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1001 Nacht / As Mil e Uma Noites

| Roman Scheiber |

Erstaunliches Krisenkino aus Portugal

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Was ist das für ein Film? Ein dokumentarischer, ein fiktionaler, ein fantastischer? Tragödie, Komödie, Satire, Schelmenstück? Eine Fabel, wie der Titel As Mil e Uma Noites (Tausendundeine Nacht) suggeriert? Die schöne Scheherazade – ihre Verkörperung ist wirklich sehr schön – und ihre berühmte Geschichte vom Überleben durch fesselndes Erzählen geben den passenden Rahmen für eine einzigartige episodische Filmtriade von mehr als sechs Stunden, keine Minute zu lang, eine wilde und doch ausgewogene Verschachtelung der Formen und Atmosphären, ein wendiges Amalgam aus Vérité-Dokument und inszenierten Szenen, angelegt als essayistische Parabel im Geiste der Überwindung einer sozialen Krisensituation.

In Portugal ist jeder dritte junge Mensch ohne Beschäftigung. Die Wirtschaft liegt auf dem Boden. Wegen rasant gestiegener Staatsschulden im Zuge der Eurokrise verordnete die EU dem Land im Vorjahr einen rigiden Sparkurs. Was geht, wenn kaum noch etwas geht? Wenn die Hoffnung auf ein Leben in Würde schwindet, wenn Verzweiflung sich breit macht, dann braucht es einen Künstler wie Miguel Gomes: In seinem wunderschönen Aquele Querido Mês de Agosto (Unser geliebter Monat August, 2008) erzählte er in einer ganz eigentümlichen Vermischung der Genres beschwingt und herzerwärmend vom heimatlichen Sommerurlaub portugiesischer Arbeitsmigranten und davon, wie man auch ohne Geld glücklich werden kann. Formal noch kühner war das „Stummfilm“-Melodrama Tabu (2012), und wie jenes ist auch 1001 Nacht voller Überraschungen und verzückender Volten, verspielt und wahrhaftig, einfallsreich, lyrisch, geschichtsbewusst, intelligent.

Für jeden der drei tonartlich differenten Teile greift Gomes, zusammen mit einem Team von Journalisten, Autoren und improvisationsfähigen Schauspielern, Erfahrungsberichte auf und verzerrspiegelt sie zuweilen zur Kenntlichkeit. Dauergeile Machthaber lassen sich von nackten Frauen in die Sättel ihrer Pferde helfen. Ein theatraler, dialektischer, mythisch überhöhter Monsterprozess bringt eine Richterin zum Weinen. Buchfinken-Hobbyzüchter treiben ihre Schützlinge für Gesangswettkämpfe zu melodischen Meisterleistungen. Permanent wechselt die Perspektive, von Kapitel zu Unterkapitel, von Bild zu Textinsert zu Bild, von einer zur nächsten Inkarnation desselben Schauspielers. So faltet sich das beschriftete Leporello-Album einer Gesellschaft als Panorama realer Donquichotterien und absurder Metaphern auf. Der große Manoel de Oliveira, heuer im Alter von 106 Jahren verstorben, hätte diesen Film geschätzt.

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