Montage und eine bis dahin unerreichte Beweglichkeit der ‚entfesselten Kamera‘ (Karl Freund) in den Film – ein Eigenleben der Aufnahme als Kunst der Bilderzählung, bezeichnend für das außerordentliche Niveau des deutschen Films der zwanziger Jahre. „Die Dynamisierung von Räumen erreicht im Letzten Mann einen Moment der souveränen Beherrschung von Raum und Zeit“ (Thomas Brandlmeier, 2008). Die Tragikomödie eines alternden Hotelportiers gehört auch noch zum Genre Kammerspielfilm, erfüllt von mimisch-gestischem Psychodrama, das die Ängste des deutschen Kleinbürgers in der Inflationsphase reflektiert. „Dieser Portier .. bläht sich .. zur Figuration des Grand-Hotels auf, der Lakai inszeniert sich selbst als Generalissimus, macht sich breit mit seinen raumgreifenden, imperialen Gesten. Hier offenbart sich Der letzte Mann als Inflationsfilm. Die Welt ist aus den Fugen geraten, und der Diener maßt sich die Herrenrolle an. (…) In seinem Kern ist dieser Film eine Herrschersatire.“ (Karl Prümm, 2003) Eine Satire allerdings als universelle kapitalistische Parabel um einen „Modernisierungsverlierer“ (Thomas Koebner, 2003), in der allerdings der Faktor ‚Status und Scham‘ bei Gesichtsverlust des Degradierten dazu angelegt war, dem Zuschauer für lange Zeit zu schaffen zu machen, bis dieser Niedergang ironisch, aufs Unwahrscheinlichste umgebogen wird ins Happy End einer großen Erbschaft, die ein verrückter amerikanischer Millionär dem zum Klomann herabgewürdigten Portier hinterlässt. US-Dollars lassen den von seiner Uniform Gehäuteten urplötzlich aus den Tiefen der Aborte in unglaublicher Wendung nach oben schießen, in die Salons – zu denken an die US-Investitionen in Deutschland, die als Auswirkung des Dawes-Plans die Verhältnisse der Republik umwälzten, worauf das Hauptmotiv des Grand-Hotels, die Drehtür, welche die Ein- und Ausgehenden herumwirbelt, das zentrale Sinnbild abgibt. Und was gilt schon die Uniform gegenüber der Macht des Geldes.

Tatsächlich verdankte sich der wirtschaftliche Aufschwung nach der Ablösung der Rentenmark durch die Reichsmark in Deutschland in erster Linie ausländischem, vor allem US-Kapital, das infolge des Dawes-Plans in der Republik angelegt wurde. Durch die Räumung des Ruhrgebiets, die Senkung der Reparationsleistungen sowie große Anleihen an Deutschland verursachte es eine Scheinblüte – „eine schöne Fassade, hinter der die unerfreuliche Wirklichkeit verborgen wurde“. (Peter Gay, 1987) Zunehmende Konzentration der deutschen Industrie in Konzerne und Kartelle, ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen sowie eine sich stabilisierende Wirtschaft unter regelmäßig von den Sozialdemokraten gestützten konservativen Regierungskoalitionen prägten das Bild der Weimarer Republik in den fünf Konsolidierungsjahren, die der Ende 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise vorangingen. Man mutmaßte, das ‚aufgesetzte‘ Happy End in Murnaus Letztem Mann, von seinem Drehbuchautor Carl Mayer ungeliebt, habe sich im Sinne der neuen Prosperität infolge des Dawes-Planes durchgesetzt, ohne dass ein letztlich Verantwortlicher in der Ufa-Entscheidungskette zu benennen wäre. Es ist der einzige Zwischentitel des Films, mit dem Mayer die Volte des zweiten, optimistischen Schlusses mit gehöriger Ironie ankündigte.

Mit Franz Biberkopf, dem ehrlichen Ganoven aus dem Kriminellenmilieu, gerade aus dem Gefängnis entlassen, fährt der Film Berlin-Alexanderplatz (Piel Jutzi, 1931) vom Rand der Stadt (Tegel) in die Mitte Berlins, in Richtung  Scheunenviertel, und der Held fühlt sich nach Jahren der Absenz von der Reizüberflutung der Stadtmaschine, in die er eindringt, zunehmend in Panik versetzt. Wiederholt wird der Alexanderplatz als authentischer Topos einbezogen, wo der nunmehr einarmige Biberkopf sich schließlich mit eisernem Willen behaupten kann durch den Verkauf von Stehaufmännchen – dessen Geheimnis: „Es hat Metall am rechten Fleck!“ – ‚Stählerner Lebenswille‘ – das war es, was man den vielen verstümmelten Überlebenden des Weltkriegs anempfahl; auch Prothesenträger würden an der ‚Produktionsfront‘ gebraucht. Der Querschnitt durch die Stadt – in unterschiedlichster Weise findet er sich in Berlin, die Sinfonie der Großstadt (Karl Ruttmann, 1927): 24 Stunden im Leben einer Stadt, phänomenologisch und nach formalen Prinzipien, musikalisch in rhythmischen Sequenzen komponiert, zielt der Film auf visuelle Wirkungen des modernen Metropolenlebens mehr als auf soziale Zusammenhänge und stellt eine Eroberung der Wirklichkeit des Dokumentarischen durch den Avantgardefilm dar. Ein anderer filmischer Berlin-Querschnitt zeigt sich in Emil und die Detektive (Gerhard Lamprecht, 1931) nach Erich Kästner, denn während der Entdeckungsreise bzw. Verfolgung des Diebes quer durch die Stadt wird Berlin zum Träger der Handlung.

