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Viennale - Kino-Zeit. Eine Festivalvorschau

Der Schnapsbrenner

| Roman Scheiber |
Siegfried A. Fruhauf, Stammgast bei der Viennale, zählt zu den versiertesten Experimentalfilmkünstlern seiner Generation. Sein neuer Film „Phantom Ride Phantom“ ist eine Geisterbahnfahrt in rasendem Stillstand. Ein Werkstattbesuch.

Was könnten getrocknetes Seegras aus Sardinien, Lorbeerblätter kaum nachzuvollziehender Provenienz oder rostige Nägel aus einem stillgelegten Schienenstrang im französischen Ort Saint-Cirq-Lapopie im Lot-Tal miteinander zu tun haben? Es sind Gegenstände, die Siegfried A. Fruhauf von diversen Reisen, Arbeits- oder Urlaubsaufenthalten mitnimmt. Sie stammen von Orten, an denen der Filmemacher eigene Fotos gemacht hat, und dienen ihm – in jüngerer Zeit vermehrt – entweder als haptische Accessoires seiner Arbeit oder gar als deren Grundlage. Dass zum Beispiel das Seegras mit ein wenig Phantasie aussieht wie verknäueltes Super-8-Filmmaterial, welches den Aggregatzustand einer imaginierten Postapokalypse angenommen hat, ist kein Zufall – sonst hätte Fruhauf es nicht eingesammelt.

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In Fruhaufs Arbeitsraum im fünften Wiener Bezirk, wo diese Dinge gelagert sind, fällt auf den ersten Blick wenig auf außer der sonnenblumengelbe Anstrich. Ein paar ausgefallene Fotokameras liegen herum, eine davon ist eine Halbformatkamera, mit der man statt eines einzelnen 35-mm-Negativs zwei halbe hochformatige belichten kann. Es gibt einen Rechner, ein Leuchtpult zur Ansicht von Film- und Foto-Negativen und eine erkleckliche Anzahl von verschiedenfarbigen Mappen und beschrifteten Ordnern. „Fotografische Hilfskonstruktionen“ steht auf einigen dieser Ordner, darin finden sich Papierabzüge diverser Fotos in Klarsichthüllen, jederzeit umsortierbar. Es ist „Material zur Beschäftigung mit der Welt, zur Konstruktion des persönlichen Horizonts“, wie Fruhauf selbst es nennt, und in seiner persönlichen Art, dieses Material volatil zu sortieren, steckt schon der Zugang des Strukturalisten: der permanent erneuerbare Versuch, die uns umgebende (Bilder-)Welt in eine zumindest subjektive Ordnung zu bringen.

Zwischenästhetik

Siegfried A. Fruhauf wurde 1976 im oberösterreichischen Grieskirchen geboren und wuchs in dem kleinen Ort Heiligenberg auf. Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann studierte er experimentelle visuelle Gestaltung in Linz und knüpfte dort bald an das österreichische Avantgardefilmschaffen an. Fruhauf, der mit der österreichischen Radioautorin Anna Katharina Laggner einen Sohn hat, sieht sich selbst in einer Art „Ästhetik des Dazwischen“. Mit dem Analogen ist er aufgewachsen, das Digitale hat er in der Ausbildung dazugelernt, und ständiges Umkopieren sei ohnehin ein Wesensmerkmal des Mediums Film. Mittlerweile hat Fruhauf sich ein Renommée als Universalist der Formensprachen seiner Sparte erarbeitet; im Unterschied zu verdienstvollen älteren Kollegen wie etwa Martin Arnold, der sich zunehmend obsessiver seinem Faible für Animationsfilm-Destruktionen hingibt, versucht er sich als Entdecker neuer Strukturen und experimentiert viel mit dem Hin und Her von analog und digital, wobei die Methode der permanenten Überlagerung essenziell ist. „Manchmal komme ich mir vor wie der Maler Jackson Pollock, der immer noch was Neues auf seine schon bemalte Leinwand hinfetzt“, sagt Fruhauf.

In seinen Arbeiten finden Materialschlachten, Spiegelungseffekte und Wahrnehmungstäuschungen statt, wüten Lärmtonspuren und Bildstörsignale, schrieb Stefan Grissemann schon zur Index-DVD „Exposed“, die Fruhaufs Filme bis 2010 abdeckt, sein Kino gebe sich „radikal undogmatisch, changiert zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, zwischen Punk und Klassizismus“. Nur ein paar kürzere Beispiele, um die Vielfalt der Wirkungen dieser Arbeiten anschaulich zu machen: Zu La Sortie (1998), Fruhaufs Studie einer berühmten Lumière-Urszene, meinte Found-Footage-Genie Peter Tscherkassky: „Sechs Minuten braucht Fruhauf, um das aktuelle Schicksal der Industrie zu Film gerinnen zu lassen (…) das Todessymbol als Ballet mécanique.“ In Höhenrausch (1999) stellt Fruhauf in nur vier Minuten die gesamte Alpenrepubliks-Postkartenidylle auf den Kopf, in Realtime (2002) und in Night Sweat (2008) schießt er das Licht und die Nacht des Universums höchst kunstvoll durch Sonne und Mond. Der zweiminütige Horrorthriller Still Dissolution (2013) wiederum, eine kongenial unheimlich vertonte Eiterbeule von einem Film, lässt jede Seuchenausbreitungs-Konfektionsware aus Hollywood mindestens 88 Minuten zu lang erscheinen. Und Phantom Ride, den Fruhauf für das Crossing-Europe-Filmfestival 2004 beisteuerte, ist das reinste denkmögliche Destillat des Filmformats „Trailer“. Dabei sind all diese Arbeiten nicht einmal Fruhaufs bekannteste und spektakulärste.

