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Kafka im Kino

Die einen suchen, die anderen finden

| Christina Tilmann |
Aus Anlass des Kafka-Schwerpunkts im Metro Kinokulturhaus: Hanns Zischler über die fremde Welt des Stummfilms, die Schönheit des Ballonfliegens und die Fortsetzung seiner Kafka-Forschungen.

Hanns Zischler, geboren 1947 in Nürnberg, ist einer der aktivsten Schauspieler im deutschen Film und Fernsehen – weit über 220 Rollen zählt seine Filmografie. Es sind große darunter, wie die Rolle des Robert in Wim Wenders’ Im Lauf der Zeit (1976), des Adam in Rudolf Thomes Paradiso – Sieben Tage mit sieben Frauen (und in sieben weiteren Thome-Filmen) oder des Mossad-Agenten Hans in Steven Spielbergs München, aber auch immer wieder ausgesuchte Nebenrollen wie zuletzt der Bestatter in Dietrich Brüggemanns Kreuzweg. Und doch ist diese immense Produktivität nur ein Schauplatz – Zischler übersetzt aus dem Französischen (Jacques Derrida, Jean-Christophe Bailly), bringt in seinem feinen Alpheus-Verlag Bücher über Scherenschnitte und Lichtbilder, japanische Hausarchitekturen und das Berliner Naturkundemuseum heraus und begeistert sich für Versteinerungen, Schmetterlinge und Eisenbahnen. Dazu ist er Fotograf und Autor von Romanen („Das Mädchen mit den Orangenpapieren“, 2014), Stadttopografien („Berlin ist zu groß für Berlin“, 2013) und Kinderbüchern („Lady Jane Grey“, 2012). Vor allem aber hat er mit einem schmalen essayistischen Band einen unerwarteten Longseller gelandet: „Kafka geht ins Kino“, erschienen 1996 bei Rowohlt. Hanns Zischler im Gespräch.

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Sie präsentieren im Filmarchiv Austria erneut Ihre Kafka-Forschungen. Ihr Buch „Kafka geht ins Kino“ ist 1996, vor fast zwanzig Jahren erschienen. Warum treibt Sie das Thema immer noch um?
Es ist nach wie vor ein unabgeschlossenes Projekt. Inzwischen ist es durch die digitale Erfassung vieler Archive möglich, auf Filme zuzugreifen, die damals nicht erreichbar waren. Ich sehe demnächst in Paris einen Film, den Kafka sehr geschätzt hat, Der lustige Gendarm, ein Klamauk von fünf Minuten. Von dem Film hatte ich nur eine deutsche Beschreibung, und aufgrund der Codenummer haben die französischen Archivare gesagt, den Film gibt es noch. Nun darf ich ihn in einer Extravorführung auf Nitrat sehen. Ich hoffe, ihn auf DVD zu bekommen, denn mein Buch soll nicht nur revidiert werden, es soll zusammen mit einer DVD erscheinen, auf der möglichst viele der Filme sind, die Kafka damals erwähnt hat.

Das ist eine Schnitzeljagd, zumal von vielen Filmen nur noch Fragmente existieren. Betreiben Sie die Suche noch aktiv, oder sind durch das Buch andere aufgewacht und melden sich von sich aus?
Es ist nicht so, dass jetzt massenhaft Leute kommen und sagen, da gibt es auch das und das noch. Der Stummfilm ist eine eigene untergegangene Welt, die von einigen Leuten in den letzten zwanzig Jahren sehr gründlich durchforstet worden ist, vor allem von französischen Filmwissenschaftlern. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Archive in Frankreich, auch die Bestände von Gaumont Pathé, besser erhalten sind und dass es mehr kulturelle Aufmerksamkeit für cineastische Fragen gibt.

Sie beschreiben am Fall Kafka sehr schön, dass es im Kino ein mitschaffendes Sehen gibt: Für Kafka setzen sich im Film eigene Fantasien fort … Ist das der Grund für unsere fortdauernde Faszination am Film?
Kafka und seine Zeitgenossen haben Filme nur einmal gesehen. Das ist eine andere Herausforderung an die Erinnerung. Es ist ein merkwürdiges Phänomen, wenn man jemand anderen befragt nach Szenen, an die er sich erinnert, dann sind die genauso gefälscht wie Erinnerungsszenen. Frank Böckelmann hat eine interessante Bemerkung darüber gemacht, wie es kommt, dass man nach dem Verlassen des Kinos zutiefst gestört ist, wenn man mit Freunden im Film war, und man ist selbst begeistert und der andere findet den Film grauenhaft. Das kommt wahrscheinlich daher, dass eine spontane Aneignung des Bildes stattgefunden hat, die vom anderen plötzlich desavouiert wird.

