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Digitales Kino

Cinephilie, Technokratie, Utopie

| Jennifer Borrmann |
Die Zukunft des Kinematografischen als Potenzial des Vergangenen in Michael Palms verdienstvollem Dokumentarfilm „Cinema Futures“.

„We have freed the archive from the physical chains of celluloid. We have now raised it to a level of abstraction which is higher.“ Diese Worte stammen von Michael Friend, Filmarchivar bei Sony Pictures, und sind Teil von Regisseur Michael Palms neuem – digital gedrehtem – Film Cinema Futures über die Gegenwart und Zukunft des Kinos. Besser gesagt über die Zukünfte des Kinos. Plural. Denn Palm selbst sagt, dass ihn bei dem Vorhaben vor allem eine Fragerichtung weitergebracht hatte: „Wovon träumen die Menschen? Wovon träumen die Technokraten? Was sind Dinge, die als Zukunft imaginiert werden?“ Es geht um den futuristischen Gedanken, der schon bei Vertov anklang, dass nämlich das Immaterielle – das Kinematographische als Byte – überall gleichzeitig zugänglich ist. Palm: „Diese Kopräsenz von Vergangenheit und Zukunft hat mich am meisten interessiert. Die Zukunft als Potenzial des Vergangenen zu definieren und als Potenzial des Archivs. Es geht um technophilosophische Ansätze, weil es ja natürlich um die ganzen Fragen der Bewahrung geht, um die der Restaurierung und die politischen Fragen des Kuratierens und Kanonisierens.“

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Cinema Futures ist ein Essayfilm. Er versucht nicht den allumfassenden Rundumschlag zur Umbruchssituation von der analogen zur digitalen Zeit des Kinos. Denn geht es nur um den technologischen Fortschritt? Sicher nicht. Palm versteht Film und Kino als Kulturtechnik, die es zu bewahren gilt und an der so viel mehr hängt als Digitalität. Die Herausforderungen liegen vor allem in den Archiven. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Wege und Mittel zu finden, unser audiovisuelles Gedächtnis zu bewahren. Das heißt nic, dass Filme katalogisiert und in Regale verstaut werden; Filme entfalten ihre Wirkung darin, gesehen zu werden. Dieser Gedanke gehört auch zum filmischen Ausstellungskonzept des Österreichischen Filmmuseums, von dessen Noch-Direktor Alexander Horwath auch die Anregung zum Film kam. Es geht um Pflege, auch, aber eben nicht ausschließlich, um Digitalisierung, um das Sichtbarmachen, um die Art der Sicherung, um Medien und ihre Nachhaltigkeit, um die alles entscheidenden Fragen: Was ist es wert, für die Zukunft bewahrt zu werden? Welchen Filmen versetzt man mit der Antwort auf diese Frage zugleich den Todesstoß? Wer entscheidet?

Es ist ein weites, komplexes Feld, das Palm hier aufgetan hat. Bislang gab es nur punktuell Filme, die sich damit befasst haben, so Side By Side (2012) von Christopher Kenneally, der aber stark aus einer Filmemacher-Perspektive an die Sache herangeht. Fragen, die das Medium an sich oder auch die Infrastruktur betreffen, fehlen. Das Jahr 2012 motivierte Palm weiter: Sein voriger Film Low Definition Control – Malfunctions #0 war auf Super-8 gedreht und eine der letzten 35mm-Kopien, die in Österrreich auf Film gespult wurde. Fuji beendete die Herstellung der Rohfilmproduktion und Kodak stand vor dem Ruin, musste sich von rund 50.000 Arbeitern trennen. Letzteres wird im Film bitter-ironisch mit Szenen aus La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon von Louis Lumière von 1895 illustriert. Gerade jetzt über Film, Kino und deren Zukunft zu arbeiten war erschreckend notwendig.

