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Viennale - Kino-Zeit. Eine Festivalvorschau

Abschiede

| Oliver Stangl |
Das herbstliche Filmfestival Viennale glänzt mit einer schönen Auswahl an Spiel- und Dokumentarfilmen. Und ehrt das Andenken Hans Hurchs.

Von einer besonderen Ausgabe der Viennale zu sprechen, ist heuer sicherlich ambivalent – zum einen gibt es wirklich schöne Filme zu entdecken, zum anderen schwebt ohne Frage der überraschende Tod des prägenden Direktors Hans Hurch, der den Großteil des Programms noch selbst gestaltete, über dem Filmfestival. So lässt die Viennale 2017 eine melancholisch grundierte Feier des Weltkinos erwarten – und eine Hommage an den im Juli Verschiedenen (dessen übrigens auch im diesjährigen Viennale-Trailer von Abel Ferrara gedacht wird): Das interimistisch von Franz Schwartz geleitete Festival erweist Hans Hurch mit einem aus 14 Filmen bestehenden Programm Reverenz. In diesem posthumen Tribute finden sich etwa Robert Bressons Au hasard Balthazar (ausgewählt von Schauspielerin Tilda Swinton) oder Wong-Kar Wais In the Mood for Love, den Kameramann Ed Lachman ausgesucht hat. Womit hätte man Hurch auch mehr Freude machen können, als mit Perlen der Filmgeschichte?

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Von Grant bis Rotten

Was das Hauptprogramm betrifft, so gestaltet sich fast schon traditionsgemäß die Dokumentarfilm-Sektion als besonders spannend. Bereits in Cannes zu sehen war Mark Kidels Becoming Gary Grant (Frankreich 2017): Der Dokumentarfilm über den Schauspieler, der als Inbegriff von Stil und Eleganz galt, interessiert sich dem Titel nach für die Genese der Legende. Tatsächlich erfährt man einiges über den Werdegang des als Archie Leach in ärmlichen Verhältnissen in Südengland geborenen Mannes, der nach Anfängen beim Varieté zu einem der größten Stars Hollywoods wurde, mit Regisseuren wie Hawks und Hitchcock arbeitete und sowohl als Charmeur, Komödiant, aber gelegentlich auch als abgründiger Charakter überzeugte. Im Zentrum steht allerdings eine Psychotherapie, der sich Grant angesichts einer existenziellen Krise Ende der fünfziger Jahre unterzog – denn bei all dem Erfolg, der ihm zuteil wurde, schien er innerlich von Dämonen gequält. Als Stütze für diese Vermutung dienen dem Film dabei Auszüge aus den unveröffentlichten Memoiren Grants, einfühlsam gelesen von Jonathan Pryce: „You spend your time becoming a big Hollywood actor. And then what? All my life, I have been searching for peace of mind“. Mithilfe von LSD, das damals noch ein legales Medikament war, wurde der Schauspieler dabei in seine schwierige Kindheit und Jugend versetzt, wo es früh zu Identitätsproblemen kam: Seine Eltern – besonders die Mutter – hätten ihm einerseits Manieren beigebracht und ihn auf Gentleman getrimmt, allerdings hätte er auch so lange feminine Kleidung tragen müssen, dass er sich manchmal für ein Mädchen hielt. Seine Mutter verschwand plötzlich, der Vater gründete in einer anderen Stadt eine neue Familie. Jahrzehnte später fand Grant heraus, dass sein Vater die Mutter in eine Irrenanstalt verfrachtet hatte. Der Film fasziniert mit privatem, von Grant angefertigtem Filmmaterial und Ausschnitten aus zahlreichen Klassikern (wobei es manchmal zu etwas offensichtlichen Illustrationen kommt, wenn etwa die Frauenskepsis Grants mit Marlene Dietrich im Affenkostüm unterlegt wird), dazu steuert Filmkritiker David Thomson interessantes Wissen über Filme und Karriere bei. Manche angerissenen Aspekte bleiben eher vage – war Grant bi, schwul oder sich selbst nicht sicher? – aber vielleicht ist das bei einer Ikone mit einer derartig überlebensgroßen Aura, wie Grant sie hatte, nicht anders möglich. Denn die Fassade, die Grant für sich errichtete, mag auch für ihn selbst undurchdringlich gewesen sein, wie ein Zitat unterstreicht, das seine gute Freundin Judy Balaban ins Feld führt: „Everybody wants to be Cary Grant. Even I want to be Cary Grant.“ Ein Dokumentarfilm, der zwar Lücken hat, aber die komplexe Persönlichkeit des Schauspielers doch erahnen lässt – und nicht zuletzt Lust auf einen Grant-Marathon und ein paar Cocktails macht.

