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45 Years
Tom Courtenay und Charlotte Rampling

Filmkritik

45 Years

| Roman Scheiber |

Berührendes Ehedrama aus England, meisterhaft gespielt

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Noch bevor etwas ins Bild kommt, ist das Geräusch eines Diaprojektors zu hören, eines Apparats aus dem Mittelalter des Lichtbildschauens. Das Geräusch verweist auf etwas weit Zurückliegendes und lange Festgehaltenes. Es hat sich vor der Ehe eines Paares ereignet, aber die gemeinsame Geschichte des Paares auf opake Weise beeinflusst. In einer emotional dramatischen Szene des anfangs aus einer gewissen Distanz und über weite Strecken leise erzählten Films wird die Frau dieses Etwas ans Licht bringen. Ein Schleier wird ihr von den Augen gleiten, zugleich wird ein Gefühl tiefer Verunsicherung sie erfassen, und wir werden zum ersten Mal ganz ihre Perspektive einnehmen, während das mechanische Geräusch des Projektors von überwältigendem Wellenrauschen verdrängt wird.

Wir befinden uns in der Woche vor dem 45. Hochzeitstag von Kate (Charlotte Rampling) und Geoff (Tom Courtenay). Gefeiert wird dieser, weil die Vierzigerparty wegen Geoffs Bypass-Operation ausgefallen war. Die beiden führen ein bürgerliches, gut integriertes Landleben in der Gegend des idyllischen Broads-Nationalparks von Norfolk, behandeln einander respektvoll bis zärtlich. Die Goldene Hochzeit wäre wohl nur eine Frage der physischen Kondition, wäre da nicht plötzlich diese Nachricht, die Geoff in für Kate schwer verständlichen emotionalen Aufruhr versetzt. Der Leichnam einer vor 50 Jahren zwischen Schweizer Alpengipfeln verunglückten Frau wurde gefunden, gut konserviert im Gletschereis. Welche Rolle diese Frau über ihren Tod hinaus gespielt hat, ist nun der Anstoß eines zunächst niederschwelligen, doch bald schon existenziell anmutenden Konflikts zwischen den Eheleuten.

45 Years, basierend auf der Kurzgeschichte „In Another Country“ von David Constantine, ist der dritte Spielfilm des britischen Regie-Auteurs Andrew Haigh (derzeit auch einer der Kreativköpfe der innovativen US-Serie Looking). In seinem aufsehenerregenden Weekend (2012) erzählte Haigh vom Vorfrühling einer Beziehung, hier arbeitet er – zurückhaltend, subtil, aber durchaus nicht humorlos – vom Spätherbst ausgehend. Gemeinsam mit Kameramann Lol Crawley und den Schauspielstars (Silberner Bär für beide) versteht er es, in einfachen, freilich sorgsam und detailreich komponierten Einstellungen, oft nur über Blicke und Gesten, eine Atmosphäre der Brüchigkeit entstehen zu lassen, die im Zuschauerkopf je eigene Gestalt annehmen kann. Der hochempfindlichen Situation des Paares entspricht dabei das 35mm-Material und das weiche Licht des Films. Sprechend auch: Nicht im Keller ruhen hier die Geheimnisse, sie drücken vom Dachboden herunter.