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Lampedusa im Winter

| Reinhard Bradatsch |

Aufrüttelnde Dokumentation über Menschen inmitten von Flüchtlingskrise und wirtschaftlichem Notstand

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Manchmal haben sogar Politiker unser Mitleid verdient. Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa, kämpft an mehreren Fronten: Ihre Heimat, eine winzige Insel auf halbem Weg zwischen Tunesien und Italien, leidet unter der Abgeschiedenheit vom Festland – die Fischindustrie liegt darnieder, und jetzt ist auch noch die einzige Fähre zum Festland abgebrannt. Um die aufgebrachten Fischer zu bändigen, muss sie bei Bürgerversammlungen die Wut der Betroffenen über sich ergehen lassen. Außerdem koordiniert sie die Versorgung und Unterkunft für die täglich aus Nordafrika ankommenden Flüchtlinge. Und da sind noch die Medienberichte, die sich in Sensationsschlagzeilen über Katastrophen nahe der Mittelmeerinsel überschlagen.

Der österreichische Regisseur Jakob Brossmann interessiert sich in seiner aufsehenerregenden Dokumentation weniger für Bilder von ertrunkenen Menschen oder für vorlaute Kritik an der europäischen Migrationspolitik. Ihm geht es um die Bewohner Lampedusas, die Opfer einer Entwicklung sind, welche bereits vor Jahrzehnten absehbar war. Sie fühlen sich allein gelassen von der italienischen Bürokratie, der das kleine Eiland ein lästiges Anhängsel ist; werden abgespeist mit einer Ersatzfähre, die weit weniger Fische transportieren kann als die ursprüngliche; und werden verantwortlich gemacht für die strengen italienischen Fremdengesetze.

Lampedusa im Winter (der unwirtlichsten Jahreszeit) demonstriert die Alternative zu Isolation und Abriegelung der Wohlstandsnationen. Trotz widrigster Umstände – durch die Proteste der Fischer droht eine Nahrungsmittelknappheit – machen die Einwohner das Beste aus ihrer Situation. Es ist ein Weg der Menschlichkeit, der von der präzisen Kamera anhand von Einzelschicksalen eingefangen wird: Da ist Paola, die Tag für Tag den Gestrandeten Essen und tröstliche Worte schenkt. Dort organisiert eine kleine Künstlerformation eine Ausstellung mit am Strand gefundenen Gegenständen ertrunkener Flüchtlinge.

Mit genauer Beobachtungsgabe zeigt Brossmann die Versuche der Bürger, einen normalen Alltag zu führen: die täglichen Morgenshows des lokalen Radiosenders, das Training des Fußballnachwuchses. Bis wieder ein Hilferuf im Meer treibender Ägypter die Mannschaft der Küstenwache alarmiert. Damit beschert uns der Film die wohl eindrücklichste Szene: Ein im Dunkel umherirrendes Boot, auf dem unzählige Menschen wie Vieh zusammengepfercht sind, steht kurz vor dem Kentern. Zum Glück kommen die Helfer rechtzeitig. Erfrorene, aber glückliche Gesichter blicken in die Kamera. Doch jeder weiß: Das ist nicht mehr als ein Etappensieg.

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