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Casey Affleck

Einer von den Guten

| Alexandra Seitz |
In John Hillcoats bösem Thriller „Triple 9“ setzt Casey Affleck einmal mehr schauspielerische Glanzlichter; eine kurze Einschätzung und ein kleines Porträt.

Der Grad der moralischen Verderbtheit lässt sich am Ablenkungsmanöver ablesen. Zeit schinden wollen sie, um einen ziemlich riskanten Raubüberfall auf ein Depot der Homeland Security verüben zu können. Dafür sind mindestens zehn Minuten vonnöten und also um einige mehr als die durchschnittliche Reaktionszeit der Polizei von Atlanta auf einen Notruf. Was tun? Ein „Triple 9“-Notruf würde die Kräfte bündeln, ein „Triple 9“ heißt „Urgent help needed / Officer down“ – ein Anschlag auf einen Polizisten also, zu dessen Schauplatz dann alle anderen Polizisten herzueilen würden, um Solidarität zu zeigen oder Rache zu üben, um sich in selbstmitleidigen Klagen über ihre harten, schlecht bezahlten Jobs zu ergehen oder auch um einfach nur zu glotzen. In jedem Fall würden sie an anderen Tatorten fehlen, und die Chancen für den Überfall stiegen. Es ist ein ebenso simpler wie genialer Plan, der dadurch noch perfider wird, dass es Kollegen sind, die ihn aushecken.

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Eine Bande aus korrupten Bullen und ehemaligen Angehörigen von „Special forces“ – was immer man sich darunter vorstellen mag – bildet den Anti-Helden-Cluster in John Hillcoats Triple 9. Ob es auch Helden gibt? Dazu kommen wir noch. Männer zweifelhaften Charakters, die auf dem Weg zum Geld über Leichen gehen, gibt es jedenfalls zur Genüge. Das zumindest legt der Beginn des Films nahe, im weiteren Verlauf jedoch stellt sich heraus, dass es nicht allen in gleichem Maße ums Geld geht.

Michael, dem Anführer der Bande, geht es vielmehr darum, hin und wieder mal seinen kleinen Sohn zu sehen, den er dummerweise mit der Schwester der Chefin eines jüdisch-russischen Mafia-Clans gezeugt hat. Irina Vlaslov(a) mag zwar den Mischlingsbuben gerade noch tolerieren, dessen schwarzer Vater aber ist ihr schmerzhafter Stachel im weißen Fleisch. Um diesen Stachel endlich zu ziehen, erpresst sie den Verhassten zu Verbrechen, die ihr wiederum helfen sollen, ihren Mann aus einem russischen Gefängnis zu befreien. Russell hängt mit drin, weil er ein alter Kumpel von Michael ist. Gabe ist Russells Bruder und hängt deswegen mit drin; außerdem hat Gabe einen Hang zu Drogen und zur Impulsivität, und ihn zum Komplizen zu machen, ist Russells Art, ein Auge auf ihn zu haben. Dann sind da noch die beiden korrupten Beamten Marcus und Jorge, gleichfalls Bekannte von früher, die inzwischen aber wohl aus alter Bullen-Gewohnheit lediglich am Geld interessiert sind, schlecht bezahlter Job und so.

All dies muss man sich im Übrigen nach und nach zusammenreimen, da sich Hillcoat in Triple 9 nicht erst lange mit umständlichen Erklärungen von Hintergründen und Verhältnissen, auch bekannt als Exposition, aufhält. Vielmehr geht es mittenrein und zack, zack Knall auf Fall. Banküberfall, Verfolgungsjagd, Erpressung, Mord. „Kosher Nostra“, lateinamerikanische Gangs, White trash. Dazwischen die überforderte Staatsgewalt, die sich den zahlreichen Konfliktherden nur noch bis an die Zähne bewaffnet nähert. Man denkt, man sei im Gangland von Los Angeles oder in Mexico City, stattdessen lernt man Atlanta, Georgia, gründlich von der anderen Seite her kennen. Hillcoat lässt keinen Zweifel an der Richtung, die seine Geschichte nehmen wird, wenn er die nächtliche Besprechung zur Planung des Bankraubs in rotes Licht taucht und im Anschluss an den Überfall eine mit rotem Farbpulver gefüllte Markierungspatrone explodieren lässt – bald danach fließt ohnehin das erste Blut.

Es ist düster und gefährlich in Hillcoats Welt, alle haben Dreck am Stecken, es wird gelogen, betrogen, verraten, gefoltert und gemordet. Einem Teil der US-amerikanischen Kritik gefiel (erneut) nicht, was der Australier Hillcoat ihnen da spiegelte. Insbesondere störten sich die Rezensenten an der Gegenüberstellung von Drahtzieherin Irina Vlaslov(a), die einen gangsta-style riesigen Davidstern um den Hals hängen hat, und Sergeant Detective Jeffrey Allen, der ihr, mit einem gleichfalls unübersehbaren Kruzifix ausgestattet, hinterher ermittelt. Freilich lässt sich das plakativ nennen, Grund zur Schnappatmung besteht aber schon allein deswegen nicht, weil Triple 9 im Genre wurzelt und seinen Realismus zur Ausstattung des Hintergrunds und nicht zur Untermauerung einer ideologischen Debatte einsetzt. Um das zu erkennen, genügt ein Blick auf Kate Winslet, die mit ihrer Killermatronen-Figur ein ziemlich beeindruckendes Talent zur Charge beweist. Und Woody Harrelson, der die Rolle des rechtschaffenen Ermittlers innehat, ist ja auch nicht eben für seinen schauspielerischen Minimalismus bekannt.

