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Filmkritik

Die rote Schildkröte / La Tortue rouge

| Alexandra Seitz |
Fundamentalpoetisches Märchenaquarell

Was braucht der Mensch eigentlich, um glücklich zu sein? Anders gefragt: Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Musik? Literatur? Film? Smartphone?

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Jener Mann, der sich in La Tortue rouge nach stürmischem Beginn auf die sprichwörtliche Insel geschleudert findet, hat nichts. Rein gar nichts. Außer Hose und Hemd. Dann findet er Süßwasser und essbare Früchte und einen Bambuswald, der ihn mit zum Floßbau notwendigem Material versorgt. Drei Flöße baut er, dreimal will er die Insel verlassen, dreimal wird das Floß angegriffen und zerstört – und dann geschieht etwas höchst Seltsames, etwas Zauberisch-Animistisches, eine Art Wunder. Und es geschieht mit eben jener allergrößten Selbstverständlichkeit, die dem Animationsfilm wesenseigen ist, da ja der Pinsel (oder der Computer, der vorgibt, ein Pinsel zu sein) lediglich zu behaupten braucht: Er malt es hin, und es ist.

Es findet also eine Transformation statt, die keiner hat kommen sehen, am wenigsten der Mann auf der Insel. Ein, wie es scheint, einzigartiges Ereignis, das wiederum zurückführt zu den allersimpelsten und fundamentalsten Erkenntnissen: Der Mensch ist keine von der Natur unabhängige und auch keine ihr übergeordnete Lebensform. Und: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Daran schließt sich eine zyklische Geschichte vom Werden und Vergehen an, von Zeugung und Zerstörung, wurzelnd in dem Bewusstsein, dass das Leben als kosmische Energie den linearen Vektor stetig einherrollender Zyklen darstellt. Wem das nun zu esoterisch, zu abstrakt oder zu verquast klingt: Macht nichts, trotzdem reingehen!

La Tortue rouge verdankt seine Entstehung dem von Miyazaki
Hayao mitbegründeten Studio Ghibli, das Michael Dudok de Wit vor ein paar Jahren anbot, seinen ersten Langfilm zu produzieren. Im Alter von über 60 legt der niederländische Animationsfilmer nach vier kostbaren kurzen – Tom Sweep (1992), Le Moine et le poisson (1994, oscarnominiert), Father and Daughter (2000, mit dem Oscar ausgezeichnet) und The Aroma of Tea (2006), von denen keiner länger ist als zehn Minuten – nunmehr also seinen ersten langen Film vor. La Tortue rouge wurde in Cannes in der Sektion Un certain regard mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet und ist als Bester Animationsfilm für den Oscar nominiert. Man darf eben die Hoffnung nie aufgeben. Und um gleich noch einen weiteren Allgemeinplatz anzubringen: Das Warten hat sich gelohnt.