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Escobar: Paradise Lost

Mein Onkel aus Kolumbien

| Jörg Schiffauer |
In „Escobar: Paradise Lost“ wird die Begegnung mit dem berüchtigten Drogenbaron zu einer Reise ins Herz der Finsternis.

Zugegeben, es gibt angenehmere Termine, als das erste Mal bei der Familie seiner neuen Freundin  vorstellig zu werden. Wenn man dies dazu als Kanadier in einem Land wie Kolumbien tun muss, wo man wegen seiner Herkunft zunächst einmal grob verallgemeinernd als „Yankee“ apostrophiert worden war, wird die Sache auch nicht stressfreier. Nick Brady (Josh Hutcherson) hat also ein wenig gemischte Gefühle, als er von der Dame seines Herzens, Maria (Claudia Traisac), anlässlich eines großen Festes auf dem luxuriösen Anwesen ihres Onkels Pablo (Benicio del Toro) der zukünftigen Verwandtschaft präsentiert wird. Die Antwort Marias auf Nicks Frage, womit ihr Onkel denn eigentlich sein Geld verdiene, ist auch nicht gerade dazu angetan, die Nervosität zu verringern. Onkel Pablo handle mit Kokain, verkündet Maria wie nebenbei, was aber keine schlimme Sache sei, denn Koka-Blätter hätten in ihrem Land eine lange, weit verbreitete Tradition.

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Pablo erweist sich tatsächlich als durchaus charmanter Mann, der den Freund seiner Lieblingsnichte herzlich willkommen heißt. Ein ziemlicher Gegensatz zum Empfang, den Nick, der mit seinem Bruder und dessen Frau nach Kolumbien gekommen war, um dort an einem abgelegenen Strand ungestört surfen zu können, erleben musste. Denn die Kanadier machen gleich nach ihrer Ankunft Bekanntschaft mit einer Gruppe örtlicher Kleinkrimineller, die für das Campieren am Strand ziemlich unverfroren – und bald auch nachdrücklich – den Fremden eine Art Schutzgeld abzupressen versuchen. Die baldige Bekanntschaft mit Maria, die sich für ein von ihrem Onkel Pablo finanziertes medizinisches Hilfsprojekt engagiert, lässt Nick das unangenehme Zwischenspiel mit der lokalen Gang jedoch schnell vergessen. Die Romanze mit der aparten Kolumbianerin entwickelt sich erfreulich weiter und führt Nick schließlich auf den bereits erwähnten feudalen Landsitz der Familie Escobar.

Spätnachts, als das Fest vorüber ist, nimmt sich der Onkel Zeit für ein persönliches Gespräch unter vier Augen mit Nick. Als er dabei erfährt, wie übel diesem von der Gang am Strand  mitgespielt wurde, erklärt er sich spontan bereit, die Angelegenheit zu regeln, schließlich gehöre Nick ja quasi zur Familie. Eine vermeintlich gastfreundliche Geste eines einflussreichen Mannes. Was die jedoch wirklich bedeutet, erfährt Nick schon wenig später. Denn Onkel Pablo hat den jugendlichen Rowdies keine pädagogische Lektion in Sachen zivilisiertes Benehmen erteilt, sondern sie kurzum liquidieren und die Leichen an Bäumen aufhängen lassen. Jedermann in der Gegend wisse – so wird dem entgeisterten Nick von seinem Bruder versichert –, dass mit Pablo Escobar wirklich nicht gut Kirschen essen sei. Doch noch will Nick einfach nicht glauben, wer der scheinbar so umgängliche Onkel Pablo in Wirklichkeit ist. Noch verdrängt er einfach, dass sein neu gewonnenes Glück mit Maria mit diesem familiären Hintergrund deutliche Risse bekommen hat. Eine Verweigerungshaltung, die Nick noch bitter bereuen soll.

Mit Hilfe dieser dramaturgischen Konstruktion nähert sich Andrea Di Stefano einem der berüchtigtsten Verbrecher des 20. Jahrhunderts an, dem Drogenbaron Pablo Escobar, dessen Skrupellosigkeit ihm am Höhepunkt seiner kriminellen Laufbahn weltweite Aufmerksamkeit verschaffen sollte. Escobar: Paradise Lost erweist sich dabei jedoch nicht als Krimi oder Gangsterfilm, der entlang biografischer Eckpfeiler seinen Protagonisten porträtiert. Vielmehr präsentiert sich das Regiedebüt Di Stefanos, der bislang vornehmlich als Schauspieler agiert hatte, als Thriller mit stark allegorischen Elementen klassischen Zuschnitts. Denn das im Titel angesprochene Paradies breitet sich vor Nick – der dabei ein wenig wie die reine Unschuld zu agieren hat – auf zweierlei Ebenen aus: einerseits durch die traumhaft schöne Natur, die sein Bruder und er in Kolumbien vorfinden – deren paradiesischer Zustand nur durch den Menschen moderner Prägung samt den damit verbundenen Unsitten gestört wird – , andererseits durch jene romantische Liebe, die er in der Beziehung zu Maria findet. Pablo Escobar fungiert da wie die biblische Schlange, die – anstelle des bekannten Apfels offeriert Escobar Nick eine Anstellung auf jenem luxuriösen Anwesen, das er sich mit dem Drogenhandel erwirtschaftet hat – Nick erfolgreich in Versuchung führt, was bekanntermaßen dem Aufenthalt im Paradies ein abruptes Ende setzt.