Wenn einem Grant schon die Brücke zu Hitchcock und „mommy issues“ baut, sollte man sich Alexandre O. Philippes 78/52 nicht entgehen lassen: In Hitchcocks Psycho (1960) findet sich mit der Duschszene – 52 Einstellungen in 78 Sekunden – eine der berühmtesten Sequenzen der Filmgeschichte, die nicht zuletzt für den Horrorfilm bahnbrechend war. Philippe widmet sich dieser einzigen Szene – und das Resultat ist in keiner Sekunde langweilig. Unterstützt von stilecht in schwarzweiß gehaltenen, in Bates-Motel-Kulissen angesiedelten Interviews mit Filmemachern und Hitchcock-Fans wie Guillermo des Toro oder Peter Bogdanovich, nähert sich der Film der Duschszene aus unterschiedlichen Blickwinkeln an. Der filmhistorische und soziokulturelle Kontext, in dem Psycho entstand, wird dabei ebenso diskutiert wie die Auswirkungen des Films, der den bis dahin bestehenden Pakt zwischen Publikum und Filmemacher dahingehend unterminierte, als er die Hauptdarstellerin nach einer halben Stunden qualvoll sterben ließ. Nicht zuletzt macht es Spaß, den begeisterten Hitchcock-Fans dabei zuzusehen, wie sie vom Genie des Meisters schwärmen. Wie viel Aufwand auf allen Ebenen in diese Szene einfloss – der Dreh dauerte eine Woche – ringt einem auch heute noch Respekt ab. Wie formuliert es ein Horror-Regisseur an einer Stelle? „Heute hat man Glück, wenn man eine Mordszene einen Tag Zeit hat.“

Sozialen und politischen Fragen geht Marie Voigniers Dokumentation Tinselwood nach, die sich mit der Lage im südöstlichen Kamerun beschäftigt, das von deutscher Kolonialvergangenheit und prekärer Gegenwart geprägt ist. Die Regisseurin setzt auf lange, ruhige Einstellungen, zeigt das tägliche Leben der Menschen, die rund um die tropischen Wälder ihren beruflichen Verrichtungen nachgehen und gibt ihnen Gelegenheit, über den Zustand der Lähmung zu reflektieren, in dem sich die Region zu befinden scheint. Teils idyllische Naturaufnahmen werden dabei mit Monologen unterlegt, die von der Ausbeutung Afrikas durch beispielsweise chinesische Unternehmen handeln. Ein unaufgeregter und dadurch umso effektiverer Film über den so leidgeplagten Kontinent Afrika.

Den Finger auf die Wunden der US-Gesellschaft legen dagegen Lee Anne Schmitts Purge This Land über das Erbe des Sklaverei-Gegners John Brown und Peter Nicks’ The Force, der von der versuchten Reformierung des für Rassismus- und Sexskandale bekannten Oakland Police Department erzählt.

Natürlich dürfen bei einer Viennale auch die Musik-Dokus nicht fehlen: Romuald Karmakar, einer der prägnantesten deutschen Dokumentaristen, beschäftigt sich in Denk ich an Deutschland in der Nacht mit elektronischer Clubmusik und rückt neben Interviews mit prägenden Vertretern des Genres lange, ungeschnittene Blicke auf Technik und Nachtleben ins Bild. Das Resultat zeigt einerseits die Genese der Musik, andererseits eine Musikszene im Umbruch. Mit einer Legende des Punk beschäftigt sich dagegen Tabbert Fiillers The Public Images is Rotten, der den Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten unaufgeregt ins Bild rückt.

Von Stanton bis Waltz

Musik spielt auch bei so manchem Spielfilm eine Rolle. So kommt im brasilianischen Roadmovie Arábia reichlich Folk und Country vor, darunter Songs des großen Townes van Zandt. Der Film von Affonso Uchoa und João Dumans erzählt anhand des schillernden Lebens seines Protagonisten Cristiano – die Story wird von den Tagebuchaufzeichnungen des bei einem Unfall Verstorbenen gerahmt, die von einem Teenager gefunden werden – vom Politischen im Privaten. Die harte Arbeit der unteren Klassen und soziale Probleme wie Kriminalität werden mit langen, schön komponierten Einstellungen kontrastiert.