Ohnehin ist es einer der Clous des Films, eine beeindruckende Riege starker Darsteller – neben den genannten unter anderem Chiwetel Ejiofor, Anthony Mackie, Aaron Paul, Norman Reedus und Clifton Collins Jr. – sich einer nicht minder beeindruckenden Menge gewagter Figurenkonzepte annehmen zu lassen und aus der jeweiligen Schablone zumindest eine Ahnung von Charakter zu erarbeiten. Keiner scheitert an seiner Aufgabe. Heraus aber ragt: Casey Affleck. Affleck spielt Allens Neffen Chris, den Neuzugang im Dezernat, das auserkorene Opfer des Triple 9, den Ahnungslosen. Dabei ist er eigentlich ein ziemlich guter Cop, wie Marcus, dem der Neuling zugeteilt wird, feststellt, als der ihm während einer Verfolgungsjagd das Leben rettet. Womit wir zum Helden kommen.

Zugegeben, Casey Affleck fällt einem nicht gerade als Erster ein, wenn es um das Thema Heldentum geht. Was einem vielmehr sehr wahrscheinlich als allererstes zu Casey Affleck einfällt, ist der Feigling Robert Ford. Der, der in Andrew Dominiks sträflich unterschätztem Western mit dem wunderbar umständlichen Titel The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford eben jenen legendären Outlaw erschießt und nebenbei noch Brad Pitt an die Wand spielt. Was Casey Affleck als Robert Ford auf die Leinwand bringt, kann ohne weiteres einen ganzen Haufen Steine erweichen. Wie er den verehrten Gesetzlosen anhimmelt und vor Stolz fast platzt, wenn der das Wort an ihn richtet. Wie er den Mut, den es erfordert, aus der Deckung zu kommen, mit der Angst vor Zurückweisung mischt. Wie er sich nach außen selbstsicher zu geben versucht und im Inneren doch so leicht verletzbar bleibt. Wie er immer mehr verloren geht in seinem Bedürfnis nach Bedeutsamkeit, wie er schließlich einen unentschuldbaren Akt des Verrats begeht, und wie er am Ende realisiert, dass er sein Leben in den Sand gesetzt hat, unwiederbringlich, und sich resigniert in sein trauriges Schicksal ergibt. Es ist dies die umfassende Darstellung eines armen Tropfs, der sich so sehr und so vergeblich danach sehnt dazuzugehören, dass es einem das Herz zerreißt und zu Tränen rührt. Eine schauspielerische Meisterleistung, die mit einer Oscar-Nominierung als Bester Nebendarsteller gewürdigt wurde. Spätestens da hat Casey Affleck aufgehört, Bens kleiner Bruder zu sein.

Mit Gone Baby Gone, dem Regiedebüt des Älteren, in dem Casey einen Privatdetektiv spielt, dem der Fall eines verschwundenen kleinen Mädchens keine Ruhe lässt, legt er nach. Und wieder ist da diese Irritation über den schmächtigen Kerl mit der irgendwie zu hohen Stimme, der sich zur Wehr setzen muss gegen Menschen, die ihn nicht ernst nehmen und die ihm nichts zutrauen. Und wieder kontert er mit einer geradezu todesverachtenden Hartnäckigkeit. Innerlich mag er vor Angst fast sterben, doch ins Bockshorn jagen lässt er sich nicht. Weil er gelernt hat, seine Stärke aus der Position des Schwächeren zu beziehen, die ihm von einer Umwelt, die ihn permanent unterschätzt, zugewiesen wird.

Der am 12. August 1975 in Falmouth, Massachusetts, geborene Caleb Casey McGuire Affleck ist zwar kein großer A-List-Moviestar, der Millionen von Dollar verdient, aber er ist ein hochkarätiger Schauspieler, dem es mühelos gelingt, den Eindruck von Unschuld mit lauernder Drohung zu verknüpfen. Er mag aussehen wie ein Hänfling, doch er kann von jetzt auf gleich gemeinst gefährlich werden. Er ist das Zigarettenbürscherl, das es in sich hat. Im Laufe der Jahre hat Casey Affleck sich eine ziemlich überzeugende Filmografie erarbeitet. Er spielt in kleinen Independent-Produktionen – beispielsweise Gus Van Sants unfassbarem Wüstenmarsch Gerry – ebenso wie in Big-Budget-Movies: Steven Soderberghs Ocean-Trilogie. Auf Caseys Konto geht die seltsame Mockumentary I’m Still Here, in dem er den vermeintlichen psychischen Niedergang seines Schwagers Joaquin Phoenix begleitet, im Grunde aber die pathologischen Strukturen des Celebrity-Business dokumentiert. In The Killer Inside Me, Michael Winterbottoms entsetzlich fehlgeleiteter Adaption eines Romans von Jim Thompson, gibt er einen sadistischen Frauenmörder und in Scott Coopers Out of the Furnace einen unglücklichen Irak-Veteran, der den in ihm brodelnden Überdruck in Bare-Knuckle-Fights abzuleiten versucht. Hier wie zuletzt in Craig Gillespies The Finest Hours und nun in Triple 9 hat Casey Affleck das dünne Hemd, das er war, gesprengt. Er hat die Stimme etwas tiefer rutschen lassen und deutlich an Muskelmasse zugelegt. Aus den schmalen Schultern ist ein breites Kreuz geworden. Doch immer noch wirkt sein Gesicht eher jungenhaft. Und immer noch und immer wieder ist in diesem Gesicht mit den feinen Zügen ein stilles Erstaunen zu sehen. Ein Erstaunen nicht über die Welt, sondern über die Grausamkeit, die in ihr herrscht.