Man muss allerdings als Zuschauer bezüglich narrativer Logik und Charakterzeichnungen schon ein paar Konzessionen machen, um diesem Konstrukt zu folgen. So erscheint es wenig plausibel, dass ein halbwegs informierter Nordamerikaner wie Nick Brady Ende der achtziger Jahre so gar nichts mit dem Namen Pablo Escobar – der in der internationalen Berichterstattung zu diesem Zeitpunkt schon als Synonym für den organisierten Drogenhandel samt all seiner Brutalitäten galt – anzufangen weiß und an dessen Schattenseiten lange Zweifel hegt, obwohl die Zeichen schon ziemlich eindeutig sind. Akzeptiert man jedoch diese Konstellation, funktioniert Escobar: Paradise Lost auf der Ebene der Allegorie recht gut, wird doch damit jene merkwürdige Ambivalenz, die sich um Pablo Escobar rankt, freigelegt. An der Skrupellosigkeit und Brutalität, mit der Escobar sein kriminelles Imperium betrieb, dürfte zwar kein begründeter Zweifel mehr bestehen, doch insbesondere in gar nicht so kleinen Teilen der Bevölkerung in Medellín galt und gilt Escobar immer noch als eine Art Robin Hood – eine Stilisierung, an der „El Patrón“ zu Lebzeiten kräftig selbst mitgewirkt hat.

Der großartige Dokumentarfilm The Two Escobars (Regie: Jeff Zimbalist, Michael Zimbalist, 2010) bringt diese bizarre Dualität auf den Punkt und macht dabei deutlich, wie stark Pablo Escobar die soziale und politische Entwicklung Kolumbiens ab den achtziger Jahren bis zu seinem gewaltsamen Tod im Dezember 1993 zu beeinflussen imstande war. Im Zentrum steht dabei Escobars Fußballleidenschaft – auf die auch in einer kurzen Szene in Escobar: Paradise Lost verwiesen wird –, die auch das Schicksal von Andrés Escobar, zufälliger Namensvetter Pablos und Mitglied der kolumbianischen Nationalmannschaft, auf tragische Weise beeinflussen sollte: Als Andrés bei der Weltmeisterschaft 1994 im Spiel gegen die USA durch ein Eigentor zur Niederlage und damit zum vorzeitigen Ausscheiden seines Teams beitrug, wurde er wenige Tage nach seiner Rückkehr in die Heimat ermordet – mutmaßlich wegen seines unglücklichen Agierens bei diesem Spiel. Es war ein deutliches und katastrophales Zeichen, dass die Drogenkartelle nicht nur Geld und Einfluss, sondern auch die Gewalt in den Sport und ganz Kolumbien gebracht hatten. Der Tod Andrés Escobars erschien wie ein Menetekel für den Zustand, in dem sich das Land befand.

Dramaturgisch verdichtet und demzufolge noch wesentlich enger miteinander verknüpft verlaufen in Escobar: Paradise Lost die Wege von Pablo Escobar und Nick Brady, ebenfalls zwei höchst unterschiedliche Charaktere. Doch Nick wird schlussendlich auf drastische Weise zu spüren bekommen, was es heißt, Onkel Pablo zu vertrauen. Im letzten Viertel entwickelt sich Di Stefanos Inszenierung zu hochgradigem Spannungskino.
Benicio del Toros intensiver Darstellung Pablo Escobars ist es geschuldet, dass die bereits angesprochenen narrativen Unschärfen weitgehend kompensiert werden. del Toro, der die große Bandbreite seines schauspielerischen Repertoires im Verlauf seiner illustren Karriere schon oft zu demonstrieren verstand, agiert hier wohlüberlegt zurückhaltend, vermeidet es geschickt, Vignetten aus dem Genre des Gangsterfilms bei der Verkörperung der titelgebenden Figur einzusetzen. Doch hinter der vordergründigen Gemütlichkeit seines Pablo Escobar – die er auch physiognomisch unterstreicht – lauert von Anfang an eine Bedrohlichkeit, deren volles Ausmaß man sich, gleich dem Protagonisten Nick, gar nicht vergegenwärtigen mag.