Das US-Kino ist beispielsweise mit John Carroll Lynchs Lucky vertreten: Darin begibt sich der kürzlich im Alter von 91 Jahren verstorbene Harry Dean Stanton in einer seiner letzten Rollen als Atheist auf eine spirituelle Reise, in deren Verlauf er unter anderem auf David Lynch (in dessen dritter Twin Peaks-Staffel Stanton ebenfalls gerade noch zu sehen war) trifft. Ein weiterer Abschied auf dieser Viennale. Ebenfalls aus den USA stammen Alex Ross Perrys um Generationenfragen kreisender Golden Exits, der Schaupielern wie Jason Schwartzman und Chloë Sevigny Gelegenheit zum Glänzen gibt und Eliza Hittmans Coming-of-Age-Film Beach Rats, der vom tragischen Coming Out eines jungen Homosexuellen handelt.

Fragen des Alters und Coming-of-Age-Geschichten behandelt auch das europäische Kino: Das französische Drama L’Amant d’un jour (Regie: Philippe Garrel) erzählt vom Konflikt einer Tochter mit ihrem Vater, der eine Geliebte in ihrem Alter hat, während der spanische Beitrag Estiu 1993 von Carla Simón die Anpassungsschwierigkeiten eines sechsjährigen Mädchens schildert, das nach dem Tod der Mutter zu Verwandten aufs Land geschickt wird. Von den Schwierigkeiten junger Menschen handelt auch die französisch-portugiesische Ko-Produktion Milla, die Regisseurin Valeria Massadin inszeniert hat: Im Zentrum steht das hartn Leben einer 17-jährigen, die am Rande der Gesellschaft lebt und erst durch ihren kleinen Sohn so etwas wie Stabilität kennenlernt.

Das chinesische Kino kommt mit Feng Xiaogangs schwarzer Komödie I Am Not Madame Bovary, in der sich eine Frau mit dem Justizwesen anlegt, zu seinem Recht; aus Südkorea stammt Sang-soo Hongs bereits im Wettbewerb von Cannes gezeigte Schwarzweiß-Komödie Geu-hu, die sich dialogintensiv mit den Auswirkungen beschäftigt, die drei Affären auf das Leben eines etwas konfusen Verlegers haben. Beiden Filmen gelingt dabei die Balance zwischen komischen und ernsthaften Aspekten.

Ebenfalls Abschied nehmen kann man vom bereits im Vorjahr verstorbenen großen iranischen Filmemacher Abbas Kiarostami: 24 Frames reiht eineinhalbminütige Segmente zu einer wunderschönen, traumartigen Meditation über Film, Kunst und Natur aneinander. Den Ausgangspunkt bilden dabei Fotografien Kiarostamis, die dieser mit der Unterstützung von Animationskünstlern zum Leben erweckte. Das Ergebnis ist bezaubernd und hallt noch lange im Betrachter nach. Sicherlich einer der schönsten Filme des Festivals.

Exkurs zu den Spezialprogrammen: Die diesjährige, traditionsgemäß in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum entstandene Retrospektive nennt sich „Utopie und Korrektur“ und beschäftigt sich mit dem sowjetischen Kino von 1926–1940 und 1956–1977. Anhand von teilweise raren Filmen von u. a. Dziga Vertov, Sergei Eisenstein oder Michail Kalik kann man so jene Phasen des Sowjetkinos vergleichen, die einerseits von Aufbruch und Tauwetter, andererseits von Repressalien zeugen. Das Special des Filmarchiv Austria befasst sich mit der kurzen, aber steilen Karriere des österreichischen Stummfilmstars Carmen Cartellieri. Die Werkschau „Duell im Osten“ist der deutschen Regisseurin Valeska Grisebach gewidmet und das Programm „Napoli! Napoli!“ schließlich widmet sich dem Neuen Neapolitanischen Kino.

Zu guter letzt noch zum heimischen Kino: An österreichischen Beiträgen im Spielfilmprogramm findet sich Barbara Alberts Licht (Drehbuch: Kathrin Resetarits), der sich – wie übrigens schon Roger Spottiswoodes Biopic Mesmer (1994) – mit dem historischen Fall der jungen Pianistin Maria Theresia Paradies beschäftigt. Im Wien des Jahres 1777 leidet das Klavierwunderkind unter seiner Blindheit, die vom umstrittenen Arzt Franz Anton Mesmer zunächst geheilt wird. Doch das neue, damit einhergehende Freiheitsgefühl wird durch Einbußen der musikalischen Virtuosität bedroht. Ein weiterer Beitrag stammt von Hans Hurchs langjähriger Lebensgefährtin Astrid Johanna Ofner: Abschied von den Eltern basiert auf der Erzählung von Peter Weiss aus dem Jahr 1960 und war bereits in Locarno zu sehen.

Österreichbezug gibt es schließlich auch beim diesjährigen Stargast: Es handelt sich um den zweifachen Oscarpreisträger Christoph Waltz.