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Filmkritik

Das Unbekannte Mädchen / La fille inconnue

| Roman Scheiber |
Der neue Film der belgischen Brüder Dardenne ist ein Drama der Schuldgefühle im Gewand eines Sozialkrimis.

Die Frage, die sich der begabten jungen Ärztin Jenny stellt, ist eine moralische: Soll sie im sozial schwachen Viertel der belgischen Stadt Seraing bleiben und, wie sie es von ihrem Mentor gelernt hat, eine Ärztin für die Armen sein? Oder soll sie in ein renommiertes Spital nach Lüttich gehen, um betuchte Bürger zu betreuen und dabei reich zu werden? Ein Zwischenfall nach Dienstschluss wird Jenny zum Anlass, sich die Frage noch einmal anders zu stellen. Ein kurzes Klingeln an ihrer Praxistür hat sie ignoriert, um einen gerade ausgebrochenen Konflikt mit ihrem Praktikanten weiterzuführen. Am nächsten Tag muss Jenny feststellen, dass jene afrikanische Frau, die sich vergeblich um Einlass bemüht hat, offenbar kurz danach zu Tode gekommen ist.

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Da die Polizei die Sache schnell zu den Akten legt, setzt eine Art privatdetektivische Handlung ein, befeuert durch ein aufkommendes Schuldgefühl: Hätte Jenny den Tod der Frau verhindern können? Das Procedere erinnert an den vorigen Dardenne-Film: Ähnlich Marion Cotillard, die als armutsgefährdete Mutter in Deux jours, une nuit von Tür zu Tür gehetzt war, um ihre Entlassung zu bekämpfen, hangelt sich nun Adèle Haenel durch ein Milieu des Prostitutions- und Migrationshintergründigen.

Vertraute Gesichter aus früheren Filmen, eine genau beobachtende Kamera, wenig bis keine Musik, das Sich-Abarbeiten an einer sozialen Realität: All das ist bekannt und geschätzt und gerät mittlerweile fast etwas zu routiniert im Werk der regelmäßigen Cannes-Preisträger Jean-Pierre und Luc Dardenne, welches man unter dem veralteten Begriff „Problemfilm“ zu verschlagworten geneigt sein könnte. Indem die mit Stars besetzten und identifikationsaffinen Heldinnen der jüngsten Dardenne-Filme die Lösung ihrer eigenen (moralischen oder existenziellen) Probleme gewissermaßen „proaktiv“ angehen, werden sie zu ganz eigenartigen Katalysatoren für das Publikum. Aus ihrer Perspektive bekommen wir die Geschichten und Nöte der minder prominenten Figuren zu hören und sehen, die wir oft so ungern hören und sehen wollen. Aus ihrer Sicht, so die filmische Logik der Dardennes, nehmen wir die Probleme der Gesellschaft, in der wir leben, vielleicht erst richtig wahr.

Das im Titel als unbekannt bezeichnete Mädchen könnte die Tote sein. Es könnte Jenny selbst sein, die sich gerade neu kennenlernt. Oder es ist jede einzelne Zuseherin, jeder einzelne Zuseher, der gemeinsam mit ihr zum Anteilnehmer an der Welt da draußen wird, mit all ihren unterschätzten oder gefürchteten Individuen.