Zu Wort kommen Filmvorführer, -historiker, -wissenschafter, Restaurateure, Mitarbeiter von Kopierwerken, Archivare, Fachleute wie David Bordwell, Martin Scorsese, Paolo Usai, Tacita Dean, Christopher Nolan, Tom Gunning und Milt Shefter. Ein Potpourri an Menschen, Hintergründen, Arbeitsweisen, Ideen und Wünschen. Und das soll nicht alles sein. Palm plant ein – noch nicht finanziertes – Webprojekt: Mit Gesprächen u.a. mit Heide Schlüpmann und Rick Prelinger, wissenschaftlichen Texten rund um das Thema, Links, usw.: „Das Projekt ist ein Kompendium, das über den Film hinausgeht und vielleicht die Diskussion noch anschieben kann.“

Der Fokus von Cinema Futures liegt auf dem audiovisuellen Erbe, der digitalen Langzeitspeicherung, der Nachhaltigkeit von Medien – im Archiv und in der IT. „Ein Dilemma, das immer schon existiert hat. Und mit dem Digitalen wird es verschärft. Einerseits ist die technologische Halbwertszeikürzer geworden, gleicheitig wird exponenziell mehr Material produziert. Es wird also immer absurder. Mit der Digitalisierung ist eine Unmenge an Sammelpolitiken entstanden.“ Konsens, wie mit der Erhaltung und Bewahrung umgegangen wird, gibt es bislang allerdings nicht. Die verschiedenen Archive der Welt gehen sehr unterschiedlich damit um. Auf der einen Seite gibt es Behörden wie die Library of Congress, die sich im Auftrag des US-Kongresses Mittel und Wege überlegen muss, während das George-Eastman-Museum aus privater Hand völlig andere Methoden hat.

Im deutschen Bundesarchiv wurden bis in die jüngste Zeit Filme auf Nitrat-Trägerbasis nach deren Digitalisierung “kassiert”, das heißt vernichtet. Aktuell steht sogar eine mögliche Schließung des Kopierwerks und die ausschließliche Speicherung digitaler Kopien an. Es besteht die Gefahr, das nur Werke der sogenannten großen Regisseure digitalisiert werden. Klar muss sein: Digitalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Bewahrung, erstens. Zweitens findet eine Kanonisierung statt, die mehr als fragwürdig ist. „Man findet immer wieder neue Sachen und schreibt damit auch immer wieder Filmgeschichte neu. Das wird durch ein solches Vorgehen à la longue verunmöglicht. Und noch viel problematischer finde ich, dass das Potenzial des Archivs, dass da Dinge schlummern, die uns eine neue Perspektive auf die Zukunft geben, natürlich auch minimiert wird“, so Palm. Dies sei letztlich eine Art von Verarmung. Es stellt sich die gesellschafts- und demokratiepolitische Frage, auf die sich alles zuspitzt: Will eine Gesellschaft, dass ihr kultureller Bestand schrumpft? Oder soll im Archiv nicht noch mehr erfasst und erforscht werden?

Entgegen reaktionärer Kanonisierungstendenzen verwendet Palm für Cinema Futures viele Filmausschnitte aus der Prelinger-Sammlung, in der Lehr- und Industriefilme und vieles andere gesammelt und als Internet-Archiv öffentlich zugänglich ist. Dieses Archiv, in einer ehemaligen Kirche gelegen, ist Sinnbild des Nirwana-Körpers, der immer und überall ist: Hier gibt es keine kuratierte Auswahl. Alles kann jederzeit überall heruntergeladen werden. Wenn ein Archiv ausfällt, ist es woanders noch da. Das Archiv ist mannigfaltig.

Cinema Futures distanziert sich von einem kurzsichtigen Antagonismus: Verdammung des Digitalen vs. Verklärung des Zelluloid. Es geht Palm nicht in erster Linie um seinen Film selbst als Kunstgattung – auch wenn das eine weitere durchaus spannende Analyse in Bezug auf die Auswahl der Filmausschnitte und die aufwändige und kluge editorische Arbeit wäre –, sondern um einen facettenreichen, essayistischen Zugang, das Thema „Gegenwart und Zukunft von Film und Kino in der Ära des Digitalen“ aus verschiedensten Perspektiven zu beleuchten. Es geht auch nicht darum, die eine Lösung herauszukristallisieren, sondern darum, aus der Multiperspektive Ideen, Utopien, Wünsche, Begehren und Träume zum Thema sicht- und hörbar zu machen. Dem Zuschauer wird damit die Möglichkeit verschafft, selbst weiterzudenken. Cinema Futures ist eine filmische Inspiration.