Die Metropole, der Dschungel

Mit M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931), der Geschichte einer Menschenjagd, traf Fritz Lang die Atmosphäre in Deutschland kurz vor dem Machtantritt der Nazis. Die Fälle von Fritz Haarmann, der „Bestie von Hannover“ („Warte, warte nur ein Weilchen…“) und Peter Kürten, dem „Vampir von Düsseldorf“ und erstem deutschen Serienmörder, waren darin enthalten. M markiert Langs Kino der Angst, das darauf angelegt war, den Strukturwandel eher zu erfassen als ein handelndes Individuum, dem noch Unbekannten Gestalt zu geben und Ahnungen zukünftiger Dinge identifizierbar zu machen. Der Film synchronisiert die Fahndungsgeschichte von Polizei und Unterwelt: während jene die Stadt rasterhaft erschließt, bewegt sich diese wie im Dschungel, auf eigener Wildbahn, ist damit im Vorteil und zerrt den getriebenen Täter, eine gehetzte, zerrissene Gestalt, vor ihr unterirdisches Tribunal.

Regisseur Werner Hochbaum, dem „nach Murnau, Lang, Lubitsch und Ophüls wichtigsten deutschen Filmregisseur“ (Ulrich Kurowski), der auf den Pfaden eines „psychologischen Impressionismus“ hochgradiges Formbewusstsein entfaltete und in unterschiedlichen Genres dem Innenleben seiner Figuren ein eigenes Repertoire an Ausdrucksformen fand, ist mit zwei Werken vertreten: Morgen beginnt das Leben (1933), in der Tradition raffiniert geschnittener, experimentierfreudiger Großstadtfilme, von der Rhythmik nervös getriebener, querschnittartiger Bild- und Tonmontagen, den Übergängen zwischen Innen- und Außenwelt, filmischen Imaginationsräumen und Erinnerungskompositionen. Ein wegen einer tödlich ausgegangenen, unglücklichen Affekttat Verurteilter wird aus der Haft entlassen, seine Frau verschläft den Termin, und so suchen und verpassen sie einander einen ganzen Tag lang an wechselnden Orten Berlins. Hochbaums totaler ‚Ton-Stummfilm‘, d.h. ohne jeden Originalton noch wie ein Stummfilm inszenierter, mit durchgeplanter Tonspur vollständig synchronisierter Spielfilm, ist offensichtlich ein Produkt des Übergangs. „Die Formensprache“, so Karsten Witte in der „Geschichte des deutschen Films“ (1993), „war hier reicher als das Diktat des Neuen. Der Regisseur, ein Erbe des proletarischen Films der Weimarer Republik, entpolitisierte seine Mittel in dem Maße, wie er die Rhetorik der alten Avantgarde wiederbelebte.“

Auf der Flucht vor der Polizei landet ein Einbrecher-Matrose im Zimmer eines Straßenmädchens, im Nu bricht die Liebe aus, mit ihr der Traum von einem anderen Leben, doch während der Nacht in der Kongo-Bar zieht sich das Fahndungsnetz immer enger zusammen. Der „lumpenproletarische poetische Realismus“ von Hochbaums Film aus dem Hafenmilieu, Razzia in St. Pauli (1932), „vergemeinschaftet Gefühle zu schimmernden Atmosphären“ (Joachim Schätz, 2011). Hochbaum habe, so Peter Nau (2011), „das verbrauchte, abgestorbene Material des aus der Stummfilmzeit überkommenen Ganoven- und Dirnenfilms durch Verwandlung in eine originale und aktuelle Filmform gleichzeitig aufgedeckt und gerettet“,

Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929): Der Kritiker Durus (= Alfred Kemeny) lobte den »ersten deutschen Film, den man ideologisch und künstlerisch mit den russischen Filmen in einem Atem nennen kann: ein Film, der die russischen Filme keineswegs kopiert, der selbständig aus den eigenen Bedingungen des deutschen Proletariats entstanden ist. Ein Beweis dafür, daß proletarisch-revolutionäre Filme – wenn auch nicht ganz ohne Konzessionen – bereits vor der Machtergreifung durch die Arbeiterklasse entstehen können.« (Die rote Fahne, Nr. 1, 1.1.1930) Der für die KPD-nahe Prometheus-Filmgesellschaft von Piel Jutzi (auch: Berlin-Alexanderplatz, 1931) inszenierte Film galt als der proletarische Film seiner Zeit, der das Wohnungselend in den Berliner Arbeitervierteln anprangerte und in von Heinrich Zille inspirierten Bildern eine Authentizität vorgab, die hier eher noch als die Montagetechnik des erfolgreichen ‚Russenfilms‘ seine agitatorische Wirkung forcierte. Gegenüber diesem naturalistischen Melodram markiert Slatan Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt (1932) als politisches Werk eine erhebliche Differenz. Der von Brecht und Ottwald verfasste letzte klassenkämpferische Film der Weimarer Republik musste wegen angeblicher Verunglimpfung mehrfach der Zensur vorgelegt werden; Brechts Bericht über seine „Wertschätzung des scharfsinnigen Zensors“, der in der Verhandlung „ein kleines Kolleg über den Realismus gelesen“ habe, ist nach wie vor eine erhellende Lektüre. Ein Aufruf zur Veränderung der sozialen Verhältnisse auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit Anfang 1932 mit 6,1 Mio. Arbeitslosen, ist Kuhle Wampe ein betont unsentimentaler Film, „ein Experiment“, schrieb Herbert Ihering 1932. „Er ist jenseits des Betriebs gemacht, mit künstlerischer Überzeugung und restlosem Einsatz.“

Die freudlose Gasse (G.W. Pabst, 1925): Das Gesicht von Asta Nielsen, die Präsenz ihres Mienenspiels galt Béla Balázs als Offenbarung filmischer Ausdruckskunst, als Beispiel seiner „polyphonen Physiognomik“. Nielsens Gesicht, das zur „dramatischen Bühne“ der Metamorphose des Schmerzes wird, beschreibt Balázs in seinem Werk „Der sichtbare Mensch“ (1930). Nielsen spielt eine Proletarierin, die im Wien der Inflationszeit aus Not zur Prostituierten wird. Die freudlose Gasse konfrontiert die sozial Deklassierten und Hungernden der Nachkriegszeit mit den Spekulationsgewinnern zur Zeit der ‚Entwertung aller Werte‘; entgegen der kriminalistischen Vorlage konzentrierte sich Pabst auf den sozialen Kontrast und die herrschende Korruption. Der Blick auf Greta Garbo, die in ihrem einzigen deutschen Film eine arbeitslose Beamtentochter verkörpert, wird meist als Tableau inszeniert, nah, was in einem reizvollen Spannungsverhältnis steht zum sozialkritischen Impetus des Films.

Filmgeschichtlicher Paukenschlag

Ein „Film ohne Schauspieler“, sollte es sein, „ein Taxi-Chauffeur, ein Weinreisender, ein Ladenmädel (verkauft Schallplatten von Caruso bis Sunnyboy), eine Filmkomparsin und ein Mannequin – was passiert? Nichts? Nichts passiert.“ So warb das Programmblatt zur Uraufführung (Ufa-Theater Kurfürstendamm) mit Ereignislosigkeit, weckte Neugier auf die alternative Attraktion. Ein Sonntag wie tausend andere wird dokumentiert in Menschen am Sonntag, dem Film, der die Konventionen des damaligen Erzählkinos unterlief. Anteile moderner dynamischer Rhythmik, flüchtige Augenblicke des Massenbetriebs à la Ruttmanns Sinfonie der Großstadt – zu sehen ist eine visuelle Studie der Urbanität, die vor und unabhängig von jeder Inszenierung existiert, Stilisierung ausschließt und stark auf Spontaneität, Zufälligem und Gefundenem basiert. Das Porträt einer jungen Stadtgeneration erscheint wie ein Lob auf deren Vitalität und wie sich diese in der Metropole entfalten kann – viel eher ein Hymnus auf das moderne Großstadtleben als eine Kritik am Asphaltmoloch, der Stadtmaschine, dem steinernen Berlin, überdies „ein filmgeschichtlicher Paukenschlag. Formal der Neuen Sachlichkeit zugehörig, antizipiert der Film den Neorealismus (…). Gleich zu Beginn werden die späteren Hauptakteure – mit Absicht Laien – wie zufällig erfasst, aber auch wieder verloren. Menschen im Gewühl. Die Kamera zeigt dabei auch eine gewisse Kälte, die Menschen erscheinen wie Dinge unter Dingen.“ (Thomas Brandlmeier, 2008). Fünf junge, hochtalentierte Filmdebütanten mit bedeutender Zukunft und ein Profi, der legendäre Kameramann und Trickspezialist (siehe: Metropolis) Eugen Schüfftan („Transmissionsriemen deutscher Kinotraditionen in den Vorfrühling der «Nouvelle Vague», so Brandlmeier), zeichneten verantwortlich für dieses Alternativmodell zur herrschenden Filmproduktion, dessen durchschlagender Erfolg Robert Siodmak umgehend einen Ufa-Regievertrag einbrachte.