Phantomfahrt

Wie die meisten Experimentalfilmemachenden sieht Fruhauf sich in seiner Arbeit natürlich mit Vorurteilen konfrontiert. Denn viele Menschen, darunter auch durchaus cinephile, missverstehen die leidenschaftliche Beschäftigung von Avantgardefilm-Künstlern mit ihrem Material als selbstzweckhaft akademische Bastelei, die im schlimmsten Fall die eigene Netzhaut bis zur Schmerzgrenze belastet. Nun: Belastung ja, Selbstzweck nein. Oft geht es in diesen Filmen gerade darum, verinnerlichte Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen oder bis zu einem präzise bemessenen Grad auch in der eigenen Wahrnehmung überfordert zu werden. „Mitunter ist das Ziel auch, ins Unterbewusste der Zuseherin oder des Zusehers durchzudringen, wo Logik keine Rolle mehr spielt“, sagt Fruhauf. Wenn er zum Beispiel einen hypnotischen Film wie Fuddy Duddy (2016) macht, dann will er uns mit dessen exakt explodierenden Rasterstrukturen schlicht an die Grenzen unserer perzeptuellen Potenz führen. Der Illusionsraumkünstler Fruhauf ist dann gewissermaßen als Fallensteller tätig: „Man wird hier vom Gittergewitter auf der Leinwand in eine Art Käfig gelockt. Je mehr man versucht, sich aus dieser Dynamik zu befreien, desto mehr verstrickt man sich darin“, sagt er über Fuddy Duddy. Ähnliches gilt auch für seine neue, nun bei der Viennale vorgestellte Arbeit Phantom Ride Phantom: Von den ersten Kamerafahrten der Filmgeschichte ausgehend – immerhin hat die Eisenbahn sozusagen als Wahrnehmungsdispositiv das Kino vorweggenommen – ließ Fruhauf sich für diesen Film von Avantgarde-Veteran Ken Jacobs‘ Georgetown Loop inspirieren, welcher wiederum auf einem Phantom Ride in einem Bahn-Werbefilm von 1903 basiert. Fruhauf entdeckt in diesen Kamerabewegungen nun wieder etwas ursprünglich Sensationelles – seine Geisterbahnfahrt in rasendem Stillstand hat den Zweck, „einen Spalt zu unterbewussten Landschaften aufzutun, durch die visuelle Erfahrung etwas zu öffnen, was über den reinen Sinneseindruck hinausgeht“. Wie schon in Vintage Print (2015) ist die Keimzelle der Arbeit ein einzelnes fotografisches Bild, und wie in jenem versucht Fruhauf auch in diesem Film seinem Traum vom Kino wieder ein Stück näher zu kommen. Lag der Ursprung des Bildes in Vintage Print in einer Übergangsphase vom starren zum bewegten Bild und bezog sich auf das vorfilmische Massenmedium der Transparentmalerei (die schon vom Bewegtbild träumte), so ist es in Phantom Ride Phantom ein vom Künstler selbst aufgenommenes, zentralperspektivisches Foto eines stillgelegten Bahngleises. Und dieses statische Motiv beschwört nun eine vormals in einem solchen Szenario angelegte Dynamik und ist bestrebt, aus der Abstraktion einer Kamerafahrt einen Film mit emotionalem Potenzial zu machen. Tunnelblick-Experte Fruhauf schickt uns also auf einen Trip, der die Landschaft ringsum zerbröseln lässt, ein tradiertes Raum-Zeit-Gefüge auflöst und nebenbei Rorschach alt aussehen lässt. Oder, in seinen eigenen Worten: „Der Film ist eine Reise, die nicht weg führt, sondern das Publikum bei sich selbst als Wahrnehmende ankommen lässt. Damit versteht sich Phantom Ride Phantom im besten Sinn als Reise, bei der man über das Fremde immer auch etwas über sich selbst erfahren kann.“

Destillatskunst

Während das Publikum also auf seine jeweils innere Vorstellungswelt zurückgeworfen werden soll, ist die lustvolle Beschäftigung mit dem Material für den probierenden Filmemacher dazu angetan, Film und Welt persönlich und produktiv miteinander in Beziehung, wenn nicht gar in eins zu setzen. Fruhauf über die Motivation für seine Arbeit: „Mir scheint das manchmal wie eine Suche nach Strukturen in einer chaotisch anmutenden Welt. Ein Werkzeug, um den Wirrnissen des Lebens entgegenzutreten und ihnen Einhalt zu gebieten. Das Medium Film erfüllt das Bedürfnis nach Orientierung. Es ist also nicht nur eine persönliche Vorliebe für eine bestimmte Arbeitsweise.“

Strukturelles Interesse und persönlicher Erfahrungshintergrund, das Gegeneinanderstellen von menschgemachten Artefakten und organischem Material, die Reibung von Standbild und Bewegtbild verbinden sich beim „Zwischenästheten“ Fruhauf zu einer genuinen Gestaltungsform, die das Kino in jedem einzelnen Film neu zu erfinden sucht.

Fruhaufs Vater hat dermaleinst Schnaps gebrannt, als Kind durfte Siegfried bei der Kühlung des Destillats helfen. Statt den elterlichen Bauernhof zu übernehmen, ist Fruhauf nun selbst gewissermaßen ein Schnapsbrenner geworden: Seine Arbeit ist der Versuch, die Essenz der Welt in Filme zu destillieren. Man darf gespannt sein, welch unfassbare Gestalt das in seinem Arbeitsraum lagernde Seegras aus Sardinien irgendwann annehmen wird. Es wird, soviel darf man vermuten, ein Film sein, der die Welt – womöglich postapokalyptisch – zerlegt und persönlich neu strukturiert.