Filme sehen ist eine Wahrnehmung in der unmittelbaren Gegenwart, auch darum geht es in Kafkas Texten über Film. Ganz im Gegensatz zur Fotografie …
Fotografie ist Betrachtung, das wird auch bei Kafka deutlich, er beschreibt Fotografien vollkommen anders. Was ich interessant finde, ist, dass er im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen nicht zu einem Urteil vorstoßen will, zu einer ästhetischen Betrachtung, was Film eigentlich sei. Es gibt diese fantastische Bemerkung, wenn er von „alten Kinoerfindungen“ spricht, die zeigt, er ist ein versierter Kinogänger, der durchschaut, was ihm an Tricks geboten wird: ein springendes Pferd, das kennen wir doch schon. Aber er begreift Film nicht als Kunstform. Für Kafka ist Film eine exzessive Unterhaltungsform.

Insofern ist der Vergleich zu den Bordellen, die Kafka ja auch frequentiert, gar nicht falsch.
Es ist der Genuss, um den es geht. Dieser Genuss ist unmittelbar, er verbraucht sich auch. Der kleine Rausch im dunklen Saal. Wenn wir heute über Filme sprechen, reden wir meist nicht über Kino, das war damals anders. Mein Buch heißt bewusst nicht: „Kafka sieht Filme“, sondern „Kafka geht ins Kino“.

Sie zitieren eine wunderbare Passage, in der Kafka seine Verlobte Felice Bauer vergleicht mit einem belagerten Kinopalast, den „Kinopalast Felice“, den eine Volksmenge zu stürmen versucht. Wie sehr bestand die Versuchung, Kafkas Kinoerlebnisse biografisch zu deuten?
Ich will bewusst nicht in die Werkdeutung einsteigen. Das Thema ist eine Form von ambulantem Vergnügen, ein Flanieren durch eine untergegangene Welt, die man sich wieder zu Gemüte führen kann, und gleichzeitig hat sie eine gewisse Fremdheit für uns, weil der Film so weit herausgewachsen ist aus dem frühen Film. Das gilt auch für den Humor, deshalb ist es interessant, wie Kafka auf Charlie Chaplin reagiert. Den hat er viel ernster genommen. Mit Chaplin beginnt eine eigenständige Ästhetik im Film. Die Amerikaner dieser Zeit waren weit versierter als die Europäer, ungebundener in den Verrücktheiten, die sie sich geleistet haben. Die Phantomkonkurrenz der anderen Kulturformen war geringer.

Ein besonderer Reiz des Buches ist das zufällige Finden, das kann eine Postkarte, eine Bahnhofsfotografie sein, es ist kein zielgerichtetes Forschen.
Ich betreibe ja keine Stummfilmforschung. Mir wurde vorgeworfen, dass das Buch nicht den üblichen Forschungskriterien genüge – na gut, so what?  Es ist eine essayistisch ausgeformte Forschung, filmwissenschaftliche Kriterien sind nicht das, was mich primär interessiert.

Flanieren ist eine Ihrer Lieblingstätigkeiten: Sie bewegen sich durch Berlins Straßen, um eine Stadttopografie zu erlaufen, und wandern durch Kafkas Schriften. Ihr ganzes Werk ist ein Passagenwerk, oder?
Es läuft. Lass es laufen, finde ich eine tolle Maxime. Dem Impuls des Herzens folgen, und der Zufälligkeit des Findens. Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Annäherungsweisen, die einen suchen primär, und die anderen finden. Ich will das nicht bewerten, aber die Haltung ist bei mir eher die des Finden-Wollens. Jeder Fund ist ja ein Zufallsfund, das Unverdiente, das einem zufällt.

Gibt es bei Kafka einen Zufallsfund der letzten Zeit, der die Thesen Ihres Buches noch einmal grundsätzlich verschiebt?
Es gibt einen geradezu katastrophalen Denkfehler. Jener berühmte erste Satz im Arbeitsheft: „Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.“ Diesen ersten Satz habe ich genommen, und gesagt, das ist aus der Perspektive eines Zuschauers geschrieben, der einen vorbeifahrenden Zug sieht und erschrickt, das muss der berühmte Film von der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof von La Ciotat sein – völliger Unsinn! Denn dieser Zug fährt nicht vorbei, sondern er kommt zum Stehen. Und die Berichte darüber, dass die Leute entsetzt gewesen seien, stimmen auch nicht, das ist inzwischen alles korrigiert. Es war ein großes Vergnügen, den Zug auf sich zukommen zu sehen, keineswegs Panik und Schrecken. Außerdem: Wenn dieser Satz von Kafka 1909 oder 1910 geschrieben worden ist, kann er sich nicht auf ein Ereignis von 1895 beziehen, der Film war 1910 nirgendwo mehr zu sehen. Natürlich war es ein verführerischer Kurzschluss: der erste Film, der erste Satz – man suggeriert Zusammenhänge, wo keine sind. Ich muss das dringend korrigieren.