Siodmaks anschließender abendfüllender Tonfilm, Abschied, ein Milieu-Nachwuchsfilm, mit einer Drehzeit von zehn Tagen und einem Budget von 80.000 Reichsmark damals ein Ufa-Niedrigbudget-Projekt, widersprach ebenfalls den Mustern des Starkinos. Die insgeheime Adaption von Maxim Gorkis „Nachtasyl“ (1902) liefert eine typische Berliner Geschichte aus Vertrautheit mit Ort und Milieu: „Menschen in einer kleinen Pension, es ist ein Stadtfilm des Innenraums. Die sich überschneidenden Bewegungslinien, Zufallskonstellationen und ein unablässiges Zirkulieren sind für ihn kennzeichnend.“ (Karl Prümm, 1998) Die Beschränkungen auf den Innenraum des Studios, weil Tonaußenaufnahmen noch nicht möglich waren, nimmt der Film ins Konzept seiner Reduktion von Raum und Zeit sowie des Kamerablicks auf. „Die Handlung beginnt abends um 7 und gegen 9 Uhr endet sie schon. Die Zeitfolge wird gar nicht unterbrochen. Und auch die Einheit des Milieus nicht. (…) Mit der Absicht, die tonfilmisch toten Stellen zu überbrücken, spielt im Film während seiner ganzen Dauer ein Klavier. Die Musik ist dabei ein organischer Teil der Handlung geblieben. (…) Die Töne sickern von Zimmer zu Zimmer…“ (Drehbuchautor Emmerich Preßburger). „Es gibt wohl kein anderes Beispiel des Weimarer Erzählkinos, in dem die Narration so konsequent aufgelöst wird.“ (Karl Prümm)

Lebenskünstler aus Armut

„Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück“, singt Lilian Harvey in Ein blonder Traum (Paul Martin, 1932). Statt Filmstar in Hollywood zu werden, entscheidet sich die abgebrannte Variétékünstlerin für den Fensterputzer Willy Fritsch (das deutsche Filmtraumpaar jener Jahre, von dem auch die Menschen am Sonntag schwärmen). Das eskapistische kleine Glück, zentrales Element der Tonfilmoperette jener Jahre, machte das Ufa-Erfolgsrezept in der Notverordnungsphase der späten Republik maßgeblich aus. Zeitweilig kommen die Lebenskünstler aus Armut in Laubenkolonien unter („Wir zahlen keine Miete mehr, wir sind im Grünen zuhaus‘“), was der Sehnsucht der Akteure nach Bürgerlichkeit, Einrichtung und Ordnungssinn keinen Abbruch tut – zu denken auch an die Zeltstadt ‚Kuhle Wampe‘ am Berliner Großen Müggelsee, die zum gleichnamigen Filmtitel desselben Jahres inspirierte. Die Botschaften allerdings, wie kaum anders zu erwarten, sind konträr. „Einmal schafft‘s jeder!“ – mit Gesang zum Marschmusikstück fahren die Fensterputzer in geordneten Reihen mit dem Fahrrad durch Berlin. Auch in Kuhle Wampe ist das Fahrrad Fortbewegungsmittel der Arbeiterklasse, die hier jedoch, von vorantreibender Partitur Hanns Eislers grundiert, auf der „Hetzjagd nach Arbeit“ ist.

Aus Geldnot in der Krise müssen sich die Maniküre Grete (Käthe von Nagy) und der Kellner Hans (Willy Fritsch), der nachts arbeitet, arrangieren und im Schichtdienst ein Untermietzimmer teilen, doch kennt man sich nicht persönlich, sondern verliebt sich an neutralem Ort. Der Hauptschlager des Films Ich bei Tag und du bei Nacht (Ludwig Berger, 1932) besingt das Kleine-Leute-Vergnügen: Kino im Film, der durchaus selbstironisch die Realitätsflucht, die das Medium bedient, bloßstellt. Der Kritik war die Raffinesse durchschaubar, mit der hier die Ufa harte Lebensbedingungen mit dem Illusionsreich entrückter Filmträume und vielen Schlagereinsprengseln zu verbinden suchte: „Wenn ich sonntags in mein Kino geh‘ und den Himmel voller Geigen seh‘, träum‘ ich noch am Montag früh‘: Einmal leben so wie die – doch zu sowas kommt man nie!“