Haben Sie eine andere Hypothese, worauf sich der Satz beziehen könnte?
Es gibt eine Möglichkeit, auch wenn sie sehr mit Vorsicht zu genießen ist: Der Satz könnte sich auf ein Ereignis beziehen, das mit dem Kino nichts zu tun hat. Es gab im Wiener Prater eine spektakuläre Installation, die hieß „Klein-Venedig“. Das war eine Art Märchenlandschaft mit künstlichen Kanälen, auf denen Gondeln fuhren, darum herum eine Gebirgslandschaft mit einem Tunnel, durch den ein Zug fuhr, ein kleinerer Zug raste aus dem Tunnel hervor und hat die Leute tatsächlich erstarren lassen, es war wie eine Geisterbahn. Das wäre eine Begebenheit, die passen könnte, eine Jahrmarktsattraktion. Kafka war zu der Zeit in Wien, er könnte in „Klein-Venedig“ gewesen sein. Aber es ist nur eine Hypothese. Der Satz bleibt Gottseidank rätselhaft.

Es ist interessant, wie stark die Parallelen zwischen Eisenbahn und frühem Film sind – wahrscheinlich, weil beides Formen der Geschwindigkeitserfahrung sind …
Es geht im frühen Kino vor allem um die Durchquerung von Landschaften, die nur mit der Eisenbahn möglich war. Wenn man sich Buster Keatons The General ansieht, das ist eine Hymne an die Lokomotive … und parallel dazu gibt es bei Kafka Reiseberichte, in denen er das Im-Zug-Sitzen beschreibt, die berühmte Serie der „Augenblicksbeobachtungen“, die der Blick aus dem Fenster ermöglicht, das genießt Kafka sehr, es gibt auch diesen schönen Text über das „zerstreute Hinausschaun“ …

Die Motive und Themen, die das Kafka-Buch prägen, decken sich mit Ihren Leidenschaften: Sie fotografieren auch, Landschaften und Natur, flüchtige Augenblicksfotografien …
Es wird immer flüchtiger – ich bin jetzt auf Ballonfotografie umgestiegen, mit einer Lochbildkamera. Meistens arbeite ich mit zwei Ballons, damit ich einen im Bild habe, und beide bewegen sich, da entstehen sehr ungewöhnliche Bilder. Bei der Fotografie ist das Entscheidende für mich das Unwägbare. Ich habe zwar eine Vorstellung von den Gegebenheiten des Lichts und der Farbigkeit, die an dem Tag herrscht, aber das, was ich aufnehme, wird immer überraschender für mich.

Womit wir wieder beim Zufallsfund waren, und bei der Bewegung …
Da die Kamera fest auf einem Stativ steht – das ist Voraussetzung für eine Lochbildfotografie – dachte ich, es müsste gelingen, die Fahrt selbst aufzunehmen. Die Technik interessiert mich nicht, sondern eher die Zeitlichkeit, das, was sich dem Blick entzieht. Selbst den Wind in den Blättern nehme ich als eine fokussierbare Erscheinung wahr – die Kamera kann das nicht, sie nimmt ein verwischtes Farbspiel auf, und das finde ich interessant, dass die gesammelte Zeit sich in dem Bild darstellen lässt als verwischtes Weiß oder fließendes Wasser. Das habe ich auf die Luft ausgedehnt.

Kafka geht ins Kino
Unter dem Titel „Kafka geht ins Kino“ präsentiert das Filmarchiv Austria im Metro Kinokulturhaus von 7. Dezember bis 17. Jänner sowohl Filme, die Franz Kafka nachweislich gesehen hat, als auch Verfilmungen und Bearbeitungen seiner Werke, darunter Orson Welles’ „Le procès“ (1962), Michael Hanekes „Das Schloss“ (1997, siehe S. 111) sowie Steven Soderberghs „Kafka“ (1991) mit Jeremy Irons.

Am 2. Dezember um 19 Uhr gibt es eine Lesung und Einführung von Hanns Zischler im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, Johannesgasse 6, 1010 Wien. Um 20 Uhr wird im Metro Kinokulturhaus Zischlers dokumentarischer Filmessay „Kafka geht ins Kino “ (2002) nach seinem gleichnamigen Buch gezeigt, ebenso wie „Die Weiße Sklavin“ (1910), ein Film, der Kafka stark beeindruckte. Im Anschluss daran findet ein Gespräch mit Hanns Zischler statt.